Die Kriege der Zukunft [SEO1 EP22–24]

Jacob Birken
49 min readMar 27, 2022

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Was bisher geschah: Bei Nacht und Kunstnebel plant die Garde Dunhuang Siebzehns, die Gefangenen und vielleicht sogar die gesamte Stadt von der Armee der Morgenröte zu befreien. Auf Umwegen ist auch Elvis Eric Late wieder mitten im Geschehen gelandet, während sich Eran und Carina Debro auf der Morgenröte und in der benachbarten Stadt aus ganz anderen Perspektiven Überblick zu verschaffen versuchen.

„Im Nebel“, Teil 2

„Mach das nicht“, sagte Sergeant Benedict und stabilisierte mit einer Hand den Stuhl, auf dem Lorna Whitebird entweder nervös oder bereits viel zu entspannt hin und her kippelte.

„Alter“, flüsterte Whitebird. Sie hatten sich auf der Terrasse zwischen den vielen riesigen Topfpflanzen eingerichtet wie in einem ehrlichen Dickicht, aber dass sie bisher noch niemand von einem der anderen Dächer unter Beschuss genommen hatte lag wohl weniger an dieser Tarnung als daran, dass sie gerade kein besonders relevantes Ziel abzugeben schienen. Die Leute von der Besatzungsarmee machten sich nicht einmal mehr die Mühe, durch ihre Zielfernrohre zu schauen; als hätte sie jemand wie in einem riesigen Planspiel auf den jeweiligen Dächern und Terrassen und Balkonen abgesetzt, schienen sie alle auf die nächste Runde zu warten, die Besatzungsarmee mit ihren goldenen Rüstungen und Fahnen ebenso wie sie hier zwischen den Topfpflanzen.

Whitebird hatte eine ungefähre Vorstellung, worauf sie selbst wartete, und die vage Hoffnung, dass der Besatzungsarmee ihrerseits eine solche Vorstellung fehlte. Die Artillerie der Garde hatte mittlerweile ihr Feuer auf die Anlagen in der Stadt eingestellt, weil es nichts mehr zu beschießen gab; als Nächstes sollten die befreiten Gefangenen hier ankommen. Hätten hier ankommen sollen, dachte Whitebird, zumindest, wenn es nach dem bisherigen Zeitplan ging. Sie lehnte sich zurück und suchte zwischen den Blättern am Nachthimmel die Monde, nach den Jahren auf diesem Planeten eine ganz zuverlässige Methode, die Uhrzeit auch ohne Implantat zu bestimmen. Sie fand den ersten und den zweiten und dann noch etwas, das sonst nicht zwischen die Sternbilder Dunhuang Siebzehns gehörte. „Bleibt doch bloß weg“, fluchte sie leise und holte ihr Fernglas heraus. Auch wenn sie eine genaue Form damit nicht ausmachen konnte, war es jetzt zweifellos über ihnen, und Whitebird fühlte sich dem fernen Schiff unangenehmer ausgesetzt als den verloren wirkenden Figuren auf den Dächern gegenüber.

⭐️

Gut, dass ich daran gedacht habe, stellte Eran Debro fest, während er die Holzkiste mit einem kleinen Lappen polierte. Den Lappen benutzte er sonst für die Knöpfe an seiner Uniform und hatte ihn wohl nach dem Ankleiden instinktiv in eine der vielen Taschen seines Raumanzugs gesteckt. Zurecht, denn auf der Kiste hatte sich bereits ein feiner Staubfilm abgelagert, den Debro jetzt versonnen, aber resolut vom Holz wischte. Die Morgenröte verfügte über ein ausgefeiltes Filtersystem, nur war es vielleicht alt geworden, mittlerweile selbst so sehr eine Staubquelle wie alles andere auf diesem Schiff. Oder ich hätte es nicht bemerkt, früher, dachte Debro. Seit wann fällt mir Staub auf? Früher hatte er auf einem Planeten gelebt, der selbst vor allem aus Staub zu bestehen schien; da war es noch eine Frage der Muße gewesen, ob man eine dünne Staubschicht wegwischte, wenn sie sich nach einem halben Tag über alles gelegt hatte, oder am nächsten Tag eine dickere.

Es konnte auch an den Gefangenen mit den bleiernen Augen liegen, die es auf eine ihm bis jetzt unklare Weise fertigbrachten, ihre kargen Zellen eben nicht karg, sondern einfach sparsam eingerichtet aussehen zu lassen. Er faltete den kleinen Lappen zu einem Quadrat und verstaute ihn wieder in der Tasche. Selbst der Lappen war ein Vorschlag eines der Gefangenen gewesen; ein Stoff, besonders gut, um Bronzeknöpfe zu polieren. Sehr hilfreich, dachte Debro und schüttelte den Kopf. Dann klappte er die Holzkiste auf.

Von den zwölf Anhängern lagen noch elf in ihren Fächern. Wen brauchen wir, dachte er, wer fehlt uns hier? Er klappte die Kiste wieder zu. Nein, dachte er, das ist nicht die Lösung. Das sollte ein Ziel sein. Diese Kiste gehörte nicht auf die Morgenröte. Wir müssen sie auf den Planeten bringen, dachte er. Das ist ein gutes Signal, für unsere Leute dort unten, und für die, die weiterhin auf diesem Schiff sein müssen. Etwas, bevor wir das Ziel aus den Augen verlieren. Wir haben uns hier alle zu Gefangenen gemacht, Jahr um Jahr, und jetzt richteten wir uns in dieser Gefangenschaft ein. Vielleicht war gerade das eine Strategie der Leute in den Zellen — ihnen hier beim Einrichten zu helfen. Plötzlich fühlte Debro den kleinen Lappen schwer in der Tasche des Raumanzugs lasten. Unsinn, dachte er.

„Kapitän Debro“, sagte jemand hinter ihm. Debro hatte gehört, wie sich die große Tür zu der Zeitenkammer geöffnet hatte, drehte sich jedoch erst jetzt um: Ein Offizier, der ihn wahrscheinlich auf die Brücke holen kam. Es gab viel zu tun, doch das war eine gut genutzte Pause gewesen.

Über der Brücke hing ein ganzer Schwarm aus Projektionen. Viele waren abstrakte Visualisierungen, mit denen der Bordcomputer etwas beantwortete, zu dem Debro gerade die Frage fehlte; andere zeigten die Planetenoberfläche unter ihnen, ganze Regionen und Städte, aber auch Details, so weit die Kameras der Morgenröte eben hineinzoomen konnten: Ein Dach, auf dem sich winzig Menschen bewegten, oder eine langsame Fahrt über einen Hang, der gerade aus dem einen oder anderen Grund taktisch relevant sein musste. Unten war wieder Krieg, oder zumindest verlief die Invasion gerade nicht so ungehindert wie zuvor.

Debro schwebte zu seinem Sessel. Basil Matei und eine ganze Gruppe aus der Crew waren auf dem Podium versammelt und diskutierten die Projektionen wie eine interessante Ausstellung. Matei deutete auf eine der Ansichten, als Debro bei ihnen ankam. Er wirkte amüsiert; noch vor ein paar Stunden hatte ein Angriff aus dem Zentrum dieses Sternsystems sie auf die dunkle Seite des Planeten verjagt, doch hier schienen sie tatsächlich sicher zu sein, und was unten auf dem Planeten geschah war bislang ein Konflikt und keine Katastrophe.

Debro hielt sich an der Lehne seines Sessels fest und schaute zu der Ansicht hoch, auf die Matei weiterhin einen Finger richtete. Er hatte ein ähnliches Bild bereits zuvor gesehen, als die ersten Nachrichten über den Angriff auf die Stadt die Morgenröte erreichten, doch jetzt, als sie vom Schiff aus — oder zumindest durch dessen Kameras — nach unten blickten, war dieses Bild klarer geworden: Die ganze Stadt schien in einer grauen Masse versunken, aus der erst die oberen Stockwerke der Gebäude dunkel hinauf ragten. Debro spürte eine sonderbare Beklemmung in der Brust, als ihm plötzlich der ewig graue Himmel über seinem Planeten in den Sinn kam; das undurchdringbare, stumpfe Nichts, das ihnen jetzt auch hier, auf dieser vermeintlich neuen Welt, entgegenkam.

Matei hatte die Hand wieder gesenkt. Er sieht das auch, dachte Debro, er hatte noch länger als ich unter diesem Himmel gelebt. Falls dem so sein sollte, ließ sich Matei jedenfalls nichts anmerken, und viele der anderen auf der Brücke waren nicht einmal auf einem Planeten geboren.

„Haben wir Kontakt?“, fragte Debro schließlich.

„Keine der Anlagen sendet“, sagte jemand.

Debro versuchte sich auf die Projektion der Stadt zu konzentrieren, ohne von dem stumpfen Grau überwältigt zu werden. Von jedem Dach schien es zu blinken, aber unter den Dutzenden Lichtsignalen fand er kein einziges, dessen Bedeutung er entschlüsseln konnte. „Die Signale“, sagte er, „was soll das?“

„Rauschen“, sagte Matei.

„Ach.“

„Nicht schlecht, oder?“

„Diesen Code habe ich selbst noch bei Manövern benutzt“, sagte Debro zu der jungen Quartiermeisterin, die neben ihnen schwebte und im Vergleich zu Matei wenig amüsiert wirkte. „Vielleicht hätten wir ihn lieber in der Wüste lassen sollen.“

Was bildet ihr euch ein, dachte Abelia und wusste kurz selber nicht, ob sie damit die gegnerische Armee und ihre Störsignale unten oder die beiden alten Offiziere hier auf der Brücke meinte. „Der Computer könnte das prüfen“, sagte sie. „Die falschen Lichtsignale markieren, wenn sie keinen Sinn ergeben.“

„Der Computer könnte das prüfen“, wiederholte Basil Matei und machte eine Geste, die auch der Computer verstehen musste.

Immerhin, dachte Abelia, während sich die Maschine an die Arbeit machte und die flackernden Lichter auf der Projektion erstaunlich schnell hinter roten X-en zu verschwinden begannen, bis nur noch einige wenige übrig blieben.

„Das ist doch gleich viel ordentlicher“, sagte Matei.

Natürlich ist es das, dachte Abelia. Oder macht er sich über mich lustig?

Debro kniff die Augen zusammen. Er brauchte nicht lange, um die verbliebenen Lichtsignale zu entschlüsseln: Halten Stellung. Gut, dachte er. Fürs Erste. „Wissen wir, woher der Beschuss kam?“

„Ungefähr“, sagte Matei.

„Sie bleiben in Bewegung“, sagte ein Offizier. „Drohnen, außerhalb der Stadt.“

„Haben wir Kampfhandlungen in der Stadt?“

„Nicht direkt“, sagte der Offizier.

„Der Nebel, die falschen Signale. Damit bereiten sie etwas vor.“ Noch einmal überkam Debro beim Anblick der grauen Masse in den Tiefen der Stadt Abscheu, doch je länger er auf die Projektion sah, desto mehr präsentierte sie sich als ein interessantes Rätsel. Natürlich konnte die Morgenröte beginnen, die Felder zu beschießen. Irgendetwas würden sie selbst von hier oben treffen, und dann wäre zumindest diesem Spuk ein Ende gesetzt; aber damit hatte die gegnerische Armee zweifellos gerechnet.

„Noch können wir uns das weiter ansehen“, sagte er. Es konnte hier einiges zu lernen geben, nicht nur über die gegnerischen Taktiken, sondern auch über die Kapazitäten der eigenen Armee.

„Dann sollten wir das doch tun“, sagte Matei.

Abelia öffnete und schloss ihren Mund wieder, während Debro sich in seinem Sessel niederließ. Sie haben recht, dachte sie. Sie müssen sich selbst verteidigen können, dort unten, sonst ist das alles umsonst.

„Meldung vom sechsten Batallion“, rief jemand von der Brücke hinauf.

„Ja“, sagte Debro, und einige Sekunden später schälten sich aus dem statischen Rauschen auf einer der Projektionen mehrere Gesichter heraus, ihrerseits wohl nur durch den Schein des Hologramms vor ihnen beleuchtet: Der Major des Bataillons, Carina, ein paar andere in Uniformen oder Kampfanzügen. Erst dachte Debro, dass er in eines der Zelte des Camps schaute, aber nachdem das Rauschen verschwunden war und im Hintergrund weiterhin vereinzelte Lichtpunkte glitzerten, erkannte er, dass sie wohl im Freien sendeten.

„Wie ist die Lage“, sagte Debro. Interessant, dachte er. Es hatte ihn nicht sonderlich berührt, dass Carina nach dem Attentat hier auf der Morgenröte hatte rekonstruiert werden müssen, sie gerade zu sehen war jedoch zumindest gut.

„Kapitän Debro“, sagte der Major. „Die Lage ist … nicht ersichtlich. Die Lichtsignale werden gestört, jeder Funkkontakt ist abgebrochen.“

„Vor Ort“, sagte Debro. „Die Lage vor Ort. Bei euch.“

Der Major schien für einen Moment irritiert. „Unverändert“, sagte er dann. „Keine Anzeichen eines bevorstehenden Angriffs. Patrouillieren verstärkt Dächer und Straßen.“

„Gut“, sagte Debro, dessen Aufmerksamkeit für diese Unterhaltung schnell wieder nachließ.

„Wann sollen wir eingreifen?“, fragte Carina.

Debro sah, wie neben ihm Basil Matei neugierig eine Augenbraue hob. Die Bataillons in den Städten hatten ihre jeweiligen Befehlsketten, und selbst nachdem er Matei das Kommando über die Morgenröte übertragen hatte, war Debro Leiter dieser Expedition und somit auch Anführer dieser Armee geblieben. Manchmal hatte er sich gefragt, ob dies eine Schwachstelle war, aber jetzt konnte es sich als fruchtbar erweisen. „Oh“, sagte er, „das liegt in eurem Ermessen. Falls in der belagerten Stadt keine funktionsfähige Kommandostruktur mehr erkennbar ist, muss jemand dieses … Kommando übernehmen.“

„Verstanden“, sagte Carina knapp, schien in der Dunkelheit des Zeltes jedoch gleich einen halben Kopf größer geworden zu sein.

Erst jetzt fiel Eran Debro auf, dass seine Tochter sich aus irgendeinem Grund in eine Decke gehüllt hatte. Nicht, dass ihn das weiter kümmerte, aber plötzlich wurde ihm bewusst, dass sie dort unten tatsächlich auf einem Planeten waren. Nachts ist es kalt; eine eigentlich selbstverständliche Sache, die ihm in der Zeit auf diesem Schiff entfallen war. Wetter, dachte er erstaunt, ich vermisse Wetter, zwar nicht gerade die auszehrenden Sandstürme und Dürren seines Planeten, sondern eine Umwelt, die ihre eigenen Launen hatte und nicht nur Einstellungen wie die Klimaanlagen der Morgenröte. Jetzt erfasste ihn angesichts der Kämpfe unten erst Ungeduld und dann das ungute Gefühl, dass der Nebel in der belagerten Stadt wirklich als Omen daherkam — nicht, weil sie der stumpfe Himmel ihres Planeten bis hierher verfolgte, sondern weil sie ihn vielmehr mitgebracht hatten. „Ist noch etwas?“, fragte er erschöpft.

„Nein, Kapitän“, sagte der Major, bevor er und die anderen wieder in statischem Rauschen verschwanden und der Bordcomputer die Projektion ausschaltete.

⭐️⭐️

Bereits bei der zweiten Tour hatte Elvis sich an den Nebel gewöhnt. Letztlich war es eine Frage der Erwartungen: Er musste sich nur darum kümmern, nicht über etwas zu seinen Füßen zu stolpern. Elvis kannte die Stadt gut genug, um ungefähr zu wissen, wo sie jeweils waren, aber das spielte nur auf einer sehr abstrakten Ebene eine Rolle, als würden sie eher in der Tiefsee oder dem Weltraum navigieren als auf den Straßen einer nicht einmal allzu großen Stadt. Jetzt hatte Elvis diese Stadt bestenfalls als Karte im Hinterkopf, und was ihnen ein paar Meter weiter begegnen würde, konnten sie nicht einmal ahnen.

Die Überraschungen blieben dennoch aus. Die goldene Armee schien sich weiterhin auf die Dächer zurückgezogen zu haben, und Elvis ertappte sich dabei, diese Situation beinahe normal zu finden; sie konnten ja auf ihren Dächern bleiben, und hier unten im Nebel würde der Alltag weitergehen. Selbstverständlich war dies alleine schon wegen des Nebels kein Alltag. Was stimmt nicht mit mir, dachte Elvis, als er es schließlich nicht einmal so weit brachte, die Situation um sich herum noch als bedrohlich wahrzunehmen.

Im anderen Block warteten etwas unruhig die Jugendlichen. Sie saßen beim Schein einiger weniger Kerzen gedrängt im Treppenhaus und tuschelten untereinander, ihre improvisierten Waffen hinten in eine Ecke gestellt. „Hey“, sagte einer, während der Soldat seinen Rucksack wieder mit Gewehren aus den Koffern befüllte, „hey, braucht ihr mehr Rucksäcke? Wir können welche holen?“

„Ja“, sagte der Soldat knapp.

Super Idee“, sagte ein anderer der Jugendlichen und klopfte seinem Kameraden auf die Schulter, als sich weitere bereits von den Treppenstufen aufrappelten. Elvis hockte sich unten auf einen Absatz, wo der Nebel dichter war. Es dauerte jedoch nur ein paar Minuten, bis ihre jungen Verbündeten genug Rucksäcke aufgetrieben hatten. Sie ließen zwei der Gefangenen zurück, die sich schweigsam ans Umpacken der Waffen machten.

Die Stille draußen war unerträglich geworden. Elvis klemmte die Daumen hinter die Tragegurte des Rucksacks und konnte es sich gerade noch verkneifen, das lästige Lied anzustimmen, das er damals mit den Beiden von der Festung auf dem Weg in die Stadt gesungen hatte; dann versuchte er, sich ein paar Haikus auszudenken, was leider auch zu nichts Gutem führte. Enge graue Welt / Weitsicht hier kaum angebracht / Taschen voll Waffen.

Sie schlichen eine unbestimmte Zeit durch den Nebel und erneut durch dunkle Räume und Korridore, ohne jemandem zu begegnen. Immer wieder hörten sie Stimmen und manchmal Schritte, doch die goldene Armee schien die unteren Geschosse nur sporadisch zu patrouillieren; und so nahm Elvis sich sogar die Zeit, in einem der vielen zu Lagern umgenutzten Räume ein paar Äpfel aus einem Sack in die Taschen seines Kampfanzugs zu stopfen. Wir sollten lieber diese Äpfel in die Blöcke tragen, dachte er, statt hier Waffen durch die Stadt zu schleppen, aber was weiß ich schon.

Auf der Terrasse vor dem Gebäude lag ein Körper. Elvis sah im Nebel erst nur eine Schulter und bemerkte dann, dass er bereits in eine Blutlache getreten war. Das war einer der Gefangenen, die Uniformjacke dunkelrot vollgesogen; ein massiver Bolzen steckte in seinem Brustkorb, als hätte ihn jemand am Boden festnageln wollen. Sie sind hier, dachte Elvis. Natürlich sind sie hier, wo sollten sie sonst sein. Nervös sah er sich um, aber da war nur der Soldat, der kurz den Kopf schüttelte. In seinem Visier spiegelte sich die glatte Scheibe von Elvis’ eigenem Helm, dahinter ein ebenso undeutliches Komposit beider Gesichter. Sie liefen in die Dunkelheit hinein und der ominösen, jetzt plötzlich dennoch beruhigenden Form des Blocks entgegen, aus dem der Gefangene vor vielleicht nur wenigen Minuten zu fliehen versucht hatte.

Elvis war lange Strecken gewohnt, aber ein Marathon mit fünfzehn Kilo Schusswaffen auf dem Rücken war etwas Anderes. Zu ihrem gemeinsamen Unglück waren auch die drei Gefangenen nicht mehr zu solchen Anstrengungen in der Lage, und der Soldat passte sein Tempo an; manchmal sah Elvis vor sich das Visier des Mannes glänzen, wenn sich dieser ungeduldig zu ihnen umdrehte. Irgendwann verdeckte der finstere Block vor ihnen, was im Nebel vom Himmel überhaupt sichtbar hätte sein können. Mit einem wiedergefundenen Rest von Energie überholte Elvis die anderen auf der Treppe und stellte seinen Rucksack in dem nächsten größeren Raum ab, in dem bereits eine Gruppe der Gefangenen versammelt war; danach setzte er sich wieder in das Treppenhaus, klappte das Visier hoch und aß einen Apfel. Er war sauer und etwas hart.

Nur wenig später tauchte der Soldat wieder auf. „Bleib erst mal hier“, sagte er zu Elvis, „jetzt finden wir den Weg schon.“

„Alles klar“, sagte Elvis und rückte zur Seite, als der Soldat und eine ganze Gruppe der Gefangenen an ihm vorbei die Treppe hinunterstiegen. Sollte ich ihnen Glück wünschen, dachte er, aber da waren sie bereits verschwunden. Er klappte das Visier wieder zu und schloss für eine Weile die Augen. Das bringt doch auch nichts, dachte er schließlich, wenn ich schon nichts mache, sollte ich wenigstens ein guter Zuschauer sein.

Die Gefangenen wachten langsam aus ihrer Lethargie auf; nicht, dass sie besonders aktiv waren, aber zumindest schienen sich ihrer selbst und einander bewusst zu sein, während sie zuvor einfach gewirkt hatten, als wären sie irgendwann unbemerkt aus der Fassadenbegrünung oder dem staubigen Mobiliar gestiegen und bis auf Weiteres an ihrem Ort verblieben. Überhaupt erkannte Elvis erst jetzt, dass auch diese Räume zuvor Wohnräume gewesen waren. Im Dunkeln waren an den Wänden noch die rechteckigen Formen irgendwelcher Bilder auszumachen; hier und da stapelten sich Möbelstücke und andere Dinge, die zuvor wohl dekorativ gewesen waren. Die goldene Armee hatte die größeren Räume zu Schlafsälen eingerichtet, indem sie sie einfach mit Betten und Sofas aus dem gesamten Block gefüllt hatte, und die Gefangenen waren zu gleichgültig gewesen, um sich wieder etwas Privatsphäre herzustellen. Vielleicht war es ihnen so auch lieber, dachte Elvis, militärischer.

Er schlich von Raum zu Raum, bis wenig später die zweite Gruppe mit Rucksäcken voller Waffen ankam. Elvis ging auf einen Balkon und lehnte sich in den Efeu. Ein paar der Gefangenen standen am Geländer und sahen zu, wie vom gegenüberliegenden Gebäude aus die Suchscheinwerfer über den Nebel irrten.

„Kannst du nochmal den Helm ausziehen?“, sagte eine der Gefangenen, nachdem sie eine Weile zu ihm hinübergesehen hatte. Elvis schob das Visier hoch.

Die Frau kniff die Augen zusammen. „Hatte ich mir doch gedacht“, sagte sie.

„Ja?“, sagte Elvis, der sich an das Gesicht, jedoch nicht an den Zusammenhang erinnern konnte.

„Ja“, sagte sie müde, „wir hatten dich abgeholt, am ersten Tag der Invasion.“

„Ach ja“, sagte Elvis. Wie alle hier war sie mager und im Licht der Monde besonders fahl, sie selbst ebenso wie ihre ausgewaschene, jetzt eine Nummer zu große Uniform.

„Du bist damals weggelaufen, in dem Feld“, sagte sie.

„Stimmt“, sagte Elvis. „Oh“, sagte er und griff in seine Tasche. „Willst du einen Apfel?“

„Danke“, sagte die Soldatin. Beim ersten Bissen verzog sie das Gesicht und ließ Elvis auch nicht weiter aus den Augen, während sie an dem Apfel kaute. Ihr Blick wirkte feindselig, aber nicht unbedingt nur ihm gegenüber. „Vielleicht schaffen wir es ja doch hier raus“, sagte sie.

⭐️⭐️⭐️

„Warum zünden sie den Puls nicht?“ Carinas Finger waren ganz gelb und braun von den Flechten, die sie nervös von der Mauer um das Dach kratzte.

„Vielleicht denken sie, dass sie noch ohne ihn gewinnen können“, sagte Mira.

„Sieht das nach ‚Gewinnen‘ aus?“, fragte Carina. Einige aus ihrem Platoon standen bereits in voller Montur auf dem Dach, und sie selbst hatte nicht einmal die Gelegenheit gefunden, sich aus dem Trainingsanzug umzuziehen, in dem sie sich abends in ihr Zelt gelegt hatte. Jemand hatte ihr zwischendurch eine Decke gebracht; beim Auf-und-ab-Gehen auf dem Dach war sie ihr ständig von den Schultern gerutscht, und so kalt war es auch wieder nicht.

Mira schüttelte den Kopf. Die Morgenröte schickte ihnen eine Bildübertragung, dank der sich tatsächlich die Lichtsignale ihrer Truppen entschlüsseln ließen, aber diese schienen sich einfach auf den Dächern verschanzt zu haben. Wer auch immer sie gerade angriff, hatte systematisch die Funktürme wie auch sonst alle wesentlichen Anlagen in den Basen zerschossen. Carina hatte selbst durch das Fernglas zugesehen, wie ein Strahl eines der Flugzeuge vom Himmel holte. Jetzt flog über der Stadt nichts mehr.

Die Geschütze, die das alles anrichteten, mussten irgendwo in der Landschaft verteilt sein. Auf der Übertragung von der Morgenröte tauchten sie als flüchtige Punkte auf, aber von hier aus konnten sie dagegen wenig ausrichten und die gegnerische Armee hatte wiederum nicht die ganze Stadt in Nebel versinken lassen, um sie nur aus der Ferne anzugreifen.

„Dann schicken wir ihnen eben einen Puls“, sagte Carina.

⭐️⭐️⭐️⭐

„Los geht’s“, sagte die Soldatin und hielt Elvis eine Pistole hin. Elvis wies das Ding mit beiden Händen von sich, und die Soldatin zuckte mit den Schultern und warf die Waffe einem der anderen Gefangenen zu. Sie waren die letzte, größte Gruppe, die sich auf den Weg machte; die Kommandos hatten die Umgebung genug ausgekundschaftet, um ihnen schließlich die Koffer mit den Waffen entgegenzutragen, aber das war nicht alles: Mittlerweile waren die Drohnen der Garde da, unförmige, nicht einmal einen halben Meter große Maschinen, die fast geräuschlos durch den Nebel schwebten und ferngesteuert alles aufspürten, das ihnen gefährlich werden konnte. Elvis hatte auf dem Weg die Umrisse von vielleicht zwei oder drei von ihnen gesehen; sie stolperten jedoch mehrfach über leblose Körper in goldenen Rüstungen, vielleicht erst vor einem Augenblick durch eine Drohne niedergeschossen, nachdem sie in den Nebel hinabgestiegen waren, um hier irgendwelche verdächtigen Bewegungen zu überprüfen.

Anstatt zu dem Block zurückzukehren, unter dem der Cassius geparkt war, würden auch sie jetzt zu dem Treffpunkt auf der anderen Seite des Camps vorrücken, wo bereits die restlichen Gefangenen und weitere Kommandos aus der Bergfestung warteten. Danach — zumindest hatte Elvis das so aus den Gesprächen der Kommandos verstanden — sollten sie sich in die Wälder und Täler zurückziehen, um in den nächsten Nächten weitere Angriffe auf die Truppen der Morgenröte hier oder gar in den beiden anderen Städten der Region zu unternehmen. Mit diesem Angriff hatten sie die Invasionsarmee genug geschwächt, um die Situation vielleicht wieder zu ihren Gunsten zu wenden. Elvis konnte sich das alles nicht vorstellen. Muss ich auch nicht, dachte er, ich muss nur hier raus, weg von den Waffen und Drohnen und Leichen.

Auf der anderen Seite des Platzes war das Grau des Nebels einem dubios pulsierenden, blassen Gelb gewichen, vor dem sich schemenhaft die Zelte des Camps abzeichneten. Jemand hustete. „Ozon“, sagte die Soldatin leiste, „da sind Plasmazellen ausgelaufen, bleibt weg von dem Licht.“ Elvis roch nichts und war zum ersten Mal froh über seinen Helm. Sie schlichen zwischen den Zelten hindurch, bis im Nebel die Umrisse der Gebäude zu erahnen waren.

Die Soldatin blieb stehen. „Geht weiter“, sagte sie, „ich muss was nachschauen.“

„Was“, sagte Elvis.

„Komm besser mit“, sagte sie, und Elvis war nicht ganz sicher, ob es als Warnung gemeint war, oder eher aus Sorge oder Nervosität. Er folgte ihr zu einem Zelteingang. Die Soldatin hielt mit beiden Händen ihren Revolver vor sich. Sie nickte Elvis kurz zu und deutete mit der Mündung zum Eingang. Dann nickte sie etwas heftiger und deutete etwas energischer, bis Elvis schließlich die Plane wegzog. Die Soldatin machte einen Schritt in das Zelt hinein. Elvis zählte bis fünf, bis er ihr folgte.

„Was ist das hier?“, sagte er. Im Zelt war niemand. In großen Röhren glühte eine zähe Flüssigkeit, mal grünlich, mal bläulich und im Nebel kaum in der Lage, den Raum auszuleuchten; hier und da flackerten irgendwelche Lämpchen und Displays, offenbar trotz des Angriffs noch mit Strom versorgt.

„Das Hauptquartier“, sagte sie. „Kannst du deine Lampe anschalten, am Helm? Von oben können sie uns jetzt nicht sehen.“ Sie knipste die kleine Taschenlampe an, die an ihrem Revolver befestigt war.

„Wusstest du das? Dass das hier ist?“, fragte Elvis, während er wieder nach dem Knopf am Helm suchte.

„Ich bin vom Nachrichtendienst. Schon vergessen?“ Sie begann, die Tische und Regale abzusuchen. „Nimm einfach alles mit, was nach Daten aussieht und … nicht zu groß ist.“

Die Displays zeigten alle nur Fehlermeldungen, sofern Elvis ihre Interfaces überhaupt entschlüsseln konnte. Auf einem Tisch fand er eine Karte der Stadt, faltete sie zusammen und steckte sie in die Jackentasche. Dann fand er auf einem anderen Tisch eine Karte der ganzen Region, aber noch beim Zusammenfalten blieb sein Blick auf einem großen Ding hängen, das weiter hinten im Raum in den Lichtkegel seiner Helmlampe geraten war.

„Was ist das?“, fragte die Soldatin, die es jetzt auch bemerkt hatte.

„Ich weiß nicht“, sagte Elvis. „Ich glaube, ich habe es schon mal gesehen?“ Nur wo, dachte er, bis ihm wieder die Prozession der goldenen Armee einfiel, die er am ersten Tag beobachtet hatte; das war die Tonne, die die Leute von der Morgenröte mit sich getragen hatten, oder zumindest ein weiteres Exemplar davon, wozu auch immer es gut sein mochte. Sie näherten sich vorsichtig. Hier war das Ding auf einem hölzernen Ständer montiert, und tatsächlich ragten oben zwei Ringe heraus, durch die eine Stange zum Tragen geschoben werden konnte. Viel mehr war da ansonsten nicht; in die glatte metallene Oberfläche waren vorne ein paar Bedienelemente eingelassen, und daneben ein Ornament oder Symbol aus drei einfachen Schlangenlinien eingraviert.

„Oh nein“, sagte Elvis. „Das Virus. Da ist dieses Virus drin.“

Die Soldatin ließ den Revolver sinken, dessen Lampe sie gerade noch auf die Tonne gerichtet hatte.

Das nehmen wir besser nicht mit“, sagte sie.

Elvis blieb bei der Tonne stehen, während die Soldatin die letzten Ecken durchsuchte. „Du hast wieder Virus gesagt“, sagte sie. „Das hast du auch gesagt, als wir damals … unterwegs waren.“

„Ja“, sagte Elvis und ging zurück zu dem Tisch, um die Karte fertig zusammenzufalten. Sie war auf den ersten Blick nicht schlecht, und er faltete sie kurz wieder auf, um seine Kabine auf dem Berg vor der Stadt zu suchen. Die Kabine war nicht eingezeichnet; stattdessen waren Pfeile und Winkel in der Landschaft verstreut, die vermutlich Aussichtspunkte oder andere strategische Angelegenheiten markierten, und Dutzende kleiner roter Symbole, die ein Muster aus konzentrischen Kreisen zu bilden schienen. „Es ist ja nicht nur ein Puls“, sagte er, „es verbreitet sich weiter, es … löst etwas aus?“

Er beugte sich zu der Karte hinab. Die roten Symbole waren mit einem sehr feinen Stift eingezeichnet. Was erst wie eine Schraffur ausgesehen hatte, waren aus der Nähe betrachtet drei kleine Schlangenlinien.

Irgendwo in der Stadt ertönte ein tiefer Glockenton, und ein paar Sekunden später schwappte eine Welle von Licht durch das Zelt. Elvis sah, wie die ersten der Geräte und Displays auf den Tischen dunkel wurden, bis mit einem kurzen Knacken auch die Lampe an seinem Helm erlosch. Für einen Moment glühte eines der Bedienelemente an der Tonne auf, bevor sich um sie herum eine weitere Lichtwolke aufblähte und kurz das ganze Zelt zu füllen schien; dann war sie bereits weit über es hinausgewachsen. Ein paar flirrende Partikel umtanzten die Apparate auf den Tischen, bis bald darauf nur noch der sanfte Schein der fluoreszierenden Röhren das Zelt füllte.

„Natürlich“, sagte Elvis.

„Kettenreaktion“

Lorna Whitebird schloss kurz die Augen, als die Lichtwelle sie umspülte, und versuchte ein Gefühl dafür zu bekommen, ob da mehr war als nur Licht; etwas, das immerhin ganze Maschinen lahmlegte und jetzt auch durch ihren Körper strömte. Als sie die Augen öffnete, kam ihnen bereits die zweite Welle entgegen, und jetzt fühlte Whitebird zumindest, dass sie von dem Ganzen etwas überwältigt war. Sie griff instinktiv nach Sergeant Benedicts Ärmel.

„Ooooh“, sagte Benedict, während sich in einem langsamen Rhythmus immer neue Schwaden über der Stadt ausbreiteten. Whitebird zählte nicht mit, aber es vergingen wohl ein paar Minuten, bis am Himmel die letzten Lichtpartikel erloschen; die Detonationen mussten weit über die Stadt hinaus gereicht haben. „Jetzt haben sie uns erwischt“, sagte Benedict leise.

Whitebird nickte. Die Pulswaffe schien auf sie selbst keine Auswirkungen zu haben, selbst als Himmelserscheinung war es jedoch nicht ohne. Und diesmal ist es deren Feuerwerk, dachte sie.

„Wir müssen los“, sagte Benedict.

⭐️

Die Soldatin hatte erst mit einem kurzen Wutschrei die Arme hochgeworfen, aber mittlerweile schien sie sich wieder gefasst zu haben. „Verschwinden wir“, sagte sie.

Elvis faltete die Karte zusammen. „Was hast du da?“, fragte die Soldatin.

Elvis faltete die Karte wieder auseinander. „Da“, sagte er und deutete auf die roten Symbole. „Sie haben sie überall verteilt, diese Tonnen.“ Er drückte mehrmals auf den Knopf an seinem Helm, und da die Garde die Kampfanzüge notdürftig mit der Technologie von seinem Planeten ausgestattet hatte, ging die Lampe tatsächlich wieder an, wie eben Dinge auf seinem Planeten meistens wieder angingen, wenn man oft genug auf einen Knopf drückte.

Die Soldatin verfolgte mit einem Finger das Muster bis zum äußersten Kreis. „Die ganze Umgebung“, sagte sie. „Bis in die Felder hinein. Lass uns gehen.“

„Deine Lampe“, sagte Elvis und deutete auf ihren Revolver, „die müsste auch wieder gehen. Einfach ein paar Mal drücken.“

Die Soldatin drückte, bis das Licht anging. Sie schüttelte den Kopf und schaltete die Lampe wieder aus. „Ich bin mir immer noch nicht sicher, ob du nicht doch etwas mit dieser Invasion zu tun hast“, sagte sie. Auch Elvis war sich nicht mehr sicher.

Draußen war es dunkler und stiller geworden. Nicht weit von der Stelle, wo sich die Straße zwischen den zwei Blöcken vor ihnen wie eine Schlucht zu öffnen schien, trafen sie auf eine ganze Gruppe der Gefangenen, ein Dutzend oder mehr Schemen im Nebel. „Warum sind sie noch hier“, fluchte die Soldatin leise.

„Ihr auch?“, rief ihnen ein Mann entgegen. „Wir holen sie uns, auf dem Dach.“

„Auf gar keinen Fall“, sagte Elvis.

„Wir ziehen uns zurück, wie geplant“, sagte die Soldatin.

„Sie haben jetzt Angst“, sagte der Mann und schien seinen eigenen Worten kaum hinterherzukommen, als hätten sie sich in der Gefangenschaft aufgestaut und brächen jetzt ins Freie. „Sie brauchen ihre … Strahlen, um gegen uns zu kämpfen. Und wozu sind wir hier? Das ist der Moment. Unser Moment.“

„Wir sind hier, weil wir gefangen genommen wurden“, sagte die Soldatin bitter.

Die Schemen im Nebel waren bereits verschwunden, bevor sie zu Ende gesprochen hatte. „Schnell“, sagte sie, „weg von hier.“

Elvis folgte ihr in die Straße zwischen den Blöcken. Mittlerweile rannten sie, und er achtete nicht mehr darauf, ob es ein gepanzerter Körper, Schrott oder eine durch den Puls ausgeschaltete Drohne war, über die er hinweg stolperte. Sie waren noch nicht ganz auf der anderen Seite angekommen, als über ihnen die ersten Schüsse zu hören waren: das Knallen der Gewehre der Garde und dazwischen kaltes Zischen wie ein schneidender Windstoß; einzelne Schreie und Befehle. Dann wurde es still.

„Gute Güte“, sagte die Soldatin. „Nicht stehenbleiben“, hörte Elvis sie rufen, als sie vor ihm den Nebel lief, doch die plötzliche Stille nach den Schüssen hatte etwas Lähmendes. Elvis schaute nach oben und sah nicht viel mehr als Dunst und dahinter die dunklen Formen der Gebäude. Nicht stehenbleiben, dachte er, aber kaum hatte er einen Schritt gemacht, als mit einem Schlag etwas unweit auf dem Boden ankam und den Nebel aufwirbelte; und dann ein weiteres Ding und noch mehr, bis zumindest für einen Augenblick der Nebel ganz vertrieben schien. Elvis taumelte zurück, ob nun ebenso durch den Luftstoß oder einfach vor Schrecken, während sich keine zehn Meter vor ihm eine große Gestalt aufrichtete. Im schwachen Schein des Mondlichts und der brennenden Trümmer im Camp zeichneten sich die Ornamente der goldenen Rüstung ab, und als sich der Krieger ihm zuwandte, kamen Elvis die ausdruckslosen Helme der Garde beinahe menschlicher vor als die stilisierte Höllenfratze auf dieser Maske.

Ein tiefes Schwindelgefühl überkam ihn. Jetzt, wo selbst das Grau des Nebels ihn nicht mehr weich umschloss, schien ihm jeglicher Halt zu fehlen. So müde, dachte er. Der Krieger stand zwischen ihm und dem Park, der sich vielleicht zwanzig Meter weiter hinter den Blöcken öffnete; und er war nicht der einzige. Hier auf der Straße war mindestens ein Dutzend weiterer gepanzerter Figuren gelandet, und auch am Rand des Parks richteten sich mehrere vom Boden auf, während der Nebel langsam wieder um ihre Beine kroch. Sie gehört ihnen doch, dachte Elvis, die gesamte Stadt. Sie konnten genauso gut die ganze Zeit hier gewesen sein, im Nebel.

Der nächste Hauseingang war viel zu weit weg. Elvis ließ die Arme sinken. Sehen sie, dass ich nicht bewaffnet bin?, dachte er. Dann fielen die ersten Schüsse, denn außer ihm waren alle anderen hier selbstverständlich bewaffnet. Jemand von der goldenen Armee strauchelte und fiel auf die Knie. Elvis schaute kurz über seine Schulter und sah, wie sich einige der Gefangenen zwischen den Ruinen des Camps verschanzten; denn jetzt waren auch die zerstörten Zelte und Wracks in ihrer Gänze zu sehen, eine Kriegslandschaft, die Elvis weder in den Anfangstagen der Invasion noch sonst jemals zu Gesicht bekommen hatte. Der goldene Krieger riss sein Gewehr hoch. Elvis atmete so tief aus, dass das Visier seines Helms von innen beschlug und es immerhin wieder etwas neblig wurde, aber der Soldat meinte gar nicht ihn. Bolzen zischten durch die Luft, und im Camp wurde einer der Gefangenen zu Boden gerissen. Der Soldat setzte sich stoisch in Bewegung, obwohl Projektile um ihn herum einschlugen und selbst von seiner Rüstung abzuprallen schienen; er wirkte jetzt noch größer, und zu seinem Grauen sah Elvis, dass ein kleiner Krater im Asphalt klaffte, wo der Krieger vorhin aufgekommen war.

Als würde selbst sie ein Uhrwerk antreiben, rückten die Leute von der Morgenröte vor; sogar der Soldat, der zuvor angeschossen worden war, hatte sich wieder aufgerichtet und marschierte kurz darauf wie die anderen mit Gewehr im Anschlag die Straße hinauf, obgleich Elvis sicher war, an der Seite seiner Rüstung dunkel Blut hinablaufen zu sehen. Bald kamen keine weiteren Schüsse aus dem Camp. Einer der Krieger nahm seinen Helm ab und machte irgendeine taktisch bedeutsame Geste, während die anderen weiter vorrückten oder neben den Gebäuden in Stellung gingen. Vor kaum einer Minute hatte Gewehrfeuer durch die Straßenschlucht gehallt, doch jetzt wirkte es, als würde der Offizier eine Parade durch die Stadt dirigieren. Die goldene Armee hatte Elvis tatsächlich ignoriert, aber jetzt verstand er, dass sie ihn nicht nur für harmlos befunden, sondern einfach zu einem Zuschauer für ihr Spektakel bestimmt hatten.

Er nutzte die nächste Gelegenheit, um sich aus dieser Rolle zwischen ein paar Sträucher auf einer Terrasse zurückzuziehen. Nicht für euch, dachte er, als er an den Fassaden entlang dem Park entgegen schlich, ich bin nicht für euch hier. Sucht euch jemanden anderen. Nein, dachte er, hoffentlich findet ihr niemanden. Euer Spiel braucht niemand zu sehen. Er war gerade an der Ecke des Blocks angekommen und bereit, wieder in das beruhigende Nichts des Nebels einzutauchen, als er sich dennoch kurz umdrehte und kaum einen Meter entfernt von sich den Offizier der goldenen Truppen stehen sah.

„Und wer bist du“, fragte der Mann auf eine hochmütige und zugleich ehrlich neugierige Weise, die Elvis augenblicklich in Schockstarre versetzte, „eigentlich?“

Eigentlich, dachte Elvis, der gerade zu nicht viel mehr in der Lage war, als einzelne Details dieser Situation zu verarbeiten. Der Krieger war sehr groß und sehr jung. Er ließ sein Gewehr an dem Gurt um seine Schultern baumeln und fuhr sich mit einer Hand durch die hellen Haare, als wäre das hier allen Ernstes ein Gespräch. Seine Rüstung zerfloss in sanft geschwungene Linien, die ein paar Millimeter in das polierte Metall eingraviert waren. SOL INVICTUS, sagten gedrungene Lettern oben an seinem Brustpanzer. Hier war nirgendwo eine Sonne, aber Elvis war durchaus überzeugt, dass der Soldat vor ihm unbesiegt bleiben würde.

Der Soldat zog die Augenbrauen hoch und die Lippen ein. Offenbar wartete er immer noch auf eine Antwort. Elvis hatte keine. Der Soldat schob sein Gewehr hinter den Rücken und zog ein Messer. Elvis hatte das Gefühl, dass dieses Messer heute schon zum Einsatz gekommen war, und sah erst dann, dass die Armschiene des Soldaten tatsächlich mit Blutspritzern bedeckt war.

Ist er das, dachte er, als ihm das ungleiche Duell und der sterbende Gardesoldat wieder in den Sinn kamen, an dem Tag, als er zum ersten Mal aus dieser Stadt geflohen war. Das ist er. Aber vielleicht sehen sie alle genauso aus, wenn sie einen niederstechen wollen. Der Soldat schüttelte enttäuscht oder hämisch den Kopf und holte mit seinem Messer aus. Endlich konnte sich Elvis aus der Starre lösen, stolperte jedoch nur nach hinten und verlor das Gleichgewicht.

„Hey“, rief jemand. Der Soldat wandte sich schnell der Richtung zu, aus der die Stimme kam. Dann knallte es, und hinter seinem Kopf verteilte sich viel zu viel irgendeiner Masse in der Luft, bevor er zu Boden fiel und dort reglos liegen blieb.

Doch nicht unbesiegbar, ohne die Sonne, dachte Elvis unsinnigerweise. Die Straße hinab deutete jemand in seine Richtung, und sofort fühlte er, wie ihn aus der Ferne Augenpaare hinter goldenen Masken am Boden fixierten wie der Bolzen den glücklosen Gefangenen auf der Terrasse. Aus dem Grau des Parks löste sich eine Gestalt. „Mensch, steh auf“, rief sie ihm entgegen, wobei der Tonfall nicht gerade Dringlichkeit vermittelte. Das war eine Stimme, die Elvis nach vielen Stunden von Marschgesängen und immerhin einigen Stunden betrunkener Runden sofort erkannte, ohne mehr als die hünenhafte Statur sehen zu müssen. Der Gardist warf ein faustgroßes Ding auf die Straße, das ein paar mal über den Asphalt hüpfte und bereits Rauch auszustoßen begann, bevor es liegenblieb. Durch die Schwaden hindurch sah Elvis die goldenen Truppen vorrücken, doch plötzlich war wieder überall Gewehrfeuer. Ein Krieger fiel einfach vornüber auf den Asphalt, während die anderen Deckung suchten; offenbar waren es jetzt die Leute von der Garde, die die Straßen von einem Hausdach unter Beschuss nahmen.

Elvis versuchte aufzustehen, aber in seinen Beinen schienen keine Muskeln und vielleicht nicht einmal mehr Knochen zu sein. Wie in einem schlechten Traum, dachte er und sank noch weiter zusammen, nur würde ich in einem Traum als Nächstes merken, dass ich zum Glück Fliegen kann. Der große Soldat beugte sich über ihn.

„Ach, du bist das“, sagte er, nachdem er kurz in Elvis’ Helmvisier gestarrt hatte. „Alles klar, Alter?“ Er half Elvis auf, während der Nebel sie langsam wieder umschloss.

„Ja“, sagte Elvis, „ich …“; viel mehr konnte er gerade nicht herausbringen.

„So ein Idiot“, sagte der Soldat mit einem Blick auf die Leiche neben ihnen. „Was nimmt er auch seinen Helm ab.“ Er klopfte mit beiden Händen Elvis’ Schultern ab. „Was ist hier passiert?“

„Sie sind vom Dach gekommen“, sagte Elvis.

„Vom Dach? Haben sie sich abgeseilt?“ Der Soldat nickte anerkennend. „Nicht dumm.“

Elvis sagte lieber nichts mehr.

⭐️⭐️

Eran Debro fand, dass sie mittlerweile genug gesehen hatten. Er war kurz davor gewesen, die Geduld mit den Truppen auf ihren Dächern zu verlieren, aber jetzt waren sie wieder in den Straßen und kämpften. Ob sie gewannen, war eine andere Sache — das Potenzial dazu war da, und das Potenzial war, dachte Debro, am wichtigsten. Auf der Brücke waren alle still geworden, als sich unten der Puls ausbreitete; zuerst die Explosion einer einzelnen Granate, wohl aus der Ferne auf die Stadt abgeschossen, dann eine weitere, als dieser erste Puls einen der Container zündete, bis in einer Kettenreaktion Wolke um Wolke in der Nacht aufblühte. Nicht ganz symmetrisch, nachdem die Granate etwas abseits des Stadtzentrums eingeschlagen war, deswegen — wie zumindest Debro befand — jedoch sogar interessanter.

„Ein Glas guten Schnaps, das hätte dazu gepasst“, hatte Basil Matei gesagt, als die letzten Lichtschwaden auf der Projektion erloschen, und damit dem Schweigen auf der Brücke ein Ende gesetzt. Selbst Debro, der sich nie viel aus Alkohol gemacht hatte, musste lächeln. Mateis beiläufige Art schien ihm nicht ganz damit vereinbar, dass dieser alte Mann sich irgendwann bewusst entleibt hatte, um Jahrzehnte und Lichtjahre entfernt später vielleicht für ein paar neue Schlachten rekonstruiert zu werden; aber möglicherweise schien es ihm nur unvereinbar, weil er weder das eine noch das andere verstand.

Auf den Kamerabildern bewegten sich winzig die Truppen, oft nicht mehr als Flecken, vom Computer im Nebel hervorgehoben. Debro fühlte sich versucht, ihre taktischen Entscheidungen zu korrigieren, doch das war jetzt nicht seine Angelegenheit. Während der Puls alle Elektronik in der Stadt lahmgelegt haben musste, blieben die gegnerischen Drohnen weit in die Felder hinein verteilt. Sie bewegten sich in Raumverhältnissen, die für die Truppen am Boden kaum fassbar sein würden; die Maschinen konnten bereits hunderte Meter zurückgelegt haben, wenn ihre Geschosse erst ihr Ziel erreichten. Das waren Dimensionen, mit denen sich viel eher der Bordcomputer und die Geschützbatterien der Morgenröte auseinandersetzen konnten.

„Wir sollten ihnen etwas unter die Arme greifen“, sagte Debro.

„Sehr gut“, sagte Matei. „Computer, mögliche Ziele in der Peripherie erfassen.“

Auch der Computer musste schon gewartet haben, da die Ziele bereits auf der Projektion eingezeichnet wurden, noch bevor Matei fertig gesprochen hatte.

⭐️⭐️⭐️

Für kurze Zeit hatten sie auf der Bergfestung in die Stadt sehen können, zuerst durch die Kameras der Artillerie im Gelände und dann sogar durch diejenigen der kleinen Drohnen auf den Straßen und Plätzen. Das waren keine guten Bilder gewesen, fand Zenon Appiah, Bilder, die nur dafür entstanden, etwas oder jemanden als ein Ziel zu erkennen, woraufhin dieses Ziel gesprengt oder niedergeschossen wurde und im selben Augenblick nicht weiter interessant war. Appiah hatte das Gefühl gehabt, etwas unangenehm Privatem beizuwohnen, dem sehr ungleichen Verhältnis zwischen der zielsuchenden Maschine und ihren unwillentlichen und unwissenden Objekten. Mehrfach hatten sie Truppen von der Morgenröte ins Bild laufen sehen, im taktischen Rauch nur undeutliche, aber an ihren Rüstungen dennoch sofort erkennbare Schemen, die bereits verloren wirkten, bevor die Drohnen mit einem Plasmastrahl eines ihrer lebenswichtigen Organe verbrannten.

Immerhin lag die Entscheidung bei den Menschen, die irgendwo in der Dunkelheit der Felder die Drohnen steuerten, doch Appiah war lange genug Kapitän gewesen; er kannte Maschinen und wie sie Situationen einfädelten, in denen es eben nur die eine Entscheidung gab. Er zwang sich dazu, weiterhin zu den Projektionen hinaufzuschauen, obwohl nicht einmal das vorgesehen war: Niemand sonst brauchte diese Bilder zu betrachten, damit der Kriegsapparat funktionierte. Neben ihm stand Park Thaeer und starrte durch die Projektionen hindurch. Vielleicht war auch er davon angewidert, oder vielleicht brauchte er die Details gar nicht aufzunehmen, weil er den ganzen Kriegsapparat selbst dahinter sah. Weil er der Kriegsapparat war, dachte Appiah, nachdem Thaeer in den letzten Stunden sogar das immerwährende Lächeln abgelegt hatte. Appiah hatte überlegt, ihm einen Witz zu erzählen, aber ihm fiel keiner ein. Dann spülten Wellen aus Licht durch die Stadt, und wenige Minuten später waren alle der Drohnen und selbst einiges der Artillerie draußen in den Hügeln ausgefallen.

„Nun gut“, sagte Appiah zu Yato, als das Signal der letzten Drohne verstummte, und ging in die Küche Wasser aufsetzen. Mit diesem Abschnitt des Krieges wusste er nichts anzufangen. Es war wie ein Fieber: Der Nebel, die Drohnen, die umherirrenden Hünen in ihren goldenen Rüstungen; eine deliriöse Situation, erstaunlicherweise veranlasst, um etwas zu retten. Dann war der Puls gekommen, und mit ihm vielleicht nur ein anderes Delirium.

Appiah fasste sich instinktiv an die Stirn, um nach seiner Temperatur zu fühlen, während er in den Schränken nach einem möglichst starken Kräutertee suchte. Die Küche war eine halbe Baustelle; wie überall auf der Bergfestung wurden die elektrischen Anlagen so weit wie möglich mit der Technologie ersetzt, die der wunderliche Reisende von seinem fernen Planeten mitgebracht hatte, oder gleich auf simple Mechaniken reduziert. Appiah störte dies nicht allzu sehr, abgesehen davon, dass der Puls unweigerlich die Musikbibliothek in seinem Implantat löschen würde und die Labore auf der Bergfestung bislang daran scheiterten, komplexere Computerfunktionen mit der neuen Technologie nachzubauen. Er hatte begonnen, auf den Fluren routiniert etwas zu summen oder beispielsweise unter der Dusche gleich lautstark eine Arie anzustimmen, um einige der ihm wichtigeren Stücke im kulturellen Gedächtnis der Festung zu verankern. Das Interesse schien jedoch gering und er vielleicht nicht der beste Interpret.

Auf dem Weg zurück kam ihm Yato entgegen. Yato sagte nichts und drängte Appiah nur wieder in den Besprechungsraum, aber Appiah brauchte keine weitere Erklärung für das, was auf den Projektionen zu sehen war.

⭐️⭐️⭐️⭐

Massive blaue Lichtpfeiler bohrten sich fast senkrecht in die Felder, als hätten die Himmel einen Käfig über die Stadt hinabgelassen. Jetzt haben sie uns eingesperrt, dachte Lorna Whitebird fast ungläubig, obwohl sie natürlich wusste, dass der Beschuss nicht ihnen in der Stadt galt, sondern der Artillerie draußen. Sie meinte zu spüren und zu hören, wie die Energiestrahlen der Morgenröte viele Kilometer entfernt durch die Landschaft pflügten, aber vielleicht war es nur ihr eigener Kreislauf, der ihr das Blut in den Ohren pochen ließ. Whitebird erinnerte sich flüchtig an eine Lektüre aus ihrer Ausbildung, in der über die möglichen Folgen von Orbitalangriffen spekuliert wurde, über die schlagartige Veränderung in der Atmosphäre, über Wetterumschwünge, wenn glühend heiße Strahlen durch die Luft schnitten und alles am Boden viele Meter tief zu Schlacke verschmolzen. Es war also nicht ausgeschlossen, dass ihr Kreislauf ebenso auf das Spektakel reagierte wie auf eine giftig gewordene Welt. Als sie nervös Luft holte, roch es zumindest noch nach Stadt und süßlich nach dem taktischen Rauch, der weiterhin die Straßen und Plätze füllte.

⭐️⭐️⭐️⭐⭐️

Waren wir zu langsam, dachte Carina, während die Lichtfinger der Morgenröte in der Ferne den Planeten abtasteten. Unseren Planeten. Sie nahm Mira das Fernglas ab, das ihre Kameradin gerade hatte sinken lassen. „Was hätten wir tun sollen?“, fragte sie.

„Was hätten wir tun können?“, fragte Mira zurück und nahm das Fernglas wieder entgegen, nachdem Carina kaum eine Sekunde in das Inferno am Horizont hatte schauen können.

Carina versuchte die Nachbilder der blauen Strahlen wegzublinzeln. Mira hatte selbstverständlich recht; sie waren nicht am Zug gewesen. „Wir sollten uns bereitmachen“, sagte sie.

„Ja“, sagte Mira, und jetzt ging Carina sich endlich aus ihrem Trainingsanzug umziehen. Als sie wieder auf das Dach kam, waren die Strahlen am Himmel verschwunden. Mira reichte ihr diesmal gleich das Fernglas herüber.

Der Angriff musste die Felder um die Stadt herum in Brand gesetzt haben, und Carina hatte zuerst Schwierigkeiten, in dem ganzen Qualm die Gebäude zu erkennen; als wollten sie sie ausradieren, dachte sie, mit dem ganzen Qualm, von innen und von außen. So weit kommt es noch, dachte sie dann trotzig. Ich lasse mir unsere Städte nicht wegnehmen, von keinem Qualm und keinem Feuer und keiner Artillerie, egal, wem sie gehört. Ich lasse mir meinen Sieg nicht wegnehmen. Oder meinetwegen meine Niederlage.

„Wir müssen los“, sagte sie. Sie stiegen gerade vom Dach hinab, als über ihren Köpfen die riesigen Formen zweier Truppentransporter vorbeizogen. Carina verfehlte beinahe eine Leitersprosse und fluchte.

„Alles okay?“, fragte Mira über ihr, doch Carina hatte zunehmend das Gefühl, dass alles nicht okay war. Im Treppenhaus erwartete sie an jeder Ecke, dass ihr Palmer oder irgendwer aus ihrem Platoon endlich mit Neuigkeiten, mit einem Befehl vom Major entgegenkam, aber das Treppenhaus blieb leer. Auch unten im Camp schenkte ihnen niemand Aufmerksamkeit, und selbst im Kommandozelt dauerte es einen Augenblick, bis der Major aufschaute.

„Rücken wir aus?“, fragte Carina etwas atemlos.

„Wir rücken aus“, sagte der Major, als hätte Carina bei einem Buffet gefragt, ob es hier auch etwas zu essen gäbe.

„Unser Platoon?“, fragte Carina.

„Euer Platoon sichert die Lage hier“, sagte der Major. „Nachdem ihr nachweislich die meisten Erfahrungen mit der lokalen Bevölkerung habt, nicht wahr.“

Das stimmt, dachte Carina, ob das nun ein Lob oder eine Problembeschreibung sein mochte.

⭐️⭐️⭐️⭐⭐️⭐️

Die Kommandos und die befreiten Gefangenen hatten schnell wieder in ihre militärischen Routinen gefunden und Elvis — dem die dazugehörige Sprache auch nach der Zeit auf der Bergfestung fremd geblieben war — gewissermaßen organisch abgesondert. Selbstverständlich hätte er sich einer der Gruppen anschließen können, die sich jetzt irgendwo in der Stadt oder der Umgebung verschanzten, aber es kam ihm einfach nicht vor wie etwas, das er machte, und jetzt stand er wieder auf einem Balkon, während im Treppenhaus hinter ihm die Kommandos in den Nebel verschwanden. Der große Soldat hatte ihn zu diesem Block und in eines der Obergeschosse geführt; weitere, diesmal von den Kommandos selbst zur provisorischen Kaserne umfunktionierte Räume, in denen Leute still ihre Ausrüstung überprüften oder nur mit Nicken und Fingerbewegungen irgendwas über den handgezeichneten Karten in ihren Notizbüchern beratschlagten. Elvis war beruhigt, zwischen den Gefangenen wieder die Frau vom Sicherheitsdienst zu sehen, und im Halbdunkel meinte er kurz bei dem großen Gardisten dessen Kameradin zu erkennen, mit der sie Elvis’ Gleiter geholt hatten; doch sie alle schienen bereits so in ihren Vorgängen aufzugehen, dass er Sorge hatte, die gesamte Ordnung in diesen Räumen selbst durch ein kurzes Hallo einstürzen zu lassen.

Der Himmel hinter den Blöcken schimmerte in einem unguten Orange. Elvis hatte kurz überlegt, einfach wieder zurück in die Kabine auf den Berg zu gehen, aber wahrscheinlich waren die Kabine und der Berg jetzt nicht mehr da. „Worauf wartest du?“, sagte irgendjemand aus dem Treppenhaus. Elvis drehte sich um und sah nur wieder in eines der üblichen Visiere.

„Ja“, sagte er, worauf warte ich eigentlich, und folgte dem Soldaten die Treppe hinab.

Was den Nebel anging, schien das Nachtsichtprogramm in seinem Implantat mittlerweile dazugelernt zu haben. Es konnte jetzt zumindest Lichtquellen im Raum verorten und versuchte sogar, ihnen ein passendes Volumen zuzuweisen; insgesamt war das wenig hilfreich, denn nun hingen kuriose Lichtklumpen in dem endlosen Grau, als würde Elvis sich zwischen den Himmelskörpern eines ausgewaschenen Universums bewegen. Wenn ich wenigstens betrunken wäre, dachte er und schaltete die Nachtsichtfunktion einfach aus.

Einer nach dem anderen verschwanden die Schatten der Kommandos und Gefangenen, um sich taktisch im Gelände zu verteilen. Elvis war nicht einmal ganz unangenehm, den Nebel wieder für sich alleine zu haben. Ich weiß ja die Richtung, dachte er. Der rötliche Schein, den er vom Balkon aus gesehen hatte, zeichnete schwächlich die Silhouetten der Blöcke nach. Zwischen ihnen konnte er bereits die Straßenschlucht erkennen, die aus der Stadt herausführen musste, eine graubraune Kerbe zwischen den dunkleren Formen der Gebäude. Noch wusste er nicht, was ihn auf der anderen Seite erwartete, aber selbst diese Ungewissheit war ihm lieber als die goldene Armee mit ihren Messern und Bolzengewehren. Zweimal werde ich kein Glück haben, dachte er. Was heißt zweimal, unglaublich, dass ich überhaupt einen Tag des Ganzen überlebt habe. Und welcher Tag war das dann, dieser erste, den ich eigentlich nicht hätte überleben können? Hätte uns damals das Portal einfach geschluckt, wäre ich vielleicht irgendwann zu Hause rekonstruiert worden und hätte in meinem weiteren Leben nicht einmal herausgefunden, dass dieser Planet hier existiert.

Ein ominöses Geräusch riss ihn aus diesen Gedanken; ein tiefes Dröhnen, das aus mehreren Richtungen die Luft zu erfüllen schien und zwischen den Gebäuden hallte. Elvis blieb unwillkürlich stehen. Lichtkegel zuckten über den Himmel, und als er hinaufschaute, schienen große Formen vor den Sternen vorbeizuziehen. Ich kann jetzt nicht zurück, dachte er, wohin sollte ich auch zurück. Vor ihm öffnete sich die Straße hin zu den provisorischen Grünanlagen, die hier so lange die Stadtränder schmückten, bis der nächste Block ans Raster gefügt und der Freiraum irgendeinem urbanen Zweck zugeordnet wurde. Jetzt ist sie doch zu Ende, die Stadt, dachte er. Hier, und überhaupt.

Irgendwann hatte er zu rennen begonnen. Vorsichtig, dachte er und merkte erst dann, dass er schon längst den Boden vor seinen Füßen und im Mondschein die Umgebung sehen konnte: den Schotterweg, in den die asphaltierte Straße schon bald überging; am Wegesrand die einfachen Kästen, in denen Leute Gemüse oder Kräuter zogen. Die Hügel vor ihm verschwammen immer noch in rötlich glühendem Rauch. Die Felder, dachte Elvis, sie brennen. Egal, sie werden nicht ewig brennen, und dahinter sind die nächsten Felder. Er würde eine der größeren Landstraßen suchen und einfach nach Osten wandern, vielleicht zu der Ruine, bei der Park Thaeer und er haltgemacht hatten. Er schaute sich ein letztes Mal zur Stadt um, zu den chaotischen Würfelstrukturen der Blocks, die langsam aus dem Nebel aufzutauchen schienen. Die Kanten der einzelnen Würfel schimmerten wie im Abendrot. Nach all dem Schrecken überkam ihn nun eine eher sanfte Melancholie, aber als er sich wieder den Feldern zuwandte, sah er in die grellen Scheinwerfer eines Truppentransporters, der dort hinter dem ersten Hügel aufstieg: ein hausgroßer Klotz, der sich monolithisch vom Boden löste, als hätte Schwerkraft gar keine Bedeutung mehr. Kurz schien sich im kalten weißen Licht der Scheinwerfer auch die gesamte Umwelt zu verschieben; die Seiten der Hochbeete leuchteten als grelle Trapeze auf, während ihre Schatten tiefschwarz über den Boden wanderten. Dann drehte die Maschine ab.

Auf der Bergkupee glühten bereits die Silhouetten der goldenen Armee. Elvis blieb ein paar Sekunden erschöpft stehen, bis er zwischen den Truppen der Morgenröte zu allem Überfluss noch die Formen mehrerer der zweibeinigen Kampfmaschinen erkannte, mit ihren Suchscheinwerfern gierig die Landschaft befühlend.

⭐️⭐️⭐️⭐⭐️⭐️⭐️

Eran Debro hatte die Kamerabilder vom Planeten in die Ecken der Brücke verbannt; jetzt schwebte ein großes Hologramm der Stadt vor dem Podium, mehrere Quadratmeter voller präziser Details und kleiner Lichtpunkte und Symbole, die die Positionen der Truppen und Fahrzeuge markierten. Die elenden grauen Schwaden verbargen weiterhin vieles in den Straßen und Plätzen, aber jetzt konnten sie auf der Morgenröte taktische Informationen mit den Truppen am Boden abgleichen, und wesentliche Stellungen auf den Dächern waren von hier oben ohne weiteres einsehbar.

Der Puls hatte seine Funktion erfüllt, befand Debro, und nun war es an der Zeit, auf eine andere Methode, andere Technologien zu setzen; vielleicht sogar längerfristig. Hier war etwas Neues entstanden, und Debro überkam ein nahezu körperliches Gefühl der Macht, als er die Karte rotierte, Anweisungen zu den Platoons am Boden durchgab, Lageberichte entgegennahm und beim Computer Aktualisierungen des Hologramms anfragte. Das war nicht seine Macht und nicht einmal sein Kommando, sondern Taktiken, die sich im Zusammenspiel fügten, zwischen ihnen auf diesem Schiff hier und den Einheiten am Boden, genauer vielleicht zwischen der Morgenröte und ihrer Armee. Wir sind schließlich der Krieg geworden, dachte er in einem der kurzen Augenblicke, in denen die Taktiken nicht seine vollste Aufmerksamkeit hatten.

„Morgengrauen“

Das kann doch nicht wahr sein, dachte Elvis, als er wieder in den Nebel und zwischen die Häuser lief. Hinter ihm bellten sich die Morgenröte-Truppen Befehle zu, und irgendwoher kamen Gewehrschüsse. Ich werde ja spüren, wenn mich etwas getroffen hat, dachte er und rannte tiefer ins Grau. Was er tatsächlich bald spürte, waren rhythmische Erschütterungen, ein Stampfen und ein mechanisches Quietschen. Nein, nicht das, dachte er und wechselte die Richtung, aber selbst dann kamen die Erschütterungen nur näher. Für einen schrecklichen Moment sah Elvis im Nebel vor sich den eigenen Schatten, als der Suchscheinwerfer der Maschine ihn von hinten erfasste; wieder wechselte er die Richtung und fiel fast um, nachdem der Boden plötzlich absank, denn natürlich konnte er nicht wirklich sehen, wohin er lief, und auch der Suchscheinwerfer machte aus dem Grau um ihn herum nur ein helleres Grau.

In eines der Gebäude, dachte Elvis, in eines der Gebäude, und dann in den Keller und die Tunnel. Zu meinem Cassius. Warum habe ich das nicht gleich gemacht? Vom nächsten Hauseingang trennte ihn jetzt die stampfende Maschine; egal, dachte er, das Gebäude vor mir, und im Zweifelsfall würde immer ein Gebäude vor ihm sein, wohin er jetzt auch rannte. Der Lichtkegel der Maschine schwenkte an ihm vorbei, und kaum eine Sekunde später hörte Elvis das Jaulen eines Maschinengewehrs und die einschlagenden Projektile, doch zu seinem Glück musste die Person hinter der Waffe seine Bewegungen falsch eingeschätzt und die Salve zur anderen Seite hin gerichtet haben. Er stolperte von dem Lärm weg und sah aus dem Augenwinkel, wie der Lichtkegel in entgegengesetzter Richtung durch den Nebel irrte. Das half nicht viel, denn schließlich machte Elvis selbst nichts anderes, als durch den Nebel zu irren.

Mittlerweile waren in den Blöcken wieder Kämpfe ausgebrochen, überall Schüsse und Schreie und das Blitzen von Mündungsfeuer. Elvis schaltete die Nachtsichtfunktion in seinem Implantat wieder ein, doch das half nicht viel: Nachdem die Software immerhin gelernt hatte, statische Lichtquellen zu verorten, brachten die Mündungsfeuer und die Suchscheinwerfer der zweibeinigen Maschinen (mindestens drei von ihnen staksten hier durch den Nebel, schätzte Elvis) sie erst recht durcheinander, und jetzt schien er weniger durch einen gräulichen Kosmos zu schweben als durch psychedelische Schwaden und seltsam erratische Feuerwerke. Aber ich kenne diese Stadt, dachte er plötzlich, als irgendein Hormon ihm einen neuen, letzten Schub Klarheit verschaffte. Ich sollte wissen, wo ich bin. Ich weiß, wo ich bin, dachte er dann, zumindest fühle ich es.

Natürlich erinnerte er sich auch grob daran, dass hier ein Park sein musste, drei Blöcke von seiner Wohnung entfernt. Es war ein guter Park, eine aufwändige Anlage mit sowohl weiten Flächen wie hinter Hecken und Baumreihen versteckten Gärtchen, in denen man sich von der ganzen Welt abgesondert vorkam, bis plötzlich eine ganze Gruppe Menschen laut diskutierend um die Ecke kam und die urbanen Dimensionen wieder hergestellt waren. Elvis hatte diesen Park oft genug und zu den unterschiedlichsten Tageszeiten besucht, und während ihm jetzt bruchstückhaft Erinnerungen aus dieser Zeit in den Sinn kamen, die jetzt mindestens eine Generation zurückzuliegen schien, folgten seine Beine einfach den Pfaden und Abkürzungen, die sie kannten.

Ich weiß, dachte Elvis wieder, als der Boden unter seinen Füßen etwas weicher wurde, nun Gras oder Moos statt Schotter. Ein warmer Abend, an dem er den Enten in dem kleinen Bach zuschaute; ein besonders langsamer Nachmittag, an dem er über Apfelkuchen Bayan die Geschichte mit den Türmen auf Selene erklären wollte, aber Bayan nicht wirklich zuhörte, weil er in Gedanken irgendeine komplexe Reparatur durchführte, zu der ihm nur noch ein Originalteil fehlte. Elvis spürte die Erschütterungen der stampfenden Maschine sein Rückgrat hochkriechen. Kurz sah er wieder seinen Schatten im Licht des Suchscheinwerfers, jetzt nicht viel mehr als eine aschene Spur; das letzte, was von mir bleibt, dachte er. Dann nahm er mit letzter Kraft Anlauf und sprang, und verfehlte fast das andere Ufer. Schmerz schoss durch ein Schienbein; offenbar hatte er damit die Kante der kleinen Steinplattform erwischt, auf der hier zu besseren Zeiten ein Café sein Mobiliar an einem Bach aufgestellt hatte. Er kam auf allen Vieren an und hatte sich kaum erst wieder aufgerappelt und sofort das Schienbein an einem der Stühle gestoßen, als statt dem nächsten Stampfen hinter ihm ein lautes Aufklatschen zu hören war, und danach eine Weile nichts. Panisch stolperte er zwischen den Stühlen hindurch. Metall kreischte auf, während die Kriegsmaschine das Gleichgewicht verlor und — um einige Tonnen schwerer aber nicht weniger ungelenk als kurz zuvor Elvis — auf die Plattform kippte.

Etwas traf ihn am Rücken, und er schaffte es nur die paar Meter zum Ende der Plattform, bis er in einem Blumenbeet kollabierte. Die Kriegsmaschine musste in den Pavillon des Cafés gekracht sein; im Nebel zeichneten sich nur noch unangenehm kantige Umrisse von irgendwas ab, ein ruinöser Haufen aus Ziegeln und mechanischen Gliedmaßen. Ein bisschen hier liegen, dachte Elvis und driftete in das Universum aus Leuchtkörpern und Feuerwerk ab, dass ihm die Nachtsichtfunktion als zunehmend überzeugende Alternative bot. Gerade war darin eine neue Himmelserscheinung aufgetaucht, eine gelbliche Schwade, die schnell zu einem pulsierenden Klumpen heranwuchs. Elvis nahm diese Erscheinung wohlwollend zur Kenntnis, die mit ihrer spontanen Geburt den katastrophalen Zuständen in der wirklichen Welt hinter dem Nebel zu trotzen schien. Versonnen schaute er dem Wabern zu, bis irgendwann doch die Instinkte aus seinem früheren Leben griffen. Es war eine wirklich sehr einfache Regel: Von einem brennenden Wrack konnte man nie weit genug entfernt sein. Jetzt wieder panisch, aber viel kraftloser kroch er durch das Blumenbeet und auf die Straße, die hier weiter in den Park führte.

Die Plasmazelle der Maschine explodierte mit einem scharfen Knall. Elvis spürte selbst durch den Kampfanzug hindurch den Hitzeschwall; er kroch noch ein paar Meter weiter, bevor er sich umdrehte. Das Nachtsichtprogramm war aufmerksam genug, sich in diesem Moment einfach auszuschalten. Durch die Explosion war der Nebel kurzzeitig vertrieben worden und gab mit jetzt irreal wirkender Schärfe den Blick frei auf das kleine Inferno um die Ruine des Pavillons herum. Die jetzt überall verstreuten Stühle hoben sich als filigrane Ornamente gegen die Flammen ab, und Elvis meinte zuerst, dass es das Flimmern der heißen Luft war, das ihre Formen wabern ließ, doch bald sackte in der Hitze die erste der Lehnen vollständig in sich zusammen. Auf der anderen Seite löste sich etwas aus dem Feuer, als würde eine einzelne Flamme dem Inferno abtrünnig werden wollen, und fiel erst einige Meter weiter in sich zusammen. Elvis senkte den Kopf auf den Straßenbelag. Über ihm verdeckte schwarzer Rauch die Sterne. Nach ein paar Sekunden oder Minuten war der Nebel wieder da, und plötzlich hatte Elvis das Gefühl, dass das Visier seines Helms mit Ruß bedeckt war; er versuchte ihn mit dem Ärmel abzuwischen, aber etwas schnürte ihm die Kehle zu, und er klappte hektisch das Visier hoch. Jetzt stank es zwar nach Ozon und Verbranntem, doch nach einer Weile konnte Elvis wieder atmen oder, besser gesagt, nach Luft japsen. Von den Dächern kamen immer noch Schüsse, aber es wurde zunehmend leiser in der Stadt.

⭐️

Aleph wusste selbstverständlich auf die Millisekunde, wann der Stern am Horizont erscheinen würde, und hatte dennoch seit geraumer Zeit den Blick auf die dunkle Linie in der Ferne gerichtet, vorbei an den Städten und den Energien, die dort wüteten. Die schimmernden Wolken der Pulswaffe hatten etwas Obszönes gehabt, das Aleph im Nachhinein lieber nicht gesehen hätte, am ehesten vergleichbar mit Schimmel auf überreifen Früchten; selbst das stimmte nicht, denn der Pilz war immerhin Leben und dieser Puls nur eine todbringende Nachricht. Aleph beschloss, diese Eindrücke später zu löschen, sobald dieser Krieg beendet, die Pulswaffe sichergestellt, analysiert und ein Abwehrmittel dagegen entwickelt worden war. Es sollte keinen Grund geben, solche Bilder danach noch einmal sehen zu müssen, erst recht nicht, wenn sie danach auf ihre ästhetische Qualität reduziert werden könnten.

Auch der Artilleriebeschuss der Stadt durch die Morgenröte war obszön gewesen, nur war es da die schon aus viel früheren Kriegen bekannte Unverhältnismäßigkeit, mit der für die Weiten des Weltalls gedachte Energien auf einen Planeten trafen. So grauenhaft diese Asymmetrie sein mochte: In diesem Augenblick konnte Aleph ihr sogar etwas abgewinnen — die eigene Winzigkeit hier auf dem Berggipfel blieb der beste Schutz davor, von dem gewaltigen Schiff oben am Himmel als bedrohlich (oder überhaupt) wahrgenommen zu werden. Das musste sein, was andere Menschen unter ausgleichender Gerechtigkeit verstanden. Aleph konnte weder einen angemessenen Algorithmus dafür erarbeiten noch überhaupt ein Argument dafür, Gerechtigkeit quantifizierbar zu machen, und fast schien es, als wäre genau dies der Punkt des Nodiums — einen vollends unverhältnismäßigen Zusammenhang herzustellen, dieses Mal zwischen Sternen und Schiffen, die sich in einer kleinen Scheibe an einem Armreif trafen, hier auf diesem Berg, in ungefähr drei Minuten, sechsundfünfzig Sekunden und dreihundertvierundzwanzig Millisekunden.

⭐️⭐️

Noch war es unter ihnen Nacht, aber Abelia sah durch die Fenster der Brücke bereits den feinen, hellen Bogen, wo in Kürze der Stern hinter dem Planeten aufgehen würde. Obwohl Tag und Nacht für sie keine konkrete Bedeutung hatten — auf der Morgenröte war das Licht in einem Raum an oder aus, und man hatte gerade Schicht oder nicht — zog dieser Moment sie und die meisten anderen auf der Brücke jedes Mal aufs Neue in seinen Bann. Und sie können es nicht einmal ganz sehen, da unten, dachte sie. Dennoch war mit diesem Spektakel ab sofort auch Gefahr verbunden. Abelia nahm es etwas persönlich, dass sie gerade hier im All so ausgeliefert waren. Vielleicht — wahrscheinlich — wäre die Morgenröte selbst in der Lage, die Waffe auszuschalten, die sie aus Richtung des Sterns bedrohte, aber die Morgenröte war zu wichtig, um sie aufs Spiel zu setzen. Alles, was wir haben, dachte Abelia. Sie hatte es immer für etwas Außergewöhnliches gehalten, diese Einheit des großen Schiffs mit der gesamten Mission, mit ihrer aller Zukunft — in einer solchen Situation konnte es vielmehr etwas Dummes sein: Es musste auch entbehrliche Dinge geben.

⭐️⭐️⭐️

„Hast du das gesehen?“, fragte Sergeant Benedict.

„Was?“, fragte Lorna Whitebird zurück, die gerade die Augen geschlossen und daher gar nichts gesehen hatte.

„Ein blauer Blitz, am Himmel.“

Whitebird öffnete die Augen und setzte sich auf, aber am morgendlichen Himmel war nichts, nur noch ein paar wenige Sterne und hier und da dünne Rauchfahnen. Sie suchte nach ihrem Fernglas und dann zwischen den Sternen nach der Morgenröte, fand sie jedoch nicht. „Haben sie sie erwischt?“, fragte sie.

„Das hätten wir gesehen, oder?“, fragte Benedict zurück.

Whitebird stand auf und klopfte sich den gröbsten Dreck von der Hose. Sie hatten die letzten Stunden hier vor der Stadt verbracht, versteckt in einem Wäldchen, während auf der einen Seite die Armee der Morgenröte die Straßen durchkämmte und auf der anderen Seite die Felder auf verkohlte Stoppel hinunterbrannten. Mittlerweile war es jedoch eigenartig still geworden, als hätte schließlich jemand den Krieg gewonnen und alle würden nach der allzu langen Nacht zuerst den nötigen Schlaf nachholen. Whitebird ging mit dem Fernglas Block um Block durch. Nichts bewegte sich, außer den Flaggen, die die Leute von der Morgenröte auf manchen der Dächer wehen ließen. Neue Flaggen, stellte Whitebird fest, jetzt gehisst von den Einheiten, die erst in dieser Nacht in die Stadt gekommen waren.

„Geh da nicht hin“, zischte Benedict, als Whitebird sich ihr Gewehr umhängte und Richtung der Felder aus dem Wäldchen spazierte. Sie zuckte mit den Achseln und ging weiter. Auch hier passierte nicht viel; ein Wind war aufgekommen, der hier und da eine Glut wiederentfachte und hektische graue Qualmstriemen über die verbrannte Erde tanzen ließ. Ansonsten war alles tot. Zwanzig Meter weiter war die Erde wie zu einem riesigen Wall aufgeworfen. Whitebird band sich vorsichtshalber ein Tuch vors Gesicht, bevor sie den krustigen Hang hinaufsteig. Sie wusste nicht, was sie erwartet hatte, aber diese neue Landschaft wäre für sie zuvor auch schwer vorstellbar gewesen; schnurgerade in die Felder geschnittene Schluchten, hunderte Meter lang, ihre schlackigen Wände so schwarz, dass sich im noch schwachen Licht des aufgehenden Sterns ihre Tiefe gar nicht erahnen ließ. Whitebird schaute eine Weile in die eine und dann in die andere Richtung die Schlucht entlang, bevor sie wieder in das Wäldchen zurückging.

Es war nicht mehr ganz still, stellte sie fest: Aus der Stadt waren metallische Geräusche und Rufe zu hören, fast, als würde jemand arbeiten. Durch das Fernglas konnte sie weiterhin keine Bewegungen beobachten. Genau gesagt waren es sogar zu wenige Bewegungen. Whitebird setzte das Fernglas nochmals an, um sich zu vergewissern, und tatsächlich: Die Flaggen waren verschwunden.

„Was ist passiert?“, fragte sie Benedict.

„Hm?“, machte Benedict.

„Die Flaggen sind weg.“

„Ach.“

Bevor sie sich dazu weitere Gedanken machen konnten, tauchten zwischen zwei Blöcken schließlich Menschen auf; eine ganze Gruppe, die mühevoll irgendetwas die Straße entlang schleppte und auf einem geschotterten Platz vor der Stadt ablud. Whitebird sah kurz durch das Fernglas. „Kommt“, sagte sie zu den anderen.

„Hey“, rief ihnen jemand aus der Gruppe zu, als sie das Wäldchen verließen, „wollt ihr eure Toten holen?“

„Unsere Toten“, wiederholte Benedict.

„Lasst uns einfach gehen“, sagte Whitebird. Der Städter hatte freundlich geklungen, aber in seiner Stimme war bereits etwas Forsches, als hätten sie alle etwas zu erledigen.

Auf dem Platz lagen bereits mehrere goldgepanzerte Leichen, und die Leute aus der Stadt trugen immer weitere heran. Whitebird erinnerte sich, dass es dafür Protokolle gab, für den korrekten Umgang mit den Gefallenen anderer Kriegsparteien, doch die Menschen in der Stadt würden diese Protokolle nicht kennen, und die Leute von der Morgenröte vielleicht auch nicht. „Das klären wir später“, sagte sie zu Benedict, der stirnrunzelnd durch den Leichenhaufen hindurchstarrte, als würde sich unter ihm ein Geheimnis verbergen.

„Was ist passiert?“, fragte Whitebird, als sie zu einem der Städter aufschlossen.

„Vielleicht ist es ja vorbei“, sagte der Mann.

Wo noch einige Stunden zuvor Nacht und Nebel die Stadt in eine unwirkliche Berglandschaft verwandelt hatten, war auf Straßenebene nur Verwüstung übrig. Dutzende von Menschen waren aus den Häusern gekommen, und Whitebird wusste nicht recht, ob sie die Verwüstung vorantrieben oder bereits aufräumten. Einige Jugendliche waren auf das Wrack eines Truppentransporters geklettert und benutzten die Karosserie als Perkussion, während ein paar Meter weiter jemand mit einem Besen Schutt zusammenkehrte, inmitten eines halben Quadratkilometers von Wracks und durch Kriegsmaschinen und Strahlenwaffen aufgewühlter Erde. Andere Menschen traten erst langsam auf die Balkone und Terrassen der Blöcke hinaus. Whitebird merkte plötzlich, dass sie zum Rhythmus der trommelnden Jugendlichen mit dem Kopf nickte.

„Wo ist der Rest?“, fragte sie, als ein weiterer Gefallener der Morgenröte an ihnen vorbeigetragen wurde. „Sie hatten Tausende hier stationiert.“

„Verstecken sich“, sagte jemand.

„Aber vor wem“, sagte Whitebird, doch die Gruppe war bereits weitergelaufen. Vor uns wohl nicht, dachte sie.

„Komm“, sagte Benedict, „Suchen wir unsere Leute. Vielleicht sollten wir hier nicht … zu lange bleiben.“

⭐️⭐️⭐️⭐

Elvis konnte nicht einschätzen, ob er nur kurz oder schon länger auf dem Boden lag. Der Geruch nach Ozon und Verbranntem war irgendwann verweht; vielleicht hatte er zwischendurch sogar das Bewusstsein verloren. Ich habe keine Schmerzen, stellte er fest. Spüre ich irgendetwas? Ja. Unter ihm war die ebene Fläche des Straßenbelags und nur hier und da ein Stein oder sonst etwas, das ein wenig drückte. Er hatte die Augen nicht geöffnet und sah erst einmal keinen Grund dafür. Kalt war ihm nicht, und Schmerzen konnte er weiterhin keine feststellen, schlimmstenfalls leichten Hunger oder eine allgemeine Übelkeit. Tatsächlich war sein Arm eingeschlafen, den er wohl irgendwann schützend vor die Stirn gelegt hatte, und selbst das war nicht schmerzhaft, sondern einfach noch weniger als ein Gefühl.

Jetzt roch es allerdings nach Harz oder vielleicht Wachs oder nassem Waldboden im Herbst. Das war kein Geruch, der an diesen Ort gehörte.

Er hob schließlich den tauben Arm von seinem Gesicht und öffnete die Augen. Es war hell, und er musste sich erst kurz an das Tageslicht gewöhnen. Über ihm stand eine große Figur, dunkel gegen den blauen Himmel. Elvis schirmte die Augen ab. Wachs, dachte er, gewachster Stoff, als er die Hosenbeine und dann die ganze schlichte Uniform der Person sah; sie war verdreckt, und einiges davon konnte Blut sein. Er schaute hoch, aber da war nur eine ovale Maske mit zwei dunklen Augenlöchern.

Du“, sagte die Person überrascht und hockte sich zu Elvis hinunter. Die Maske war rot und weiß, aber auf den zweiten Blick erkannte Elvis zu seiner Beruhigung, dass es nur ein Muster aus dornigen Ranken war und nicht tatsächlich Blutspritzer. Die Person blieb eine Weile sitzen, bis sie die Maske abnahm.

„Was machst du denn hier?“, fragte Rachel. „Naja, was frage ich da.“

Elvis schob sich wieder den Arm vor die Augen.

„Bist du in Ordnung?“, fragte Rachel. Elvis spürte ihre Hand auf seiner Schulter.

„Lasst mich einfach alle in Ruhe“, sagte er.

⭐️⭐️⭐️⭐⭐️

Das Wundspray hatte Gerinnung und Regeneration auf wenige Stunden beschleunigt, doch der helle Striemen auf Carinas Handinnenfläche würde wohl noch einige Zeit sichtbar sein, bis ihn schließlich Arbeit und Sonne verschwinden lassen sollten. Carina betrachtete die Narbe nicht ohne Stolz. Am Morgen hatte sie mit den Kindern, die den Anschlag auf ihren Konvoi ausgeführt hatten, trainiert; dieses Mal waren es Übungen zur Entwaffnung im Nahkampf gewesen, und die Kinder lernten so schnell, dass sie tatsächlich selbst in eine Klinge gegriffen hatte, ohne sich viel mehr vorwerfen zu können als einfach ihr junges Gegenüber unterschätzt zu haben.

Nicht alle akzeptierten dieses Projekt. Manche in ihrem Platoon warfen ihr vor, die eigenen Feinde auszubilden, aber Carina hielt nichts von diesem Begriff. Sollten sich ihre Zöglinge irgendwann als stärker erweisen, wäre auch dies im Sinne einer gemeinsamen Sache gewesen, eine Station des gemeinsamen Wegs, der mit Feindschaft nichts zu tun hatte. Unangenehmer war ihr der Vorwurf der Eltern, ihre Kinder zu Bestien zu erziehen, und sie hatte lieber dafür gesorgt, dass sich Eltern und Kinder nicht mehr allzu oft sahen.

Feinde, dachte sie jetzt mit einem Blick auf die Stadt in der Ferne. Obwohl sich der Rauch im Laufe des gestrigen Tages verflüchtigt hatte, schien die Stadt weiterhin weniger einsehbar. Wie in einem bösen Scherz musste die Morgenröte ausgerechnet vor dem Licht des aufgehenden Sterns fliehen, und so waren sie tagsüber auf die Erkundungsflüge ihrer eigenen Maschinen und die Kommunikation zwischen den Hauptquartieren in den Städten selbst angewiesen.

Viel war dabei nicht herausgekommen. Sie wussten weder, wer oder was die Morgenröte im Weltall beschoss, noch, was sich auf dem Boden abspielte. Die Reste der Platoons in der belagerten Stadt hatten sich in den geräumten Blöcken neben ihren Camps verschanzt. Anfangs hatten sie noch Patrouillen hinausgeschickt, doch diese fanden nichts und wussten nicht einmal, nach wem sie wo suchen sollten. Und dies war der glückliche Ausgang, denn mehrere der Patrouillen waren bereits vollständig verschwunden; beim Briefing an diesem Morgen hatte eine Offizierin berichtet, dass von den in der Nacht losgeschickten Einheiten keine einzige zurückgekehrt war, insgesamt achtzig Leute, jetzt tot oder verschollen. Selbst die Camps waren nicht sicher: Erst gegen Mittag hatte eines der Platoons festgestellt, dass wohl über Nacht ein großer Teil der Vorräte ausgeräumt worden war.

Letztlich fühlte Carina sich dadurch in ihrer eigenen Arbeit hier vor Ort bestätigt, so sehr sie damit auf allen Seiten aneckte; in der anderen Stadt schien der Bevölkerung jeglicher Wille zur Kooperation abhandengekommen zu sein, falls er denn jemals bestanden hatte. Jemand aus ihrem Platoon hatte vorhin Aufnahmen gezeigt, die Trümmer der Fahrzeuge und Installationen, durch den nächtlichen Beschuss zerstört und in den Morgenstunden weiter demoliert oder vielmehr demontiert, denn teilweise waren von den Wracks nur noch die ausgehöhlten Karosserien übriggeblieben. Auf einer der Aufnahmen waren die Reste eines der Truppentransporter zu sehen, innen ausgebrannt und außen mit expressiv geschwungenen, riesigen Lettern bemalt. „Was ist das?“, hatte Carina gefragt „was steht da?“; „Dunhuang Siebzehn“, hatte Mira ungewohnt widerborstig geantwortet, „der Name ihres Planeten.“

Manche sprachen bereits von Strafmaßnahmen gegen die Bevölkerung. Carina konnte sich nichts Falscheres, nichts Schädlicheres vorstellen. Wäre ich hier nur weiter, dachte sie, aber das war keine Frage von Stunden oder Tagen, sondern von Generationen. Der Angriff wirkte jetzt fast wie Sabotage, dachte sie: Durch die Anderen, die sich irgendwo verbargen, anstatt sich offen mit uns zu messen, und durch solche falschen Reaktionen, die nichts Weiteres als Furcht ausdrückten.

Morgen würde sie den Major überzeugen, eine Mission in der anderen Stadt durchzuführen und Kontakt aufzunehmen, herauszufinden, mit wem sie es dort zu tun hatten. Die bisherige Aufklärung hatte sich eher auf die gegnerischen Taktiken beschränkt — die Nebeldecke und vor allem die kleinen Scheinwerfer, mit denen das gesamte Kommunikationsnetzwerk in der Stadt zu Fall gebracht worden war. Auch das war wichtige Aufklärungsarbeit, doch Carina spürte, das hier eher Symptome untersucht wurden als das zugrundeliegende Problem.

„Weißt du jetzt, wie es funktioniert?“, fragte sie etwas aggressiv, als Mira zum wiederholten Male einen der kleinen Apparate aufzog, den ihr jemand aus der anderen Stadt mitgebracht hatte; denn sicherlich hatte ihre Kameradin längst die Mechanik analysiert und starrte nur aus irgendeinem Zwang in das Gehäuse, selbst wenn es der uralte menschliche Impuls sein sollte, flackernde Lichter anzugaffen.

„Ja“, sagte Mira, ohne den Blick abzuwenden. Ihre Leute hatten nach dem Angriff gut ein Dutzend dieser Geräte auf den Dächern gefunden; kleine Zylinder, in denen versetzte Blenden rotierten und den Lichtstrahl zu chaotischen Signalfolgen hackten. Sie waren gut gemacht, hatte auch Carina zugeben müssen: Die Intensität und das Tempo des Blinkens stimmte mit den Lichtsignalen überein, die sie selbst zur Kommunikation verwendeten, und dass der kleine Apparat nur Unsinn sendete, musste man erst begreifen.

Sie halten uns für dumm, dachte Carina jetzt, und sie haben recht damit. Die Lichtsignale mochten in den ersten Tagen der Invasion ihren Zweck erfüllt haben, aber es war arrogant gewesen, sie im Alltag zu verwenden. Alltag. Carina verzog das Gesicht. Bereits dazu hätte es nie kommen dürfen, dass wir hier einen Alltag haben. Der Angriff auf die andere Stadt hatte freilich auch ihr Platoon wachsamer gemacht. Sie hatten in den letzten Nächten weiterhin den alten Code für ihre Signale benutzt, als Tarnung, um die gegnerischen Truppen im Glauben zu lassen, dass sie deren Taktik nicht durchschaut hatten; das Platoon war längst angewiesen, im Ernstfall nur per Funk zu kommunizieren, und auch hier hatten sie vorsichtshalber einen Code eingeführt, der auf diesem Planeten noch nicht zum Einsatz gekommen war. Dennoch war dies nicht genug; dass die anderen sie mit diesem Trick hinters Licht geführt hatten hieß bereits, dass sie den Trick nicht ein zweites Mal einsetzen würden.

Taktiken, Taktiken, dachte Carina. Zu viele Taktiken, und ich verstehe immer noch nicht, was insgesamt passiert. „Der Anschlag auf die Brücke damals“, sagte sie zu Mira, „das war der letzte, bei dem sie jemanden aus unserem Platoon angegriffen haben, oder?“

„Ja“, sagte Mira. „Denkst du, das bedeutet etwas?“

„Eben, was bedeutet es? Sie machen ein paar unserer Maschinen kaputt und irgend etwas verschwindet, aber wir sind immer noch da. In der anderen Stadt das gleiche, bis plötzlich … so vieles passiert.“ Sie fuhr mit den Fingern die Narbe entlang und schüttelte den Kopf. Es gab eine Zukunft zu planen, und gerade verlor sich alles in Taktiken.

„Vielleicht spielen sie auf Zeit“, sagte Mira.

„Ja, aber auf was warten sie? Worauf müssen wir uns vorbereiten? Irgendetwas hat sich … verändert, auch hier.“ Carina stützte sich an der Mauer auf. Etwas hatte sich verändert, stellte sie dann fest, als sie den Blick über die Dächer streifen ließ: Auf dem Block, bei dem das nächste Platoon stationiert war, fehlte die Fahne, und auch eine weitere, die Straße hinab. „Haben wir umstationiert?“, fragte sie irritiert. „Habe ich etwas verpasst?“

Mira schaute stumm an Carina vorbei. Sie war sehr blass geworden.

„Was ist“, sagte Carina. Es roch plötzlich nach etwas leicht beißendem, vielleicht nach Regen, obwohl den ganzen Tag über keine Wolke am Himmel gewesen war. Mira schüttelte nur den Kopf, und Carina drehte sich schließlich um. Nur wenige Meter von ihnen lag der Scharfschütze, der von diesem Dach aus sonst die Straße beobachtete, reglos am Boden. Auf der Mauer über ihm kauerte eine große Gestalt, jemand in graubrauner Kleidung, die mehr nach Arbeit irgendwo in der Natur aussah als nach einem Kampfanzug, das Gesicht hinter einer ovalen weißen Maske verborgen. „Ihr solltet besser gehen“, sagte die Gestalt, „weg von hier, jetzt.“

„Ich verstehe“, sagte Carina.

Vorschau: Elvis bereut sofort, die Tür aufgemacht zu haben. „Aber was hat das mit mir zu tun“, sagt er, doch zu seinem Leidwesen gibt es gerade darauf genug Antworten. Die ehemalige Terroristin sieht im Fenster die Formen einer Waffe und fragt sich, ob jemand gesehen hat, dass sie etwas gesehen hat.

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Jacob Birken
Jacob Birken

Written by Jacob Birken

Writer, researcher. Interested in ideas about history & historicity, and their mediation in arts & pop culture.

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