Die Kriege der Zukunft [SEO1 EP21]

Jacob Birken
28 min readJun 23, 2021

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Was bisher geschah: Quer durch das Sternsystem hat die Gandiva Zwei die Morgenröte unter Beschuss genommen und auf die dunkle Seite Dunhuang Siebzehns gescheucht. Auf dem Planeten selbst scheint sich der Gegenangriff der Garde auf eine der durch die Morgenröte besetzten Städte anzubahnen, und Elvis Eric Late ahnt bereits, dass er auch diesmal wieder zumindest ein unbeteiligter Zuschauer des Ganzen sein wird.

„Im Nebel“, Teil 1

Wie an jedem der letzten Abende hatte Lorna Whitebird kurz vor Anbruch der Dunkelheit mit ihrem Fernglas zu der kleinen Laube hinten auf dem Hügel hinauf geschaut; es war so sehr zur Gewohnheit geworden, dass sie nur noch die dazugehörigen Bewegungen machte — Linsen vor die Augen, ein paar Sekunden später wieder absetzen — und jetzt wegen einer Ahnung das Fernglas doch ein weiteres Mal ansetzte, um tatsächlich das Tuch zu erkennen, das über dem Geländer der Laube hing.

„Okaaay“, sagte Whitebird laut und streckte sich. Zu dieser Zeit wäre sie für eine oder zwei Stunden auf die Straßen gegangen und hätte Leute gesucht, mit denen sie plaudern oder vielleicht Karten spielen konnte; dann hätte sie sich auf den Balkon gesetzt und die Lichtsignale der Wachposten von der Morgenröte beobachtet. Der Code hinter den Signalen war nicht besonders anspruchsvoll. Zuerst hatte sie ihn noch in ihrem Notizheft aufzeichnen und danach mithilfe einer kleinen Tabelle entschlüsseln müssen, aber mittlerweile wusste sie nicht einmal mehr, wo der Zettel mit der Tabelle versteckt war. Ein Tuch über dem Geländer einer Laube war natürlich auch kein anspruchsvoller Code, und die Botschaft dahinter war ebenso simpel: Heute Nacht ist es so weit.

Whitebird warf das Fernglas auf ihr Bett und ging zu dem Balkon auf der anderen Seite ihrer kleinen Wohnung. Sie hatte die Wohnung bereits am ersten Tag ihrer Mission finden können, ein Zimmer, Küche und Bad am Rand der Stadt, mit einem großen Fenster zum Hügel hinaus und dem Balkon vor der Küche. Ziemlich verschwitzt und mit ihrem großen Rucksack auf dem Rücken hatte sie einfach ein paar Menschen gefragt, die lethargisch auf einer Terrasse ihren Tee tranken; niemand wollte einen genaueren Grund wissen, was sie hier suchte, aber auch Whitebird erfuhr nie, warum diese kleine Wohnung, von der irgendjemand von irgendjemandem anderen gehört hatte, nun leer stand.

An ihrem ersten Abend hier hatte sie eines der staubigen Gläser aus der Küche erst mit Wasser aus ihrer Trinkflasche ausgewaschen und danach mit Schnaps aus ihrem Flachmann gefüllt. Ich lebe jetzt in der Stadt, hatte sie gedacht, als sie mit dem Schnaps auf dem Balkon stand. Whitebird hatte ihr Leben zuerst mit ihrer Familie in der Steppe verbracht und dann in unterschiedlichen Kasernen der Garde; in Städten war sie bestenfalls zu Besuch gewesen, und strenggenommen war auch dies eine Mission und kein Lebensabschnitt. Ich lebe jetzt in der Stadt, wiederholte sie dennoch gerne, wenn sie sich beispielsweise morgens vor dem Spiegel im Bad etwas Wasser ins Gesicht kippte, das sie oder jemand aus der Nachbarschaft gestern vom Fluss geholt hatte (oder zumindest gestern abgekocht, wenn es schon länger stand und sowieso ein Feuer brannte). Ich lebe jetzt in der Stadt, wiederholte Whitebird also und dachte sich dann meistens noch einen Brief oder Anruf aus, in dem sie jemandem aus ihrer Familie vom aufregenden urbanen Leben erzählte; wobei ihre Familie nicht ihr Wasser über einem Holzfeuer abkochen musste und — vielleicht wichtiger — tatsächlich in der Lage war, Briefe oder Anrufe zu erhalten, obwohl sie in der Steppe und nicht in der Stadt lebte. Auch Whitebird holte alle paar Nächte auf der anderen Seite des Waldes ihr Kraftrad aus dem Versteck und machte sich auf den Weg in die Festung Acala, um dort ihre Aufzeichnungen abzuliefern, neue Befehle zu erhalten und zumindest ein paar Stunden in der elektrifizierten Gegenwart zu leben.

Sie war nicht ganz überrascht, an diesem Abend das Tuch in der Gartenlaube hängen zu sehen. Vor einigen Stunden schien auch die Leute der Morgenröte eine Unruhe überkommen zu haben; etwas musste passiert sein, das die Lage für alle verändert hatte. Sie setzte sich ein weiteres und vielleicht letztes Mal auf den Balkon, blätterte durch ihre Notizen und schaute den Menschen zu, wie sie sich mit ihren Kartenspielen oder dem Abendessen auf den Terrassen versammelten. Eine Weile überlegte Whitebird, ob sie unter normalen Umständen tatsächlich gerne in einer Stadt leben würde, aber letzten Endes wusste sie einfach zu wenig darüber; und was auch immer für ein Leben das hier gerade war, es hatte jedenfalls weniger mit den Versprechen der Stadt zu tun und mehr mit den Geschichten, in denen Menschen noch in Höhlen oder Hütten hausten und ihr Wasser vom Bach holten, nicht, weil es erfrischend und ein hübscher Ausflug war, sondern weil man davon zumindest nicht gleich krank wurde.

Überleben unter widrigen Umständen war freilich Whitebirds Metier, selbst wenn die Ausbildung in der Gebirgsbrigade eher darauf ausgerichtet war, auf irgendeinem unwirtlichen Planeten essbare Flechten von den Felsen zu kratzen, als in einer verfallenden Stadt Teewasser abzukochen. Aber wer weiß, dachte Whitebird, deren Phantasie sich mittlerweile verselbständigt hatte, falls hier noch mehr schiefgehen sollte und das Sternsystem tatsächlich vom Rest der Res Publica abgeschnitten werden würde, würde ein paar Jahrzehnte oder sogar später eine Flotte an einem Planeten ankommen, auf dem bereits Generationen in einer neuen Art der Wildnis lebten. Wie können wir unseren Kindern erklären, was ein Raumschiff ist, dachte Whitebird, damit sie dann nicht erschrecken?

🌠

Elvis hatte den ganzen Abend lang das Gefühl, dass er sich irgendwie anders hinsetzen sollte, aber das hatte weder mit seiner Haltung noch dem Sessel im Cassius zu tun, sondern mit der Uniform, die wohl aus Prinzip nicht passte, so penibel die Fertigungsanlage seine Körpermaße abgenommen haben mochte. „Aber wozu“, hatte Elvis gefragt, woraufhin ihm der Quartiermeister der Bergfestung ausführlich die vielen Todesarten geschildert hatte, vor denen ihn sogar dieser einfache Kampfanzug schützen würde.

Die letzten Stunden über hatte er geholfen, mit dem Cassius Kommandos der Garde in der Umgebung zu verteilen: Schweigsame Leute, sich an ihre für den kleinen Gleiter viel zu langen Präzisionsgewehre klammernd; andere, deren Smalltalk kaum zu bremsen war, ihre Drohnen in Koffern hinter den Sitzen verstaut. Während dieser Flüge hatte Elvis sich an die Formel gehalten, dass sie von den Städten aus nicht gesehen werden würden, solange sie die Städte selbst nicht sahen; diese Formel hatte wohl mehr mit Magie zu tun als mit Militärtaktik, aber auch dieses Mal schien ihn niemand zu verfolgen. Der Cassius schwenkte in die kleine Schneise im Berghang ein, die ins Innere der Caldera und schließlich zum Hangar der Festung Acala führen würde. Wie vieles an dieser Anlage war die kleine Schneise trügerisch; vermutlich ließe sich mit Leichtigkeit ein Konvoi aus Transportern zwischen den Bäumen und Felsen hindurch manövrieren, doch das alles war so geschickt gepflanzt und arrangiert, dass Elvis wie bei jedem Anflug zuerst darüber erstaunt war, dass sich hier tatsächlich eine Passage öffnete, und danach darüber, dass er schon wieder nicht einfach das Weite gesucht hatte, als es noch eine Gelegenheit dazu gab.

Abgesehen von ein paar Koffern, die jemand neben eine Wand gestapelt hatte, war der Hangar leer. Elvis nahm den Aufzug in die Tiefen der Bergfestung hinab. In den Fluren waren nur noch wenige Menschen, die es alle entweder sehr oder gar nicht eilig hatten. Elvis wusch sich auf der Toilette das Gesicht und ging in den Konferenzraum. Im Konferenzraum herrschte Park Thaeer; dort vergab er Einsatzbefehle an die Kommandos und teilte Elvis seine Fluggäste zu, falls er sie nicht ohnehin gleich in den Hangar schickte. Vor allem war Park aber derjenige, der über die gesamte Situation den Überblick behalten musste. Sein Überblick manifestierte sich auf einer großen Projektion, auf der der Magister hunderte kleiner Täfelchen mit irgendwelchen Kürzeln und Symbolen immer wieder neu sortierte. Elvis hatte in den Pausen zwischen seinen Einsätzen vergeblich versucht, in den Täfelchen einen Zusammenhang zu alldem zu erkennen, was sich zwischen der Bergfestung und der Stadt zusammenbraute; aber vielleicht bildete die Projektion gar nicht die Wirklichkeit ab, sondern vielmehr irgendwelche von Parks Gedankenprozessen, für die in seinem Hirn gerade kein Platz mehr war.

Irgendwann hatten sich Yato und Zenon Appiah hinter Park gestellt und, mal auf ein einzelnes Täfelchen, mal auf eine ganze Gruppe deutend, eine Weile untereinander getuschelt; doch dann hatte Yato mit den Schultern gezuckt und Appiah amüsiert den Kopf geschüttelt, bevor er den Konferenzsaal verließ und ein paar Minuten später mit einer Teekanne und einem Stapel Tassen wiederkam.

„Aber es sieht interessant aus, findest du nicht“, hatte er gesagt, während er Elvis eine Tasse einschenkte. „Habt Ihr Magister auf eurem Planeten?“

„Die haben den Exodus nicht mitgemacht, glaube ich“, hatte Elvis gesagt.

„Ich verstehe“, hatte Appiah gesagt und an seinem Tee genippt. „Vielleicht war ihnen das eine zu einfache Lösung, so ein Exodus.“

Jetzt war der Konferenzsaal beinahe leer und die wenigen verbliebenen Menschen saßen träge auf ihren Sitzen, als wären sie auf einer kurzfristig abgesagten Veranstaltung aufgekreuzt und wüssten noch nicht, wo hin mit sich. Park arbeitete sich weiterhin an seinen Täfelchen ab. „In fünf Minuten solltet ihr los“, rief er Elvis über die Schulter zu, als dieser am anderen Ende des Konferenzsaals gerade erst durch die Tür kam.

„Wir“, sagte Elvis, „wohin?“

„Die zwei kommen mit dir mit“, rief Park und wedelte mit einem Arm zu den Stuhlreihen, ohne sich von den Täfelchen abzuwenden. „Die Fracht steht unten im Hangar, sie wissen Bescheid.“ Zwei der Soldaten drehten sich zu Elvis um und standen schließlich auf.

„Letzte Tour“, sagte Park, vielleicht zu Elvis, vielleicht zu sich selbst und seinen Täfelchen.

Elvis ging den Soldaten entgegen. „Wo bringe ich euch hin?“, fragte er.

„Wir bringen Waffen zu den Gefangenen. Magister Thaeer sagt, sie kennen den Weg am besten, durch die Tunnel.“

Oh nein, dachte Elvis. Das meinte er. Das meinte er; letzte Tour.

„In Ordnung“, sagte Elvis. Was macht es für einen Unterschied, ob ich in dieser Festung oder in der Stadt bin. Auf einem Tisch neben dem Podium fand er seine alte Tasse und kippte die restlichen Tropfen kalten Tees hinein. Park trat ein paar Schritte zurück, um sein Netzwerk zu begutachten; dann schob er hastig ein paar Täfelchen an neue Positionen.

„Nein“, sagte er, „das war falsch, ihr müsst jetzt los, nicht in fünf Minuten“, und wirkte trotz des üblichen Lächelns plötzlich ungeduldig, auch wenn Elvis nicht wusste, ob die Ungeduld ihnen galt oder der ganzen Situation.

🌠🌠

Auf den Terrassen leuchteten die ersten Kerzen. Es waren weniger als am Abend zuvor, wohl aus dem einfachen Grund, weil es in der Stadt immer weniger von ihnen gab. Whitebird hatte zwar bereits an mehreren Tischen im Schein von Kerzen gesessen, die offensichtlich eher mit Mühe selbst hergestellt worden waren, aber noch hatte sich keine Industrie daraus entwickelt. Sie nahm auch nicht an, dass das noch passieren würde: Die Menschen gingen mittlerweile einfach schlafen, wenn es dunkel wurde, und sogar als Whitebird sich angewöhnte, von der Bergfestung ein paar Kerzen mehr für die Nachbarschaft mitzubringen, schienen alle immer früher müde zu werden. Tief in der Nacht leuchtete nur in den Anlagen der Besatzungsarmee zuverlässig Licht, und Whitebird überlegte lieber zweimal, ob sie auf ihrem Balkon eine Kerze anzündete — es war auffällig geworden, sogar verdächtig.

An diesem Abend hatte sie sehr vieles zweimal überlegt und machte sich keine weiteren Gedanken, als die kleine Flamme von ihrem Feuerzeug auf den Docht übersprang. „Okay“, sagte sie zu der Kerze und trug sie in das Schlafzimmer, um dort ihre Ausrüstung zusammenzusuchen: Den Revolver und die Schutzweste, die sie in den letzten Tagen nie mitgenommen hatte, da damit in der Stadt aufgegriffen zu werden die größere Gefahr war; die archaische kleine Taschenlampe, die gerade eine einzige der vielen Funktionen beherrschte, die jedes Datenarmband mitbrachte (Licht an, Licht aus), aber dank dieser Einfachheit den Puls überleben könnte. Als sie leise die Wohnungstür hinter sich zuzog, spürte Whitebird einen Anflug von Wehmut. Vielleicht habe ich doch in der Stadt gelebt, dachte sie.

Über das nächste Treppenhaus stieg sie auf eine Dachterrasse, wo sie einige Minuten in einem kleinen Wald aus Topfpalmen kauerte. Die Wachposten der Morgenröte hatten oben auf den Blocks die üblichen Positionen für diese Uhrzeit eingenommen. Vielleicht war dies eine Nacht wie jede andere, dachte Whitebird; vielleicht war doch nichts passiert, oder die Lage hatte sich verändert. Sie wagte sich hinter den Palmen hervor und kletterte auf das nächsthöhere Dach. Whitebird bahnte sich in der Dunkelheit zwischen Dutzenden von Plastikstühlen einen Weg zu der großen Holzkonstruktion, die hier als Tresen gedient haben musste, als das noch eine Bar oder etwas Ähnliches gewesen war. In einer Ecke unter der Tischplatte fand sie einen Beutel mit Ausrüstung, den sie hier selbst verstaut hatte. Für einen Moment lehnte sie am Tresen und zeichnete mit den Fingern die glatten Wachsflecken auf der Oberfläche nach; auf dem dunklen Holz schien sie im Licht der Monde die Kreise zu erkennen, die irgendwelche hier abgestellten Getränke hinterlassen hatten. Eine Zufriedenheit überkam Whitebird, die sie zuletzt aus ihrer Kindheit kannte: Eine warme Sommernacht, in der sie bei einem einsamen Ausflug in die Steppe einfach den Sonnenaufgang abwartete, anstatt vor Anbruch der Dunkelheit nach Hause zurückzulaufen. Ja, was auch immer, dachte sie und packte die Ausrüstung aus dem Beutel in ihren Rucksack um. Daran kann ich mich ein andermal erinnern.

Der Hügel am Stadtrand war jetzt nur eine einzige schwarze Masse, darin unsichtbar irgendwo die Laube und das Tuch. Whitebird kletterte über die Dächer, bis sie am Ende des Blocks angekommen war; es müsste noch eine gute Weile dauern, bis einer der Posten hier aufkreuzen würde. Sie setzte sich hinter der kleinen Mauer am Dachrand auf den Boden und atmete tief durch. Weitere Leute der Brigade warteten anderen Orten; so war der Plan. Und falls ich die einzige bin, die das Signal gesehen hat?, dachte sie. Dann werden wir schauen, was passiert. Whitebird wartete ein paar Minuten, bis sie aus ihrer Jackentasche die kleine Lampe holte. Und was haltet ihr davon, dachte sie, bevor sie eine eigene Nachricht in die Stadt zu blinken begann.

🌠🌠🌠

Elvis flog gerne nachts, und er flog auch gerne nachts auf Städte zu: Es hatte etwas Beruhigendes, wenn erst einzelne Lichter am Boden die Besiedlung ankündigten, danach Reihen von Laternen Wege und andere Infrastruktur in die Landschaft einzuzeichnen begannen und schließlich die Stadt selbst als Ballung aus Licht aufschien, bis erst aus der Nähe alles wieder in bekannte Größenverhältnisse gesetzt werden konnte. Dunhuang Siebzehn war ein wenig anders; außerhalb der Städte war fast nichts besiedelt, und die Städte selbst aus der Ferne eher sonderbar regelmäßige Hügellandschaften als etwas Gebautes. Auch das mochte Elvis, aber als sich vor ihnen die Umrisse der Stadt gegen den Nachthimmel abhoben, erschienen sie ihm noch unwirklicher als je zuvor. Die wenigen Lichter, die zu dieser Uhrzeit angeblieben waren — die Feuer oder Kerzen einiger Schlafloser, die Lichtsignale der goldenen Armee auf den Dächern und die fluoreszierenden Röhren in ihren Lagern — wirkten verwaschen und deplatziert, und bald sah Elvis, dass die ganze Stadt tatsächlich in einer Art Dunst versunken schien; aus den Straßen zwischen den Blöcken quoll grauer Rauch in die Felder, und vereinzelte Schwaden wehten über den Dächern, durchschnitten von den rautenförmigen Flugzeugen der Morgenröte, die über der Stadt kreisten wie desorientierte Fledermäuse.

„Sie haben begonnen“, sagte einer der zwei Soldaten hinter Elvis erleichtert.

Im Gegensatz zu Park vor seinen Täfelchen hatten Elvis und die Beiden auf den Rücksitzen keinen Überblick über die Situation. Mit den anderen Kommandos in der Stadt oder mit der Bergfestung zu kommunizieren würde sie schnell zum Ziel der Pulswaffe machen, und so mussten alle darauf vertrauen, dass niemand von den anderen zur falschen Zeit am falschen Ort war. Bald würden sie selbst in der Stadt sein, und die Waffen für die Gefangenen wären gewissermaßen ein Puzzlestück in dem Plan, den sich Park und die anderen auf der Bergfestung ausgedacht hatten. Elvis steuerte den Cassius näher an den Boden heran. Unter ihnen verlief jetzt die Straße, die sie unter die Stadt führen würde, ein matter schwarzer Streifen zwischen den Getreidefeldern. Die beiden Soldaten rückten nervös auf ihren Sitzen herum, während vor ihnen die Stadt zunehmend gespenstisch aus dem Nebel ragte. Die Straße schien bereits vor dem Nebel im Nichts zu verschwinden, doch bald zeichnete die Geländeerkennung des Gleiters ein bernsteinfarbenes Trapez vor die Windschutzscheibe: die Einfahrt zu dem Tunnel, durch den Elvis und Park damals aus der Stadt geflohen waren. Kurz bevor der Cassius selbst in die Dunkelheit hinabglitt, sah Elvis aus dem Augenwinkel zwei Formen am Boden liegen; Wachposten von der Morgenröte, vielleicht durch die Präzisionsgewehre der Kommandos getötet, die ein paar Stunden zuvor hinten im Gleiter gesessen hatten. Elvis wurde etwas übel. Er hatte wenig Sympathien für die goldene Armee, aber es hätte überhaupt nie eine Frage von Sympathie werden dürfen. Bin ich jetzt ein Waffenschmuggler, dachte er, während der Cassius in den Tunnel flog und statt der nächtlichen Landschaft nur noch die simplen Linien der Geländeerkennung im Cockpit zu sehen waren.

🌠🌠🌠🌠

Ein dichter Nebel hatte die Blöcke bis zum ersten Obergeschoss hinauf verschluckt. Hier und da umspülte er einen Baum oder das Dach eines Pavillons, während an anderen Stellen grauer Qualm in die Höhe quoll und sich über der Stadt verteilte. Überall flackerten jetzt die Lichtsignale auf den Dächern. Durch den Dunst konnte selbst Whitebird nicht länger auseinanderhalten, ob das nun die Signale der Leute der Morgenröte waren oder etwas, das die Garde fingierte, aber damit war der Plan genau aufgegangen.

Die meisten Menschen hatten sich in ihre Wohnungen zurückgezogen. Manche hatten nur kurz über die Geländer ihrer Balkone geschaut, bevor sie rasch wieder ein paar Schritte Abstand nahmen — zu Recht, fand Whitebird, denn der Nebel am Boden verlieh der Stadt eine schwindelerregende Tiefe, in der die Blöcke vielleicht nicht viel mehr als nur Bergspitzen über unermesslichen Schluchten waren. Ein süßlicher Geruch lag in der Luft: Die Chemikalien der Rauchgranaten, die die Kommandos der Garde überall in der Stadt gezündet hatten.

Dafür habe ich mich also vorbereitet, dachte Whitebird, die ganzen Jahre. Die Gebirgsbrigade war immer etwas obskur gewesen, auf eine Weise spezialisiert, die kaum zum Einsatz kam. Hier war sie aber: eine unwegsame, irgendwie vertikale Landschaft, voller verborgener Gefahren und überraschender Wetterphänomene. Jetzt, da sie die Stadt in etwas verwandelt hatten, worin sie sich sogar besser zurechtfanden als die Leute der Morgenröte, hatte Whitebird allerdings nicht mehr viel zu tun. Sie zog den letzten der kleinen Scheinwerfer auf, die in den Werkstätten Acalas für diesen Einsatz entwickelt worden waren, und stellte ihn in der Ecke einer verlassenen Dachterrasse auf, bevor sie das nächste Treppenhaus suchte. Über der Stadt kreisten die Flugzeuge, die sie bei der Flucht in dem roten Gleiter verfolgt hatten. Vielleicht hatten sie mittlerweile die Taktik der Kommandos durchschaut und suchten die Dächer nach Leuten ab, die nicht zu ihrer Armee gehörten. Macht nichts, dachte Whitebird, als sie die Treppen herunterlief und einen Korridor zur anderen Seite des Blocks suchte, das Chaos ist jetzt da. Nun blieb nichts weiter, als nach den anderen Kommandos zu suchen. Sie hatten einen Treffpunkt vereinbart, eine Wohnung mehrere Blöcke von hier.

Der Korridor endete in einem offenen Treppenhaus. Noch war sie einige Stockwerke über dem Boden, doch bereits der nächste Treppenabsatz verschwand in Nacht oder Nebel. Zu ihrer Linken schloss ein Balkon an das Treppenhaus an, wie so oft in diesen Schachtelbauten um ein halbes oder drittel Stockwerk versetzt. Ein paar Leute lehnten am Geländer und unterhielten sich leise, in ihren Kapuzenpullovern nicht viel mehr als Schatten im Dunst.

„Hey“, sagte Whitebird zu ihnen hinauf. „Kann ich über euren Balkon? Ich muss nach Hause und will nicht durch diese Suppe da unten.“

„Verständlich“, sagte ein Mann, „mach nur.“

Whitebird hatte sich gerade erst hochgezogen und saß mitten auf dem Geländer, als kühles blaues Licht durch den Dunst schnitt. Tiefer in der Stadt explodierte etwas, und Sekunden später blitzen weitere der Lichtstrahlen über den Himmel.

„Ist das jetzt das Ende?“, fragte jemand.

„Nee“, sagte Whitebird. Sie hatte gewusst, dass die Garde jeden Moment mit ihrem Drohnenangriff beginnen musste, blieb nun dennoch neben den anderen auf dem Balkon stehen, um dem Spektakel zuzusehen. Ein Lichtstrahl streifte eines der Flugzeuge, das kreischend vom Himmel torkelte und unten im Qualm verschwand; zweimal tauchte die Kante eines der Flügel aus dem Nebel auf wie die Flosse eines Meeresungeheuers, bevor die Maschine in das Erdgeschoss des gegenüberliegenden Blocks krachte.

„Ihr solltet reingehen“, sagte Whitebird, aber sie standen noch eine Weile da, bis Whitebird irgendwann auf der anderen Seite des Balkons über das Geländer kletterte.

🌠🌠🌠🌠🌠

„Und du bist dir sicher“, sagte der Soldat.

„Schau doch auf die Karte“, sagte Elvis. Er hatte den Cassius in der Mitte des Tunnels abgestellt und — nachdem sie so weit niemandem begegnet waren — schließlich die Scheinwerfer des Gleiters angeschaltet. Jetzt hoben sich ihre Schatten hart gegen die Tür ab, durch die Elvis zuvor mit Park das provisorische Gefängnis verlassen hatte, und durch die sie die Waffen hineinschmuggeln wollten. Die Tür war zugeschweißt.

„E 23“, sagte der andere Soldat und deutete auf eine Tafel neben der Tür. „Das ist es.“

„Natürlich ist es das“, sagte Elvis.

„Hat dein Gleiter Waffen?“

„Mein Gleiter hat keine Waffen“, sagte Elvis müde.

„Wir hätten es aufschießen können.“

„Hört ihr das“, sagte Elvis, ohne weiter auf die Kriegstauglichkeit seines Gleiters einzugehen. Irgendwo über ihnen grollte es wieder und wieder wie ein fernes Gewitter, aber dann doch zu oft und zu regelmäßig. Elvis meinte, hin und wieder sogar eine leichte Erschütterung zu spüren. Er hatte gerade den entsprechenden Sensor in seinem Implantat aktiviert, als auf das nächste Grollen ein wirklich lautes Krachen folgte und im Licht der Scheinwerfer funkelnde Staubkörner von der Decke rieselten.

„Der Angriff“, sagte einer der Soldaten.

Elvis starrte weiter die Tür an. Es gab keinen Weg an ihr vorbei, und keine Möglichkeit, sie aus den Angeln zu heben; die Leute von der Morgenröte hatten die Flügel nicht nur miteinander, sondern auch mit der Zarge verschweißt, und sogar noch die Griffe abmontiert und alle Löcher der Schließanlage versiegelt. Das passt, dachte Elvis. Zwischen einem bestenfalls wohlwollenden Desinteresse an allem und dieser Art von brutalem Übereifer schien die goldene Armee nicht viel zu kennen.

„Was jetzt“, sagte der Soldat.

Elvis atmete tief durch. Zu Parks Plan hatte gehört, die Gefangenen mit Waffen zu versorgen; Elvis war sich sicher, dass Park ein Scheitern dieser Aktion einberechnet hatte, aber das war vielleicht nicht so wichtig. Er verstand weiterhin nicht, warum er selbst in diese ganze Geschichte hineingeraten war, aber irgendwo tief in einem Berg stand der lächelnde Magister vor seinen Täfelchen und dachte sich aus, wie es hier weitergehen würde; und davor hatte Elvis immerhin Respekt.

„Wir suchen den nächsten Eingang“, sagte er. „Dann sind wir zumindest in der Nähe.“

Der Soldat klopfte sich nervös den Staub von der Uniform. Das Grollen hatte nicht aufgehört. „Ja“, sagte er, „das ist besser.“

🌠🌠🌠🌠🌠🌠

Carina überarbeitete gerade den Trainingsplan für den nächsten Tag, als Mira den Vorhang von ihrem Zelt aufschob. „Komm“, sagte Mira, „da passiert etwas.“

„Was“, sagte Carina, aber Mira sagte nichts, bis sie oben auf dem Dach angekommen waren. Carina sah schon die sonderbaren Lichter über der anderen Stadt, bevor ihre Kameradin ihr das Fernglas reichte. Auch andere aus ihrer Einheit standen hier, irgendwie teilnahmslos, als würden sie auf etwas warten. Durch das Fernglas sah sie nichts, das sie verstand. Die Stadt schien sich in eine graue Wolke aufgelöst zu haben, durchsetzt mit blinkenden Signallampen und den grellen Streifen von Strahlenwaffen. Carina versuchte, sich auf eines der Signale zu konzentrieren, aber sie fand den Einstieg in den Code nicht und im nächsten Augenblick hatte sie bereits eines der anderen Lichter wieder abgelenkt. Frustriert hielt sie das Fernglas Mira hin. „Kannst du etwas entschlüsseln? Irgendwas.“

Es frustrierte Carina nicht weniger, Mira dabei zuzuschauen, wie sie mit einer Hand das Fernglas balancierte und mit der anderen Pünktchen und Linien auf den Seiten ihres Notizbuchs verstreute.

„Was ist es?“, fragte sie, während Mira stumm die Lippen zu den Signalfolgen bewegte.

„Nichts“, sagte Mira. „Es bedeutet nichts.“

„Was.“

Mira zuckte mit den Achseln.

„Gib mir das“, sagte Carina und nahm das Notizbuch von der kleinen Mauer am Dachrand. Miras Stift klickte gegen den Beton, als sie das nächste Zeichen einzutragen versuchte. Auf Papier ergaben die Signale ebenso wenig Sinn wie zuvor durch das Fernglas. Carina setzte mal an der einen, mal an der anderen Stelle an, aber selbst wenn sie eine Zahlenfolge oder einen Wortanfang zu entschlüsseln meinte, zerfiel alles danach wieder zu Nonsens. Dieser Nebel, dachte sie, natürlich können wir nichts entschlüsseln. Es reicht, ein Aufleuchten zu verpassen, und die ganze Folge ist bedeutungslos.

„Der Nebel“, sagte sie, „sie stören damit die Signale.“

„Ja“, sagte Mira, „Aber dann könnten wir es rekonstruieren, wenn die Nachricht wiederholt wird. Aber hier wiederholt sich nichts.“

„Was meinst du?“

„Ich meine“, sagte Mira, „dass es nichts bedeutet.“

„Ich verstehe nicht.“

„Es sind einfach blinkende Lichter“, sagte Mira sehr langsam und bereits etwas gereizt.

„Aber warum?“

„Es ist wie ein Störsignal. Das ist das Störsignal. Nicht der Nebel.“

Oh nein, dachte Carina. „Haben wir mit der Morgenröte Kontakt?“

„Wir warten noch auf Antwort“, sagte ein Offizier, der bei ihnen auf dem Dach stand.

Carina legte das Notizbuch wieder auf die Mauer. Es war wahrscheinlich nur eine Frage der Zeit, bis auch sie angegriffen wurden. „Die Signale“, sagte sie, „wir können sie nicht mehr verwenden. Etwas Neues, wir brauchen etwas Neues.“

„Ich überlege doch schon“, sagte Mira, die das Fernglas die ganze Zeit über nicht abgesetzt hatte.

🌠🌠🌠🌠🌠🌠🌠

„Dein Helm“, sagte der Soldat.

Elvis holte den Helm widerwillig aus dem Cassius, und die zwei Soldaten warteten schweigend, bis er ihn noch widerwilliger aufsetzte. Sie hatten zwei Blöcke weiter angehalten; Elvis meinte, sich an die Gegend zu erinnern, und laut den Informationen der Kommandos besetzten die Truppen der Morgenröte hier weiterhin nur die benachbarten Blöcke um das Gefangenenlager. Die Tür neben dem Lastenaufzug ließ sich ohne weiteres öffnen. „Ist nicht giftig“, sagte einer der Soldaten, während aus dem Dunkel des Treppenhauses Nebel in den Tunnel kroch. An ihren Helmen waren kleine Lampen befestigt, doch allzu weit reichte das Licht nicht. „Aufs Dach“, sagte der Soldat. „Wir sollten uns Überblick verschaffen.“ Durch den Helm klang seine Stimme so dumpf, wie sich Elvis in der nebligen Szenerie hier vorkam.

Das Treppenhaus führte nur ins dritte Stockwerk hinauf, aber der Nebel war hier bereits nicht mehr als ein sonderbarer Dunst, als würde viel zu viel Staub in der Luft liegen; als wäre das Visier des Helms von einer lästigen Bildstörung betroffen. Wie in allen der Blöcke in der Stadt hatte hier ein Algorithmus Betonschachtel an Betonschachtel zu einem Gebäude gefügt und alles mit Korridoren und Treppenhäusern verbunden, wo sie eben hinpassten. Das war entweder zufällig oder nach einem Schema entworfen, das für Menschen eher nicht begreifbar war, aber Elvis kannte genug dieser Gebäude, um den Weg zum nächsten Treppenhaus zumindest zu ahnen.

„Hier entlang“, sagte er. Ein schmaler Korridor endete an einem Laubengang; sie warfen einen kurzen Blick in das Nebelmeer unten, bevor sie geduckt zum Treppenhaus am anderen Ende liefen, vorbei an den zu Gemüsebeeten umgenutzten Blumenkübeln und den Feuerstellen, die sich die Leute hier eingerichtet hatten. Hinter den Fenstern war es dunkel, wenn sie nicht ohnehin verbarrikadiert waren, aber im Treppenhaus stieß Elvis fast mit einem alten Mann zusammen, der nur mit einer kleinen Kerze in der Hand aus einem anderen Korridor kam.

„Oh nein“, sagte Elvis und versuchte schnell, die flackernde Flamme zu stabilisieren, während sich der Mann vor Schreck auf eine Treppenstufe setzen musste.

„Alles gut“, sagte einer der Soldaten, „alles gut. Wir sind von der Garde.“

„Von der Garde“, wiederholte der Alte, „was passiert jetzt?“

„Alles gut“, sagte der Soldat, der gerade wohl weder auf dieses noch auf irgendein anderes Gespräch vorbereitet war.

„Was soll ich tun? Dieser Rauch. Meine Wohnung ist unten.“

„Das ist nicht giftig. Machen Sie sich keine Sorgen.“

„Aber der Rauch“, sagte der Alte und deutete in das wabernde Dunkel unten im Treppenhaus.

„Bleiben Sie erst mal hier oben. Und halten Sie sich von den Fenstern fern.“

Der andere Soldat wartete bereits beim nächsten Treppenabsatz, aber Elvis drehte sich nach ein paar Stufen doch wieder um. „Opa“, sagte er, „kennst du hier Leute, die uns aushelfen könnten? Sie sollen gar nicht mit uns in den Krieg ziehen, nur ein paar Kisten tragen.“

„Ja“, sagte der alte Mann, starrte aber weiter an seiner Kerze vorbei in die Tiefe des Treppenhauses.

Die beiden Soldaten kauerten in der Ecke des Daches, als Elvis etwas außer Atem oben ankam. Sie sagten nichts, und auch Elvis brauchte eine Weile, um die Situation zu verarbeiten.

Es war freilich nicht der Nebel, der ihn verstörte. Nebel hatte auf eine solche Weise zu seinem Planeten gehört, dass Elvis nach den Jahren auf der Erde und der Zeit hier auf Dunhuang Siebzehn einen Anflug von Sehnsucht verspürte. Nebel kannte er; alles andere aber war neu und schrecklich. Glühende Energiebolzen zogen über den Nachthimmel, um irgendwo in der Stadt einzuschlagen, und unten im Nebel waberten Lichter wie Gewitter in einem verfluchten Tal. Auf dem gegenüberliegenden Block sah er ein paar der golden gepanzerten Figuren der Besatzungsarmee, doch auch sie schienen hier eher gestrandet. Einige bewegten einen großen Scheinwerfer, dessen Licht nur oberflächlich in den Nebel eindringen konnte; andere hatten sich an den Mauern und Geländern der Dächer aufgestellt und spähten durch die Fernrohre ihrer Präzisionsgewehre.

„Wie ist die Lage?“, fragte Elvis. Das war natürlich das Letzte, das er genauer wissen wollte, aber es klang nach einer Frage, die man Soldaten stellen sollte, während drumherum die Welt brennt.

„Der Drohnenangriff“, sagte einer der Soldaten. „Sie schalten die Fahrzeuge aus, die Transporter, die Flugzeuge.“

„Und die Leute? In den Gebäuden? Auf den Gebäuden?“

„Später. Nicht mit der Artillerie.“

Das brauchen wir ja nicht abzuwarten, dachte Elvis, während ein Energiestrahl über ihren Köpfen vorbeizog. Irgendwo explodierte etwas, und jemand rief wütende Befehle in die Nacht.

„Gut“, sagte der Soldat nach einer Weile. „Wir sind zwei Blöcke zu weit. Wir machen das, also, in beide Richtungen?“ Er gestikulierte wenig aussagekräftig mit den Händen. „Immer mehr der Waffen näher an unsere Leute, immer mehr unserer Leute näher an die Waffen? Ja?“

Der andere Soldat nickte. „Zuerst zu den Gefangenen, ein paar können wir bewaffnen. Dann zurück, und so weiter.“

„Ja“, sagte der erste Soldat. Sie spähten über die Mauer zum nächsten Block hinüber, der sich wie eine unerwartete Klippe aus dem Nebelmeer erhob. Auf einem der höchsten Dächer wehte eine Flagge, ein ausgefranster heller Kreis auf einem dunkleren Hintergrund. Eine Sonne, stellte Elvis fest. Er war sich nicht sicher, ob es nur die Falten in der Flagge waren, oder ob der Sonne noch ein stilisiertes Gesicht eingezeichnet war, das zu ihm zurückstarrte. Mit einem Anflug von Grauen duckte er sich hinter die Mauer, bevor er vielleicht nicht ins Blickfeld einer böswilligen Sonne, aber garantiert in die Zielfernrohre der Präzisionsgewehre geriet. Auch die beiden Soldaten waren wieder in Deckung gegangen, ihre eigenen Waffen umklammernd.

„Wir müssen durch das Gebäude“, sagte einer von ihnen. „Sie werden die Straßen zwischen den Blöcken bewachen, von oben. Das ist zu gefährlich, selbst bei dem Rauch.“

Zu gefährlich, dachte Elvis.

„Geht’s jetzt los“, sagte jemand. Ein paar Leute waren zu ihnen auf das Dach geklettert; die beiden Soldaten hielten vorsichtshalber ihre Gewehre im Anschlag, aber es war klar, dass diese kleine Gruppe nicht zu der goldenen Armee gehörte: Das waren eher Jugendliche, die ihre Alltagsklamotten mit irgendwelchen Überbleibseln ergänzt hatten, die sie gerüsteter wirken lassen sollten, einem Knieschützer oder einem Helm oder einfach einer Weste zu viel. Manche hielten Stangen in den Händen, andere Schläger, die sonst zu einem Spiel gehören mussten.

Elvis wedelte mit der Hand, damit auch sie in Deckung gingen. „Könnt ihr uns etwas tragen helfen?“, fragte er.

Ihre neuen Verbündeten schwiegen eine ganze Weile. „Okay“, sagte schließlich einer mit einem Schulterzucken.

Wieder im Tunnel bestaunten die Jugendlichen aus einigem Abstand, wie die beiden Soldaten ihre Rucksäcke mit klobigen Gewehren und Revolvern bepackten. Zu Elvis’ Beruhigung machten die Jugendlichen keine weiteren Anstalten, mit in den Kampf ziehen zu wollen. Sie trugen die Koffer mit den Waffen das neblige Treppenhaus hinauf; danach führte sie einer von ihnen durch den Nebel im Erdgeschoss zum Ausgang. „Lampen aus“, sagte einer der Soldaten, bevor sie aus dem Gebäude traten. Elvis fummelte an der Seite seines Helms herum, bis er den Schalter fand, und dann war alles nur noch grau.

Die Nachtsicht in seinem Implantat brachte in diesem Nebel gar nichts, aber das war wahrscheinlich das Ziel des Ganzen. Ich hätte das selbst lernen sollen, diese Echoortung, wie Park im Tunnel, dachte Elvis. Allerdings wären die Schallwellen seiner Stimme dann von dem Visier seines Helms abgeprallt. So ein Unsinn, dachte er, dann würde ich nirgendwo hinkommen. Abgesehen davon, dass ich das niemals lernen könnte.

Die Sehnsucht, die er auf dem Dach nach nebligen Landschaften verspürt hatte, konnte dieses Grau nicht einlösen. Genau genommen war es kein Nebel, nur ein chemischer Rauch, den die Kommandos aus irgendwelchen Kanistern hatten quellen lassen; präzise geplante Partikel, die alles Mögliche mit dem Licht und der Atmosphäre anstellten, bis einfach niemand noch etwas sehen konnte. Vereinzelt drang irgendein Leuchten bis an diesen Grauschleier vor, aber es hatte keine Tiefe und keine Formen, und so konnte der nächste gelbliche Schein genauso gut eine Kerze im Fenster ein paar Meter weiter sein wie ein brennendes Gebäude in der Ferne.

„Wie lange bleibt das so?“, fragte Elvis in den Nebel hinein.

„Nicht ewig“, sagte einer der Soldaten neben ihm. „Noch eine Stunde, vielleicht.“

Elvis streckte die Arme aus und meinte, seine Finger sehen zu können, und wenn er lief, bewegte sich unten etwas, was seine Füße sein konnten; es half natürlich wenig, dass der Kampfanzug aus einem mattschwarzen Stoff gefertigt war. Mit Unbehagen stellte Elvis fest, dass es nur unmittelbar um ihn herum dunkel war, als würde der Nebel alles Licht aus der Ferne aufsaugen und es vor seinen Augen zu einer grauen Masse verdichten. Nur in der Höhe schien die Welt noch halbwegs in Ordnung; der Nebel mochte zwar mehrere Meter hoch zwischen den Blöcken stehen, doch die Sterne und Monde waren wohl zu weit weg, als dass er auch sie schlucken konnte. So sah Elvis durch den Dunst tatsächlich den Nachthimmel, und als er sich umdrehte, konnte er die dunkle Form des Blocks zumindest dort erahnen, wo er die Sterne verdeckte.

Sie liefen vielleicht zweihundert Meter in den Platz zwischen den Blöcken hinein, ohne mehr zu sehen als eine Parkbank und manchmal einen geschotterten Pfad, der irgendwo ins Nichts führte. Elvis versuchte sich zu erinnern, wie diese Gegend zuvor ausgesehen hatte. Als er zum letzten Mal nach den Gefangenen gesucht hatte, stand auf dieser Seite des Camps eines der riesigen Landungsschiffe der goldenen Armee, selber so lang wie ein Dutzend der Wohneinheiten eines der Blöcke. Jetzt glühten in dieser Richtung scheußlich gelbe Flecken; vermutlich hatten die Geschütze der Garde die Maschine zu einem brennenden Wrack zusammengeschossen. Irgendwo heulte ein Tier. Die müssen ja erst recht wahnsinnig werden, dachte Elvis und unterdrückte den Impuls, das Tier zu suchen; er war selbst desorientiert genug, und der Helm machte es schwieriger, Geräusche zu verorten.

Mittlerweile waren sie auf der Hälfte des Platzes angekommen, die zum Camp der goldenen Armee gehörte. Wo auf der anderen Hälfte noch Reste von Rasen und Blumenbeeten gewesen waren, hatten hier Tausende von Stiefeln und die Reifen der Truppentransporter den Park bereits zu Matsch verarbeitet, bevor in dieser Nacht die Garde angriff; jetzt mussten sie sich vorsichtig den Weg zwischen eingefallenen Zelten und den Trümmern von Fahrzeugen bahnen, die mit ihren scharfen Kanten in der Dunkelheit nicht weniger tödlich sein würden als sonst in intaktem Zustand. Irgendwann sah Elvis schließlich statt der grauen Nebelwand eine graue Betonmauer vor sich. Sie kauerten kurz vor der Fassade und hörten den Stimmen zu, die von den Dächern kamen. Vermutlich waren hunderte der Truppen von der Morgenröte in diesem Block, aber mit genug Glück hatten sie sich wie die anderen Menschen in der Stadt in die höheren Stockwerke zurückgezogen.

Nach ein paar Metern fanden sie eine Terrassentür; sie war nicht verschlossen, und an der Ecke kauernd stieß einer der Soldaten sie auf, bevor er und danach sein Kamerad ein paar Sekunden später im Gebäude verschwanden. Elvis folgte zögerlich. Im Inneren war es nur dunkel. Der Soldat schob irgendetwas an die Tür, um sie offenzuhalten und entriegelte dann eines der Fenster. Langsam quoll der Nebel von draußen hinein, während Elvis noch versuchte, sich zurechtzufinden. Wahrscheinlich war dies eine Wohnung wie viele andere in diesen Blöcken gewesen; jetzt war sie bis auf ein paar Möbel ausgeräumt worden, um Platz für irgendwelche Säcke und Kisten zu schaffen. Einer der Soldaten deutete zu einer Zimmertür. Dahinter fanden sie einen weiteren Raum voller Säcke und einen, in dem die restlichen Möbel aus dieser und wahrscheinlich den benachbarten Wohnungen gestapelt waren. In einem Innenhof glühte eine der fluoreszierenden Röhren, die Elvis in den Anlagen der goldenen Armee gesehen hatte, als er auf dem Berg Zuflucht gesucht hatte; einen Augenblick zuvor hatte sie den Nebel, der irgendwo durch einen Korridor oder ein Treppenhaus in den Hof gekrochen war, in ein türkises Licht getaucht, gerade wurde es grünlich oder bereits gelb.

Der Block musste auf dieser Höhe etwa drei oder vier solcher Wohneinheiten breit sein. Über einen Korridor gelangten sie in die nächsten Räume, diesmal voller eng aneinander gereihter Feldbetten. Wozu, dachte Elvis, warum sind sie mit ihren Feldbetten nicht einfach irgendwo in den Wald gegangen und haben diese Leute hier in Ruhe gelassen, dann würde es allen besser gehen.

Der nächste Teil des Blocks war eine halbe Etage höher angelegt, und so schlichen sie zuerst ein paar Treppenstufen hoch, bevor sie eine Tür fanden. Auch diese Wohnung wurde als Lager genutzt; Container stapelten sich an den Wänden, und in einem offenen Sack meinte Elvis die Formen von irgendeinem Gemüse zu erkennen, das die goldene Armee von den Feldern abgeerntet oder einfach den Leuten in der Stadt abgenommen hatte.

„Wer ist da?“

Elvis duckte sich instinktiv hinter die Kisten. Die Stimme kam aus dem Treppenhaus, und im nächsten Augenblick zuckte der Strahl einer Taschenlampe im Türrahmen. Elvis sah sich um, aber die Soldaten waren verschwunden. Natürlich, dachte er, die sind dafür ausgebildet, die werden einfach unsichtbar, wenn es darauf ankommt. Dann spürte er etwas an seiner Ferse, und als er sich umdrehte, winkte ihn von unter einem Tisch einer der Soldaten heran.

Selbst der wenige Nebel in diesem Raum verteilte das Licht der Taschenlampe an den unmöglichsten Stellen. Elvis spürte seinen Puls bis in den Hals hinauf. Das hört man doch bis in die oberen Stockwerke, dachte er und legte die Hand auf die Brust, die finden uns doch sofort. Er fragte sich gerade, wie viele hundertmal sein Herz jetzt pro Minute schlug und wie viele Minuten, oder doch vielleicht nur Sekunden sie sich unter dem Tisch versteckten, als einer der Soldaten etwas auf dem Boden in den Raum hinaus rollte und alles grau wurde. Jemand zerrte an seinem Arm. Elvis stolperte voran und in die Richtung, in der die nächste Tür sein musste. Er hörte erschreckend nahe den Soldaten der goldenen Armee irgendwas fluchen, doch dann waren sie bereits im Flur. Elvis riss die nächste Tür auf, deren Umrisse die Nachtsichtfunktion seines Implantats nachzeichnete, und lief auf eine Terrasse hinaus, während an ihm vorbei frischer Nebel aus der Wohnung quoll.

Einige Schritte weiter war wieder alles anders. Die Dunkelheit hatte Elvis schnell wieder geschluckt, doch auf dieser Seite des Camps schien sie sich gegen den Nebel durchsetzen zu können. Zur Elvis’ Linken kroch das Grau den Block hinauf, als würde sich eine kränkliche Brandung an Klippen abarbeiten; dort mussten die Leuchtröhren und Scheinwerfer der goldenen Armee noch genug Licht produzieren, um den Nebel füttern zu können. Zur rechten Seite hin aber war kein Licht, und auch kein Nebel zu sehen, obwohl seine Partikel hier genauso in der Luft liegen mussten wie anderswo in der Stadt. Der Block, in dem die Gefangenen untergebracht waren, deutete sich als schwarze Masse vor dem Himmel an, und Elvis musste auf die Nachtsichtfunktion vertrauen, um nicht alle paar Schritte über irgendetwas zu stolpern. „Sind sie weg?“, fragte einer der Soldaten leise, nachdem sie weit genug in die Dunkelheit gelaufen waren, ohne dass sie jemand zu verfolgen schien. „Unsere Leute. Sind sie weg?“ Nirgendwo an dem ganzen Block vor ihnen war Licht, und nur die Scheinwerfer auf den Dächern der benachbarten Gebäude ließen hin und wieder einen Lichtkegel über den Platz und die Fassaden streifen, ohne mehr als eine gräuliche Schliere in den Nebel projizieren zu können. „Nein“, sagte Elvis, der aus der dunklen Masse vor ihnen förmlich die Apathie der Gefangenen spürte.

Der Weg zwischen den Blöcken schien ein Vielfaches dessen zu dauern, das sie auf der anderen Seite gebraucht hatten. Der Artilleriebeschuss musste vor einer Weile aufgehört haben, aber Elvis hatte ohnehin alles Zeitgefühl verloren. Jetzt kamen noch manchmal Rufe von den Dächern, und zwei- oder dreimal hörte er wieder ein Tier jaulen. Der Block mit den Gefangenen blieb jedoch still, selbst, als sie schließlich vor seinen Mauern standen. Zwischen zwei der Wohneinheiten fanden sie eine Außentreppe. Es blieb dunkel, während sie Stockwerk um Stockwerk hinaufstiegen, doch irgendwann ließen sie endlich die unangenehme Enge des Nebels unter sich zurück.

„Da“, sagte Elvis. Auf einem Balkon standen mehrere Menschen, Schemen, die sich fast noch weniger zu bewegen schienen als das Laub der Ranke, die diesen Teil des Gebäudes hinaufkroch. Nur zwei drehten sich zu ihnen hin, als Elvis und die Soldaten auf den Balkon traten, und selbst dann blieben sie stumm.

„Wir bringen euch hier weg“, sagte einer der Soldaten, nachdem sie alle lange genug geschwiegen hatten.

„Alles klar“, sagte jemand.

„Wir haben Waffen“, sagte der Soldat und stellte seinen Rucksack auf den Balkon. „Wir können einige von euch ausrüsten, dann rücken wir in Phasen vor.“

„Alles klar“, sagte wieder jemand. Elvis verspürte den Wunsch, sich selbst in die Ranken zurückzuziehen, aber wahrscheinlich waren bereits einige der Gefangenen in der Vegetation verwachsen.

„Zehn Leute“, sagte der Soldat, der sich nicht weiter beirren ließ, „ich brauche zehn Leute für die erste Tour. Danach fünfzig. Wir haben nicht viel Zeit. Noch ist der Rauch da.“

„Der Rauch“, sagte jemand. Ein paar der Leute stellten sich ans Balkongeländer und schauten schweigend in die Nacht hinaus.

„Zehn Leute“, sagte der Soldat.

Jemand aus der Runde atmete tief aus. „In Ordnung. Ich suche dir zehn Leute.“

„Und dann die nächsten Fünfzig“, sagte der Soldat.

Im Schein ihre Helmleuchten verteilten sie die Waffen an die ersten Freiwilligen. Die Leute vom Balkon hatten sie in einen Raum tiefer im Block geführt, in dem sich zunehmend mehr der Gefangenen versammelten; ausgemergelte Menschen, im fahlen Licht der kleinen Leuchten alle so blass, dass es unvorstellbar war, dass sie selbst in der Sonne irgendetwas anderes sein könnten als unterschiedliche Abstufungen von Grau. Elvis hatte seinen Helm abgenommen und es sofort wieder bereut: Es stank hier nach wirklich jeder Substanz, die irgendwie abgestanden sein konnte.

„Gut“, sagte der Soldat, nachdem sie zehn der Freiwilligen ausgestattet und in zwei Gruppen aufgeteilt hatten. Er starrte kurz auf den Boden, als hätte selbst ihn die Apathie der Gefangenen mittlerweile erreicht. Die Lampe an seinem Helm zeichnete einen hellen Kreis auf das schmutzige Laminat. Dann drehte er sich wieder zu Elvis und seinem Kameraden um. „Ihr geht mit der ersten Gruppe zurück zu den Waffen, auf einem anderen Weg“, sagte er. „Ich versuche mit der zweiten Gruppe zu dem Block zu kommen, wo die anderen sein sollten. Lasst ein paar von den Neuen bei den Waffen zurück, wir treffen sie dann dort.“

Oh nein, dachte Elvis, er hat ihr gesagt.

Vorschau: „Sieht das nach Gewinnen aus?“, fragt Carina, während der Nebel weiterhin die Stadt beherrscht. Aleph wartet auf einem Berg, bis am Horizont der Stern erscheint, und als Elvis schließlich die Augen öffnet und zum Himmel schaut, blickt er nur in eine Maske.

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Jacob Birken

Writer, researcher. Interested in ideas about history & historicity, and their mediation in arts & pop culture.