Was ist Panik, und wann sollten wir vor ihr Angst haben?

Jacob Birken
12 min readMar 25, 2020

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Zu jeder Geschichte einer Krise gehören Geschichten von Panik. Kaum ein Katastrophenfilm kommt ohne die Szene aus, in der jemand die Ausbreitung von Informationen über die Bedrohung vermeiden will, weil die Menschen sonst ‚in Panik geraten‘ würden — und panische Menschen wären schließlich eine Krise in sich, eine weitere Bedrohung, die zu der ‚eigentlichen‘ Katastrophe eines bevorstehenden Vulkanausbruchs, Erdbebens oder einer Epidemie hinzukommen würde. Mit Panik ist dann meistens gemeint: Menschen, die die Kontrolle verlieren, sich selbst und andere gefährden, vielleicht Läden oder ganze Nachbarschaften plündern. In Krisensituationen wird dieser Begriff aber auch allgemein schnell verwendet, um bestimmte Formen des Verhaltens zu beschreiben — sei es das Horten von Nudeln und Toilettenpapier, oder staatliche Maßnahmen, Gebote und Verbote angesichts einer Katastrophe. Von Panik zu sprechen heißt also, ein bestimmtes Verhalten zu kritisieren; es kann aber ebenso dazu verwendet werden, um ein anderes Verhalten zu rechtfertigen — wie eben eine Informationssperre verhindern soll, dass Menschen in Panik geraten. Wenn von Panik geredet wird, geht es sehr oft um eine mögliche, zukünftige Panik.

Da dieses Wort auch während der Corona-Krise 2020 oft genug verwendet wird, möchte ich hier kurz den (gesellschafts-)politischen Rahmen skizzieren, den die Rede von Panik auf oft widersprüchliche Weise eröffnet. Was also verstehen wir unter „Panik“? Eine „durch eine plötzliche Bedrohung, Gefahr hervorgerufene übermächtige Angst, die das Denken lähmt u. zu kopflosen Reaktionen führt“, so der Duden. Was bedeutet dies gesellschaftlich, und was heißt es, während einer Pandemie von Panik, Angst und Kopflosigkeit zu sprechen, wenn einerseits reaktionäre Politiker den Ausnahmezustand ausrufen, und andererseits Ärzt*innen entscheiden müssen, welche Menschen nicht gerettet werden können, weil die dazu nötigen Mittel fehlen?

Im üblichen Narrativ des Katastrophenfilms — die Bevölkerung darf nicht informiert werden, weil sonst Panik ausbricht — schwingt eine gesellschaftliche Ordnung mit, in der bestimmte Gruppen (die ‚Bevölkerung‘) offenbar für eine ‚übermächtige Angst‘ empfänglich sind, während die Protagonist*innen und Obrigkeiten von dieser unberührt bleiben (dass im Katastrophenfilm letztere dann oft genug versagen, ist eine andere Sache). Diese Vorstellung ist Teil einer größeren autoritären Logik. Im Film entspricht sie vielleicht den (reaktionären) Ideen des Heroischen (Held*innen zeichnen sich eben dadurch aus, dass sie keine Angst empfinden); in der Wirklichkeit gehört sie zumeist zu anti-demokratischen Ideologien, in denen von einer grundsätzlichen Unmündigkeit der Menschen ausgegangen wird.

Die jeweilige politische Ideologie bestimmt auch, was dann unter „kopflosen Reaktionen“ verstanden wird — wie werden Menschen handeln, wenn das ‚Denken gelähmt‘ ist und die üblichen Normen und vielleicht sogar gesellschaftlichen Institutionen und Infrastrukturen aussetzen? Reaktionäre Ideologien gehen meistens vom Schlimmsten aus und verweisen dabei auf eine grundsätzliche Animalität des Menschen, die im Alltag nur von einer ‚dünnen Schicht‘ der Zivilisation verborgen sei; der Mensch ist ein Wolf für den Menschen, wie es dann ab Hobbes zum Konzept einer (Geo-)Politik wird, die am Ehesten als Unterdrückung oder zumindest Verwaltung einer ‚natürlichen‘ Feindseligkeit der Menschen zueinander verstanden werden will.

Dies ist — und das macht es um einiges komplizierter — nicht ausschließlich eine Vorstellung der politischen Rechten. Im März 2020 schreibt so der Philosoph Giorgio Agamben angesichts der Corona-Krise in Italien von einer „Panikwelle“ und dem dadurch ausgelösten Rückfall in den Glauben an „nichts mehr […] ausser an das nackte Leben“, mit fatalen Folgen: „Das nackte Leben — und die Angst, es zu verlieren — ist nicht etwas, was Menschen verbindet, sondern was sie trennt und blind macht.“ Während die Definition der „Panik“ im Duden auf einer psychologischen Ebene bleibt, überführt Agamben sie also ins Politische: Es geht nicht (oder nicht nur) um die „kopflose Reaktion“, sondern darum, dass der Rückbezug auf nichts weiter als den Selbsterhalt (den eigenen Kopf) alles Gemeinschaftliche und Gesellschaftliche aushebelt.

Was sind die Konsequenzen? Wenn in ihrer Panik also die Menschen als solche zu einer zusätzlichen Bedrohung innerhalb einer Krise werden, muss zu entsprechenden Maßnahmen gegriffen werden. In einer nur paradox erscheinenden Wendung macht die Krise nun Handlungen möglich, die zuvor undenkbar blieben — der Ausnahmezustand legitimiert es, ansonsten gültiges Recht aufzuheben. Das deutet Agamben an, wenn er befürchtet, dass „auch nach dem Notfall der öffentlichen Gesundheit die Experimente fortgesetzt [werden], die die Regierungen vorher nicht durchzuführen vermochten.“ Wichtig ist hier festzuhalten, dass diese Aufhebung des Gesetzes von oben durch die Regierenden geschieht, dafür aber auf eine Bedrohung von unten durch die ‚Massen‘ verwiesen wird.

Diese Logik des Ausnahmezustands kann entsprechend instrumentalisiert werden — Naomi Klein in The Shock Doctrine (2007) und Antony Loewenstein in Disaster Capitalism (2015) beschreiben anhand zahlreicher Beispiele, wie nach Katastrophen Entscheidungen getroffen werden, die unter ‚normalen‘ Umständen vermutlich keine demokratischen Mehrheiten gefunden hätten. Der Ausnahmezustand kann so als ein Mittel verstanden werden, die Demokratie selbst auszuhebeln — in der Krise ist schlichtweg ‚keine Zeit‘, demokratische Prozesse zu durchlaufen; es muss jetzt gehandelt werden. Diese Notwendigkeit einer singulären, absoluten — souveränen — Entscheidung spielt entsprechend antidemokratischen Ideologien zu. Wenn also in einer demokratischen Gesellschaft ein Ausnahmezustand ausgerufen wird, bedeutet das nicht nur ein vorübergehendes Aussetzen demokratischer Prozesse, sondern möglicherweise auch den Wunsch danach, mit dem Ausnahmezustand zu einem anderen Herrschaftssystem zu gelangen.

Ein Blick in die Geschichte der Katastrophen zeigt, wie regelmäßig und mit welchen Auswirkungen diese Vorstellung aufgerufen wurde. Als 1871 in Chicago ein Brand große Teile der Stadt zerstört, wird wenige Tage später die US Army in die Stadt beordert, um hier für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung zu sorgen; dass diese an sich wohl nie gefährdet war, spielt gegenüber den wieder und wieder verbreiteten ‚Sorgen über Ausschreitungen und Plünderei eine untergeordnete Rolle. Selbst der diensthabende General Philip Sheridan hält die Beschreibungen angeblicher Greueltaten nach der Katastrophe für „absurde Gerüchte“, sieht den Einsatz der Truppen aber als sinnvoll an, um die Menschen in der Stadt zu beruhigen. Die „Panik“ besteht hier weniger angesichts eines tatsächlichen gesellschaftlichen Zusammenbruchs, sondern in der phantasmagorischen Vorstellung, dass diese ohne die Präsenz bewaffneter Uniformierter unausweichlich sei. Ähnliches geschieht 1906 nach dem Erdbeben und den Bränden in San Francisco; eine der ersten Handlungen des Bürgermeisters ist hier das Verhängen eines Schießbefehls gegen Plünderer. Als Folge dieser Maßnahme erschießen drei Männer einer Bürgerwehr einen Mitarbeiter des Roten Kreuzes, weil sie ihn — trotz eines mit Rote-Kreuz-Flagge markierten Autos und Militärbegleitung — für einen ebensolchen ‚Plünderer‘ halten, während es umgekehrt die mit der ‚Sicherung‘ der Stadt betrauten Nationalgardisten sind, die sich ohne weitere Konsequenzen an Wertsachen aus den Ruinen Chinatowns bedienen. 2005 errichtet die US-Regierung nach dem Hurrikan „Katrina“ Straflager für angebliche Plünderer, während dringend benötigte Nothilfe für die Opfer der Flut ausbleibt; in einigen Stadtteilen formieren sich bewaffnete Milizen, die nach rassistischen Schemata jeden Schwarzen als ‚Plünderer‘ einordnen und mindestens 11 Menschen schwer bis tödlich verletzen.

Zur autoritären Vorstellung, dass Menschen im Ausnahmezustand nur mit Waffengewalt unter Kontrolle gehalten werden können, kommen hier die jeweiligen Muster gesellschaftlicher Diskriminierung hinzu. Sowohl in Chicago 1871, San Francisco 1906 wie New Orleans 2005 wurde ein Zusammenbruch gesellschaftlicher Normen vor allem bei der ärmeren Stadtbevölkerung ‚befürchtet‘; im 21ten Jahrhundert kommt hier der Rassismus gegenüber der Schwarzen Bevölkerung hinzu, der im 19ten Jahrhundert in Chicago noch eher die europäischen Einwanderer*innen, und in San Francisco Anfang des 20ten Jahrhunderts die chinesische Minderheit betraf. Diese Suche nach einem ‚Sündenbock‘ in Krisenzeiten in Verbindung mit autoritären Maßnahmen ist typisch; nach dem Erdbeben 1923 in Kantō wurden schätzungsweise mehrere Tausend Menschen aus der koreanischen Minderheit Japans als ‚Brandstifter‘ ermordet, aber ebenso zahlreiche japanische Sozialist*innen oder Anarchist*innen. Auch das offensichtliche Interesse der aktuellen US-Regierung, Corona begrifflich als den „Chinese Virus“ zu etablieren (ein Photo vom 19. März zeigt ein Redemanuskript, auf dem Trump eigenhändig das Wort „Corona“ mit „Chinese“ ersetzte) muss in diesem Sinne verstanden werden.

Vor diesem Hintergrund ist es möglich, jede Krise von ihrem Nutzen für einen gesellschaftspolitischen Ausnahmezustand her zu interpretieren — wie die phantasmagorischen Panik-Vorstellungen aus der Geschichte zeigen, reicht hier das Formulieren von ‚Sorgen‘ als Anlass für möglicherweise gewaltsame, autoritäre Maßnahmen. Oder, im Umkehrschluss: Die Furcht vor der Panik ermöglicht es, Maßnahmen umzusetzen, die ansonsten nicht möglich wären, aber von bestimmten Seiten her durchaus erwünscht wären. In einem Aufsatz von 2008 haben Lee Clarke und Caron Chess den Begriff der ‚Elite Panic‘ geprägt, der die hier beschriebene Panik vor der Panik auch gesellschaftlich verortet — tatsächlich betrifft die Panik hier die ‚Eliten‘ selbst, die von einem unausweichlichen gesellschaftlichen Zusammenbruch ausgehen. Grundlos, denn die bislang vorliegenden Studien aus der Katastrophensoziologie zeigen etwas andere s— gerade in extremen Krisen werden Menschen eher altruistisch handeln, anstatt einander ‚Wolf‘ zu sein. Rebecca Solnit kommt entsprechend in ihrem Buch A Paradise Built in Hell von 2009 zu dem Schluss, dass die Eliten in ihrer Panik vor der Panik vielleicht von sich selbst aus auf andere schließen, aber in Bezug auf die Menschheit insgesamt eher falsch liegen.

Diese Perspektive auf die ‚Panik‘ als rhetorisches, vielleicht strategisches Moment macht es notwendig, bei der Verwendung des Begriffs genauer auf die Umstände zu achten. Hat eine Sorge vor gesellschaftlichem Zusammenbruch einen konkreten, im Augenblick feststellbaren Anlass, oder folgt sie lediglich dem, wie Solnit es analysiert, bei jeder Krise heraufbeschworenen und in zig Katastrophenfilmen wiederholten Narrativ, für das es aber letztendlich kaum wirkliche Belege und genügend Gegenbeispiele gibt? Dass das Ausrufen eines Ausnahmezustands auch andere Gründe haben kann als die Bewältigung einer aktuellen Krise, ist durch beispielsweise Klein oder Loewenstein zur Genüge gezeigt worden. Dass ein Ausnahmezustand also explizit zur Durchsetzung einer bestimmten Agenda ausgerufen kann, und dies gleichzeitig mit einer wirklichen Krise — sei diese ein Naturereignis, ein Börsencrash oder eben eine Epidemie — geschehen kann oder auch nicht — braucht entsprechend nicht angezweifelt zu werden. Es ist kein Zufall, dass Politiker wie Benjamin Netanjahu oder Viktor Orban die Corona-Pandemie zum Anlass nehmen, um sich vollends als ‚Souverän‘ zu installieren und die Reste demokratischer Staatlichkeit auszuhebeln; ebenso wenig kommt die Krise ungelegen, wenn es um die globale Durchsetzung eines totalen digitalen Überwachungsapparats geht, sei es durch staatliche oder kommerzielle Organisationen (sofern noch zwischen diesen zu trennen ist).

Dieser ‚konstruktivistische‘ Charakter des Ausnahmezustands führt jedoch zu dem zweiten großen Problem um die Panik, das uns hier beschäftigen sollte. In einem bizarren Artikel auf der nahe der Querfront gebauten Website Rubikon versammelt der Dramaturg Anselm Lenz allerlei Theorien über eine Inszenierung der „Coronahysterie“; es könne hier um einen gezielten ökonomischen Kollaps gehen, der anstelle einer „militärischen Konfrontation mit Russland“ zwecks „Neustart des Kapitalismus“ herbeigeführt werden solle, oder hingegen um eine „interdisziplinäre Selbstermächtigung der Wissenschaft“, die damit der Umweltkrise entgegenwirken will. Seinen Artikel leitet Lenz jedoch mit der „beste[n] Nachricht“ ein: „Der Virus Covid-19 ist auch für Infizierte praktisch nicht tödlich“. Angesichts der Augenzeug*innen-Berichte aus Krankenhäusern in China, Italien oder Spanien ist eine solche Aussage an Zynismus kaum zu überbieten, selbst aber eine Folge der Möglichkeit, einen Ausnahmezustand immer als Konstruktion interpretieren zu können. „[S]uch a social interpretation doesn’t make the reality of the threat disappear“, schreibt entsprechend Slavoj Žižek als Replik auf weitere Äußerungen Agambens zu einem rein politischen ‚Ausnahmezustand‘ der Corona-Krise: Die mögliche Interpretation des Ausnahmezustands als politischer Fiktion kann nicht dazu führen, dass die dahinterliegende Krise selbst als fiktiv begriffen wird. Die Plünderungen und Gewalttaten in Chicago 1871, San Francisco 1906 oder New Orleans 2005 waren Fiktion und ihrerseits ‚Elitenpanik‘; gleichzeitig kamen durch die Brände, das Erdbeben und die Flut insgesamt Tausende von Menschen ums Leben, wie aktuell Tausende an den Folgen des Corona-Virus sterben.

Es gibt jedoch noch eine weitere Weise, auf die Panik innerhalb von Krisen wirkt und diese mitunter verschärft. Im Artikel „Panic and Fear“ von 1996 führt Alan Blum aus, wie das Moment einer Krise auch in kleinerem Rahmen — beispielsweise in der universitären Verwaltung — als Mittel wirken kann, um Entscheidungen zu erzwingen. Blum arbeitet mehrere Eigenschaften solcher Vorgänge aus: Eine Logik des Entweder/Oder, Geschwindigkeit, und eine „uniformity of peace“, ein Einheitlichkeit des Friedens. Alle sind dadurch bedingt, dass ein Ereignis als Notfall verstanden wird und daher sofort und eindeutig entschieden werden muss, ohne Dissens berücksichtigen zu können; sie sind, wie Blum schreibt, aber auch die Folge einer „Angst vor der Panik“, also eben der Sorge, angesichts einer überwältigenden Situation nicht länger rational, und somit zerstörerisch zu handeln. Die Vorstellung der Panik wird hier erneut ‚zwischengestaltet‘ — Entscheidungen werden nicht in Bezug auf die Situation selbst getroffen, sondern in Bezug auf die Panik — auf die Bedrohung, bald keine Entscheidungen mehr treffen zu können.

Es ist zum einen offensichtlich, dass nach diesem Schema komplexere demokratische Prozesse ausgesetzt werden müssen; zum anderen kann sich daraus eine Eigendynamik ergeben, in der Geschwindigkeit und Radikalität zu Qualitäten von Entscheidungen werden. Dies entspricht auch der Verbindung, die in der politischen Philosophie seit Carl Schmitt zwischen der souveränen Entscheidungsmacht der Herrschenden und dem Ausnahmezustand gezogen wird („Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet.“). Die souveräne Entscheidung steht in einem außergewöhnlichen Verhältnis zum (demokratischen) Rechtsstaat, da sie gewissermaßen nicht dem Gesetz folgen kann — dann wäre sie schließlich keine Entscheidung mehr. „Die Entscheidung ist, normativ betrachtet, aus einem Nichts geboren“, so Schmitt in Politische Theologie; sie kann keinen Normen entsprechen, aber selbst welche hervorbringen.

Auf einer psychologischen Ebene verführt all dies dazu, Souveränität von der Krise und der radikalen Entscheidung her zu denken. Das kann fatale Folgen haben. Die Journalistin Sheri Fink beschreibt in Five Days at Memorial, wie in einer privaten Klinik in New Orleans nach dem Hurrikan von 2005 schwerkranke Patient*innen euthanasiert wurden, weil die leitenden Ärzt*innen keinen anderen Ausweg sahen. Obwohl die Kranken weiterhin überlebensfähig blieben und — dies wussten die Ärzt*innen zu diesem Zeitpunkt noch nicht — bald hätten abtransportiert werden können, war hier der Zwang zu einer ‚souveränen‘ Entscheidung im Ausnahmezustand möglicherweise zu stark. Diese Logik ist jetzt wieder im Spiel, wenn reaktionäre Politiker in den USA ein Entweder/Oder zwischen der Erhaltung der nationalen Wirtschaft und der Eindämmung der Corona-Krise postulieren; wie aus einem Lehrbuch für panische Rhetorik twittert Donald Trump am 23. März in Großbuchstaben „WE CANNOT LET THE CURE BE WORSE THAN THE PROBLEM ITSELF. AT THE END OF THE 15 DAY PERIOD, WE WILL MAKE A DECISION AS TO WHICH WAY WE WANT TO GO!“, während Dan Patrick, Senatspräsident in Texas, öffentlich von einem Heldentod älterer Menschen an Corona träumt — „in exchange for keeping the America that all America loves for your children and grandchildren“.

Wie die Phantasmagorie vom ‚Plünderer‘ mit der Diskriminierung von Armen und Minderheiten einhergeht, ist auch die panische Logik hinter der ‚souveränen Entscheidung‘ nicht abstrakt, sondern ideologisch gefärbt. Nicht zufällig verwendet Alan Blum in seinem Text neben einem Bombenanschlag in der Subway ausgerechnet Einsparungen im Bildungssystem als ein Beispiel: Hier wird ein permanenter wirtschaftlicher Notstand inszeniert, der immer wieder neue ‚drastische Maßnahmen‘ legitimiert. Es ist ebenso wenig ein Zufall, dass die Zustände in der Memorial-Klinik nach dem Hurrikan „Katrina“ so desolat waren, dass sich die Ärzt*innen ihrerseits zu Entscheidungen gezwungen sahen, die sie nie hätten treffen müssen — zur Krise trug bei, dass das Memorial wie viele andere Krankenhäuser in New Orleans aus Kostengründen vermieden hatte, sich gegen eine in dieser Region schließlich nicht unübliche Flut zu schützen. Der Tod der Kranken im Memorial wurde nach der Entscheidung der Ärzt*innen herbeigeführt, ist aber ebenso die Folge einer wirtschaftlich begründeten Verdrängung einer realen Gefahr; dass 2020 in Italien Ärzt*innen entscheiden müssen, welche Corona-Patient*innen überhaupt behandelt werden können, ist auch durch die mangelhafte Vorbereitung der Gesundheitssysteme weltweit bedingt. Trumps Spruch über die zu treffende Entscheidung ist in diesem Sinne doppelt zynisch — diese Entscheidung ist bereits und immer wieder dann getroffen worden, wenn in den USA das Gesundheitssystem zu einer sozialdarwinistischen Maßnahme umstrukturiert wurde. Auch diese Form einer panischen Logik, die auf drastische Maßnahmen und Opfer hinausläuft, ist letztlich reaktionäre Politik. Es ist bezeichnend, dass in diesem Diskurs gerade die weitaus weniger radikale und vielleicht im besten Sinne unsouveräne Maßnahme des ‚social distancing‘ gegenüber einem Verhalten preisgegeben werden soll, das den Tod von Menschen offen in Kauf nimmt.

„We can get ready, we don’t need to panic. We don’t need to hoard cans of spaghetti and hide in the basement“, sagte Bill Gates bei einem Ted-Talk 2015 in Bezug auf eine immer mögliche — und nun, fünf Jahre später, eingetretene — Pandemie. In einem historischen Kontext betrachtet ist Panik daher weniger die Reaktion auf ein katastrophales Ereignis, sondern die Folge dessen, nicht darauf vorbereitet gewesen zu sein. Die ‚Panikkäufe‘ von Nudeln und Toilettenpapier können wir so vielleicht als eine Sublimation verstehen, nachträglich noch viel bereiter zu sein; „I’m scared that other people will buy it all out before me, and when I actually need it I’ll have run out“, antwortete jemand dem Magazin VICE auf die Frage, warum er oder sie einen Einkaufswagen mit Toilettenpapier gefüllt habe. Die Panik bezieht sich hier erneut auf die Zukunft, und zudem auf das panische Verhalten anderer Leute; der tatsächliche Anlass liegt jedoch in der Vergangenheit, in der die Vorbereitung auf eine schließlich immer drohende Pandemie versäumt wurde. Die Ignoranz der Menschen gegenüber konkreten Bedrohungen ist sicherlich tief in der Psyche der Menschen verankert — bereits seit Jahrtausenden siedeln Menschen ungerührt neben aktiven Vulkanen oder in Erdbebengebieten. Dennoch ist unsere aktuelle, (post)industrielle kapitalistische Gesellschaft in besonderem Maße ideologisch dafür empfänglich; sie ist, um den Begriff von Ulrich Beck zu verwenden, eine Risikogesellschaft, die stets neue Risiken erzeugt — seien es Umweltkrisen, ‚Nebenwirkungen‘ oder eben der Zusammenbruch notwendiger Systeme, an deren Absicherung gespart wurde. Dies mag mit einer ‚anthropologischen Konstante‘ menschlicher Ignoranz zusammenhängen; dass unsere Gesellschaft in allen Aspekten durch die auf Spekulation und Risiko angelegte, ökonomische Logik der Geldwirtschaft durchdrungen ist, verschärft die Lage nur.

Die Sorge, dass nach Ausgangssperren und ‚social distancing‘ ganze Wirtschaftszweige lädiert hervorkommen könnten, ist nicht unbegründet. Dieses Risiko entsteht allerdings nicht durch diese Maßnahmen; es ist bereits da und eine grundsätzliche Eigenschaft unserer Gesellschaft, in der für viele eine Grundversorgung eben nicht gegeben ist und — gerade in der Selbständigkeit — auf eigenes Risiko erarbeitet werden muss. Die Antwort darauf, dass dieses riskante Spiel einer gesamten Gesellschaft nun angesichts einer Gesundheitskrise nicht aufgeht, kann nicht darin liegen, es in ein akutes Gesundheitsrisiko für unzählige Menschen ‚umzurechnen‘, wie es viele fordern — und danach eine weitere Runde des gleichen Spiels zu beginnen. Die Antwort muss sein, eine Gesellschaftsform zu entwickeln, in der das Risiko nicht länger ein gleichermaßen leitendes wie verdrängtes Prinzip ist. Wir können Panik — ob nun als Phantasmagorie oder am Supermarktregal — als den Moment sehen, an dem die Risikogesellschaft vor sich selbst erschrickt.

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Jacob Birken

Writer, researcher. Interested in ideas about history & historicity, and their mediation in arts & pop culture.