Verteidiger der Unfreiheit, Alamo 1836 / 2020
Es ist sehr einfach, historische Vorläufer zu den aktuellen Protesten in den USA zu finden. 1967 führten Übergriffe der Polizei auf die schwarze Bevölkerung Detroits zu Ausschreitungen; 1992 in Los Angeles war es der Freispruch für die Streifenpolizisten, die ein Jahr zuvor bei einer Verkehrskontrolle den Afroamerikaner Rodney King zusammengeschlagen hatten. Als Donald Trump Jr., Sohn des amtierenden Präsidenten der USA, am 1. Juni zu einem seiner üblichen Trollposts auf Facebook ansetzt, hat er einen anderen historischen Vergleich im Sinn. Mit der Bildunterschrift „Don’t mess with TEXAS“ kopiert er eine kurz zuvor auf der Facebook-Seite Freedom Fights veröffentlichte Zusammenstellung von zwei Bildern: Oben ein Historienschinken oder vielleicht eine Illustration unbekannter Provinienz, die die Schlacht von Alamo 1836 zeigt; unten eine aktuelle Aufnahme von einem Black-Lives-Matter-Protest am 30. Mai, der in der Innenstadt San Antonios vor der historischen Stätte dieser Schlacht stattfand. Oben wie unten ist eine nahezu identische Bildunterschrift zu lesen: „Texas Citizens defending the Alamo with Firearms“, dahinter jeweils in Klammern die Jahreszahlen 1836 oder 2020. In beiden Fällen ist das Wort „Citizens“ in etwas größerer Schrift gesetzt.
Was genau ist auf beiden Bildern zu sehen, und wie lässt es sich historisch in einen gemeinsamen Zusammenhang einordnen? Das obere Bild ist eine fiktionalisierte Ansicht einer realen Schlacht. Im Frühjahr 1836 belagerten mexikanische Truppen beinahe zwei Wochen lang das ehemalige Kloster Alamo, in dem einige texianische — so die damalige Bezeichnung für die angelsächsischen Siedler*innen in Texas — Soldaten stationiert waren. Texas war zu dieser Zeit noch Jahre davon entfernt, ein US-Bundesstaat zu sein. Zu „texanischen Bürgern“, wie das Bild auf Facebook sie bezeichnet, wurden diese Soldaten gewissermaßen erst im Prozess; die Belagerung von Alamo begann am 23. Februar, die Unabhängigkeitserklärung Texas’ von Mexico wurde am 2. März veröffentlicht. Erst im Dezember 1845 wurde Texas durch die USA annektiert, neun Jahre, nachdem die Texianer die mexikanischen Truppen unter dem Präsidenten Santa Anna vertrieben hatten. Alamo spielt in diesem Krieg — der auf dubiose Weise zugleich ein Bürgerkrieg und eine verzögerte Invasion ist — eine symbolische Rolle. Aus der Niederlage, bei der sämtliche der texianischen Soldaten ums Leben kamen, wurde ein Schlachtruf, der diese Revolution schließlich zum Sieg führte: Remember the Alamo!
Die territorialen Ansprüche der Texians waren die Folge einer noch unter spanischer Herrschaft etablierten Siedlungspolitik. Im Auftrag der spanischen und später mexikanischen Regierung rekrutierten sogenannte Empresarios Siedler*innen vor allem aus den USA, um Texas (land)wirtschaftlich zu erschließen. Die Texians gerieten dabei zunehmend in Konflikt mit der mexikanischen Regierung. Ihre Unabhängigkeitserklärung zählt zahlreiche grievances auf, die eine Abspaltung rechtfertigen sollen; darunter das Verbot einer eigenen politischen Repräsentation oder der freien Ausübung des eigenen Glaubens. Wie in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung von 1776 — und derjenigen Mexikos selbst, in 1821 — geht es um Freiheit als einen grundsätzlichen Wert, der das Individuum in seinem Verhältnis zum Staat betrifft. Entsprechend sind auch die grievances in der texanischen Unabhängigkeitserklärung gerahmt:
The Mexican Government, by its colonization laws, invited the Anglo American population of Texas to colonize its wilderness under the pledged faith of a written constitution, that they should continue to enjoy that constitutional liberty and republican government to which they had been habituated in the land of their birth, the United States of America.
Das Versagen der staatlichen Institutionen gegenüber den „people of Texas“ ließe so nur einen Schluss zu:
We are therefore forced to the melancholy conclusion, that the Mexican people have acquiesced in the destruction of their liberty, and the substitution therefor of a military government; that they are unfit to be free, and incapable of self government.
Die Befreiung von der Staatsangehörigkeit zum autoritär geführten Mexiko Santa Annas erscheint hier also als aufklärerischer Akt, als eine Befreiung von einer selbstverschuldeten Unmündigkeit, wie ihr sich die anderen Menschen Mexikos fügen. Wie immer in solchen humanistisch erscheinenden Zusammenhängen muss jedoch auch an diesem Moment danach gefragt werden, wer hier konkret befreit wird, um wessen Freiheit zu was es hier geht. Die 1836 beschlossene Verfassung ist sehr klar, was den Zugang zur Staatsangehörigkeit des unabhängigen Texas angeht:
All free white persons who shall emigrate to this republic, and who shall, after a residence of six months, make oath before some competent authority that he intends to reside permanently in the same, and shall swear to support this constitution, and that he will bear true allegiance to the republic of Texas, shall be entitled to all the privileges to citizenship.
Bereits die ersten Worte stellen klar, dass die Freiheiten dieses neuen Staates nicht für alle gelten. Ein weiterer Absatz auf der gleichen Seite der Verfassung führt explizit aus, wie hier die Unfreiheiten gehandhabt werden sollen:
All persons of color who were slaves for life previous to their emigration to Texas, and who are now held in bondage, shall remain in the like state of servitude: provided, the said slave shall be in the bona fide property of the person so holding said slave as aforesaid. Congress shall pass no laws to prohibit emigrants from bringing their slaves to the republic with them, and holding them by the same tenure by which such slaves were held in the United States; nor shall congress have power to emancipate slaves; nor shall any slave holder be allowed to emancipate his or her slave or slaves without the consent of congress, unless he or she shall send his or her slave or slaves without the limits of the republic.
Die Befreiung Texas’ aus der Unfreiheit des mexikanischen Staates schließt ein, die Befreiung versklavter Menschen per Verfassung zu verbieten. In Mexiko hatte Präsident Vincente Guerrero bereits 1829 die Sklaverei verboten; eine konkrete Umsetzung des Verbots im mexikanischen Texas selbst bleib zwar aus, war aber — wie die Passagen in der neuen Verfassung deutlich zeigen — eine Triebfeder für die Unabhängigkeitsbewegung. Die Schlacht um Alamo ist so auch eine Schlacht für die ‚Freiheit‘ gewesen, Menschen gewaltsam in Unfreiheit zu halten.
Dieser Zusammenhang wirkt bis heute nach, selbst wenn sich über das Verständnis von ‚Freiheit‘ und über das Verhältnis von Mensch und Staat in den USA weitere Schichten an widersprüchlichen Interpretationen und offenen Paradoxien abgelagert haben. Henry David Thoreau zieht in Civil Disobedience von 1848 einen entsprechenden Vergleich zwischen der amerikanischen Revolution von 1775 und dem Krieg gegen Mexiko, der 1846 nach der Annexion von Texas ausgebrochen war. Dass in dem einen Fall der Import von „certain foreign commodities“ allzu arg besteuert wurde, ist Thoreau nicht weiteren Aufhebens und sicherlich keiner Revolte wert — im Gegensatz dazu, wenn eine Regierung ausdrücklich Unterdrückung und Diebstahl organisiere:
In other words, when sixth of the population of a nation which has undertaken to be the refuge of liberty are slaves, and a whole country is unjustly overrun and conquered by a foreign army, and subjected to military law, I think that it is not too soon for honest men to rebel and revolutionize. What makes this duty the more urgent is the fact, that the country so overrun is not our own, but ours is the invading army.
Thoreaus Antwort darauf ist schlichtweg, die Zahlung von Steuern zu verweigern — zum einen, um sich nicht indirekt an den Handlungen der Staatsapparate zu beteiligen, zum anderen, weil damit die Subversion der Gerechtigkeit durch den Staat selbst unterminiert wird:
The proper place to-day, the only place which Massachusetts has provided for her freer and less desponding spirits, is in her prisons, to be put out and locked out of the State by her own act, as they have already put themselves out by their principles. It is there that the fugitive slave, and the Mexican prisoner on parole, and the Indian come to plead the wrongs of his race, should find them; on that separate, but more free and honorable ground, where the State places those who are not with her but against her, — the only house in a slave-state in which a free man can abide with honor.
Für Thoreau kann also auch Solidarität nur an einem Ort entstehen, an dem jede Komplizenschaft mit dem Staat ausgeschlossen wird. Welche Position Thoreau in der heutigen Krise in den USA einnehmen würde, ist ein müßiges Gedankenspiel. Die Sklaverei wurde in den USA erst nach dem Bürgerkrieg abgeschafft; der Rassismus blieb bestehen und wurde auf andere Weisen erneut institutionalisiert. Bereits im 19ten Jahrhundert beschrieben Ida B. Wells und Frederick Douglass, wie das sogenannte ‚Convict Leasing‘ effektiv die Sklaverei ersetzte, indem schwarze Männer kriminalisiert, inhaftiert und als Arbeitskräfte ‚verpachtet‘ wurden. Dieses System wurde bis ins 20te Jahrhundert weiterbetrieben; auch heute bleibt die Zahl schwarzer Männer in US-Gefängnissen demographisch überproportional — angesichts der Privatisierung des Strafvollzugs nur eine weitere Variante der historischen Partnerschaft von Wirtschaft und Rassismus. In diesen Zusammenhang gehört freilich auch die rassistische Polizeigewalt, die immer wieder und wieder Anlass für Proteste wie im Sommer 2020 bleibt.
Es ist in diesem Sinne kein Zufall, in wessen politischem Interesse es heute liegt, das ‚Andenken‘ an die Schlacht von Alamo zu bewahren. Die schwer bewaffneten „Bürger“, die auf dem unteren Bild in der Montage auf Facebook diese historische Stätte vor einem Black-Lives-Matter-Demonstranten ‚schützen‘, gehören der This is Texas Freedom Force an, einer paramilitärischen Gruppe, einer „nonprofit organization […] committed to protecting Texas History and Texan’s Rights“, wie die offizielle Website informiert. Die hier gemeinte Freiheit ist auf so spezifische Weise amerikanisch, dass vielleicht auch in diesem deutschsprachigen Text besser das Wort „Freedom“ verwendet werden sollte. Auf anderen Photos vom gleichen Tag ist auf manchen der Westen der Paramilitärs ein Aufnäher zu sehen: eine römische III, umringt von dreizehn Sternen. Das ist das Symbol der sogenannten Three Percenters, einer weiteren rechtsradikalen Bewegung — ein Verweis darauf, dass angeblich nur drei Prozent der Bürger*innen der ersten dreizehn Kolonien die Waffen gegen die britische Herrschaft erhoben. Die Freiheit, die hier gemeint ist, bezieht sich vorgeblich auf das Right to Bear Arms, das Tragen von Waffen, mit denen laut dem Second Amendment der US-Verfassung der föderalen Regierung untersagt ist, die Menschen der ‚freien Staaten‘ zu entwaffnen. Auf ihrer Website verkauft die This is Texas Freedom Force ein T-Shirt, auf dessen Rückseite die folgenden Sätze aufgedruckt sind: „Liberty is not something a government gives you. It is a right that no government can legally take away.“ In einer Situation, in der paramilitärische Milizen wie diejenigen vor dem Alamo die gleichen Interessen verfolgen wie ein Präsident, der angesichts der aktuellen Proteste mit einer Militärbesatzung amerikanischer Städte droht, klingen solche Sätze besonders paradox. Sie haben aber gerade in dieser Widersprüchlichkeit eine schon Jahrhunderte alte Tradition. Falls die Schlacht von Alamo geführt wurde, um einer tatsächlich autokratischen Regierung Santa Annas entgegenzutreten, ist dies 2020 vollends auf ein ganz bestimmtes Konzept von Freiheit (oder Freedom) reduziert — der Freiheit, ungehindert gegen andere (im Zweifelsfall schwarze) Menschen Gewalt ausüben zu können.