Die Kriege der Zukunft: Goldenes Gespenst
Teil 1
Was bisher geschah: Aus den Tiefen des Weltalls kommt die Morgenröte, einst als Kolonieschiff ins Exil gezogen und jetzt zurück, um die alte Galaxis nach ihrem Willen zu kolonisieren. Mit ihren Schocktaktiken konnte die Armee der Morgenröte auf dem abgelegenen Planeten Dunhuang Siebzehn gleich mehrere Städte besetzen, doch bald merken die Truppen um die ambitionierte Militärfamilie der Debros, dass nur mit Schocktaktiken kein Staat zu machen ist. Mittendrin im Chaos der Reiseschriftsteller Elvis Eric Late, den das martialische Spektakel nicht weniger interessieren könnte, der aber mit untrüglichem Gespür immer zur falschen Zeit am falschen Ort landet.
Ich sollte nicht einfach sofort die Tür aufmachen, dachte Elvis, als er die zwei sehr unterschiedlichen Figuren im Treppenhaus vor sich sah. Tatsächlich waren es drei, doch den bärtigen Riesen im Hintergrund nahm er erst wahr, nachdem er die beiden davor visuell und emotionell verarbeitet hatte.
„Du hast dich verändert“, sagte Rachel.
„Habt ihr euch verändert?“, fragte Elvis, obwohl Rachel ganz die alte war und Lucia Lem zwar sichtlich gealtert, aber immer noch irgendwie jugendlich. Lucia trug die schwarze Uniform der Patrouille und Rachel einen der üblichen Säcke von ihrem Planeten; in ihrem Haar steckte eine Blume, die Elvis aus dem benachbarten Park erkannte. Gar nichts hat sich verändert, dachte er und meinte vor allem sich selbst. „Kommt halt rein“, sagte er und trat beiseite. Es war recht früh am Nachmittag, und er hatte gerade ein wenig geschrieben und überlegt, etwas zu kochen oder bei Charles und Maria anzuklopfen oder einfach in die Stadt zu gehen. Das schien sich erübrigt zu haben.
„Ich bin Jin Dahl“, sagte der Riese und legte freundlich beim Eintreten einen Arm um Elvis Schultern, vielleicht eine Angewohnheit oder die bessere Alternative dazu, jemandem beim Händeschütteln aus Versehen die Finger zu zermalmen. Auch er trug eine Uniform der Patrouille; zusammen mit dem wilden roten Bart und Schopf ließ ihn das enganliegende schwarze Teil wirken, als wäre da gerade irgendeine antike Gottheit aus einem Vulkan oder einer anderen Untiefe gestiegen.
„Wollt ihr einen Tee?“, fragte Elvis, während Lucia ihre Schuhe auszog und ordentlich neben der Kommode im Flur aufreihte.
„Einen Kaffee, vielleicht“, sagte sie ernst, als würde dieser eher der Lage entsprechen.
„Irgend etwas“, sagte Rachel fröhlich und rückte eine Vase auf der Kommode einen Zentimeter zur Seite, wo sie auf jeden Fall viel besser stand.
„Ja“, rief Jin Dahl nicht minder fröhlich, „irgend etwas!“
„Setzt euch“, sagte Elvis und deutete ins Wohnzimmer, bevor er in die Küche ging, um den Tee und für Lucia einen Kaffee aufzusetzen. Als er mit alledem auf einem Tablett das Wohnzimmer betrat, hatte nur Lucia sich gesetzt. Jin Dahl kauerte auf dem Teppich und streckte einer der Katzen einen astdicken Zeigefinger hin. Die Katze wirkte neugierig, aber vorsichtig. Elvis hoffte, dass sie wusste, was sie tat.
Rachel stand an einem Fenster und sah in die Stadt hinaus. Sie wirkte sehr friedlich, eine große, alterslose Frau mit den kupfernen Haaren und metallischen Hautpigmenten der Menschen von Selene, die jetzt weich im Sonnenlicht schimmerten. Aber dass die beiden von der Patrouille und sie hier waren stellte bereits klar, dass es um nichts Friedliches gehen konnte. Schade, dachte Elvis und trug das Tablett zu Lucia hinüber, die in ihrem Sessel bereits von zwei anderen von Elvis’ Katzen belagert wurde.
„Danke“, sagte sie und nahm sich ihren Kaffee. Elvis stellte das Tablett auf den kleinen Tisch zwischen den Sesseln und hob stattdessen eine der Katzen auf.
„Ich war lange nicht mehr auf der Erde“, sagte Rachel. „Gefällt es dir hier?“
„Ich denke schon“, sagte Elvis; immerhin war er einfach hierher zurückgekommen, nach allem, was auf Dunhuang Siebzehn passiert war, und bis heute geblieben. Nichts sprach dagegen, dass er weiter hier bleiben würde, für immer, wie er ansonsten wohl für immer in seinem Haus im Sumpf geblieben wäre. Nichts hatte dagegen gesprochen, bevor diese Drei durch die Wohnungstür getreten waren. Ein ungutes Gefühl überkam Elvis, bis selbst die Katze sich lieber aus seinen Armen wand und in den Flur trottete.
„Die Morgenröte ist wieder da“, sagte Lucia und nippte an ihrem Kaffee.
„Ja“, sagte Elvis. Das war nichts, was man ihm oder irgendwem anderen in dieser Galaxis hätte sagen müssen; das fürchterliche Schiff der goldenen Armee war seit Wochen überall zu sehen. Jahre nach der Invasion von Dunhuang Siebzehn war es schließlich bei einem der fernen Planeten aufgetaucht, die einst die Befreiten Sektoren ausgemacht hatten. Nach den ganzen Geschichten darüber hatte Elvis nie das Bedürfnis verspürt, diese Region zu besuchen; dass die Morgenröte nun ausgerechnet dort angekommen war, hatte ihn ebenso irritiert wie beruhigt. Vielleicht passen sie ja dorthin, hatte er gedacht. Nach Dunhuang Siebzehn hatten sie jedenfalls nicht gepasst, was, wie Elvis weiterhin fand, wirklich nicht an diesem Planeten lag. Trotzdem war er weder geblieben noch jemals dorthin zurückgekehrt, sondern hatte auf der Erde schnell wieder in seine alte Rolle zurückgefunden; als Reiseschriftsteller, der zwischendurch auf Dunhuang Siebzehn ein besonders außergewöhnliches Abenteuer erlebt hatte. Dass es dann niedergeschrieben eben als Abenteuer daherkam, war Elvis nicht ganz geheuer und möglicherweise der Grund, warum er sich seitdem von Dunhuang Siebzehn fernhielt: denn in seiner Erinnerung und sicherlich erst recht derjenigen der Menschen, die dort lebten, war die Invasion keineswegs etwas Abenteuerliches gewesen, und als Charles’ und Marias junge Tochter vor einiger Zeit auf den Planeten gezogen war, um dort, wie sie sagte, beim Wiederaufbau zu helfen, hatte er bei Gesprächen schnell das Thema in eine andere Richtung gelenkt.
Rachel schimmerte weiter friedlich vorm Fenster. Sie hatte zweifellos ihre eigene Geschichte von Dunhuang Siebzehn zu erzählen, und auch diese würde kein Abenteuer sein; allerdings hatte sie danach keinen Reise-, sondern allenfalls einen Einsatzbericht darüber geschrieben. In Elvis’ Bericht über die Invasion kam Rachel nicht vor. Seine Beschreibung endete damit, wie ihn Sergeant Benedict — den Namen hatte er sich schließlich gemerkt — vor dem Offizier der goldenen Armee rettete, und setzte erst einige Tage später wieder an, als die Morgenröte abgezogen war und die Menschen in der Stadt begannen, aus den Trümmern des Ganzen wieder ihre früheren Leben zusammenzusuchen. Da war Rachel bereits so schnell wieder verschwunden, wie sie zuvor aufgetaucht war (als Elvis mit Bayan oder anderen aus der Stadt über die letzten Tage des Krieges sprach, hatten sie von den maskierten Leuten von Selene nicht einmal etwas gehört).
„Es kann nicht sein, dass wir ihnen Gliese Pacifica einfach überlassen“, setzte Lucia erneut an.
„Nicht?“, fragte Elvis und goss Tee in die drei Tassen auf dem Tablett. Auch dieses Mal hatte die Morgenröte alle überrumpelt, und dazu hatte sie nicht einmal ihren Puls gebraucht, sondern letztlich davon profitiert, dass irgendwer auf Gliese Pacifica schlichtweg die eigenen Verteidigungsanlagen sabotiert hatte.
Lucia rückte in ihrem Sessel herum. „Wir haben euch damals in Stich gelassen, auf Dunhuang Siebzehn. Jetzt fängt alles wieder an, wieder ganz falsch an.“
„Hast du von Gliese Noctis gehört“, sagte Jin Dahl und stand auf, um schließlich zur Couch zu trotten. Selbst in dem Dreisitzer schien er relativ mehr Platz einzunehmen als Lucia auf ihrem Sessel. „Wir mussten eine Entscheidung treffen. Sie war nicht gut, aber keine andere wäre besser gewesen.“
„Ich verstehe. Aber was hat das mit mir zu tun“, sagte Elvis, obwohl ihm sofort einige Antworten einfielen. Rachel musste wohl genau deswegen lachen. Sie setzte sich neben den Tisch auf den Boden und nahm sich eine der Tassen, während die Katzen sie aus einigem Abstand beäugten. Ich habe sie nie gefragt, wie sie es mit Tieren hält, dachte Elvis.
Lucia seufzte. „Es ist so“, sagte sie und starrte stoisch zur Decke. „Gliese Pacifica gehört nicht zur Res Publica. Wir, die Patrouille, haben die Systeme des Regimes neutralisiert und mit der Übergangsregierung zusammengearbeitet, aber der Planet bleibt unter eigener Verwaltung. Wenn die Res Publica die Garde schicken würde, um Gliese Pacifica zu retten, würde das im schlimmsten Fall wirken, als käme zu der einen Invasion jetzt die zweite dazu.“
„Ihr seid aber nicht die Res Publica, oder“, sagte Elvis.
„Die Galaktische Patrouille ist keine Armee“, sagte Lucia. „Es muss hier aber um einen multilateralen Einsatz gehen. Die Res Publica, Selene, Trappist’s Merveille, euer System. Dafür gibt es jetzt eine neue, unabhängige Organisation.“
„Die Galaktische Wache“, sagte Jin Dahl enthusiastisch, als wäre er nur zu dem Gespräch dazugekommen, um diesen Namen einzuwerfen.
„Ach so“, sagte Elvis, der bereits nicht verstand, auf welcher rechtlichen oder politischen Grundlage die Galaktische Patrouille eine unabhängige Organisation war.
„Die Res Publica darf dabei nicht den Großteil der Truppen stellen. Das ist wahrscheinlich die beste Lösung, um mit der Situation jetzt umzugehen.“
„Aber was hat das mit mir zu tun“, sagte Elvis wieder. „Ich bin kein Soldat. Wir haben so etwas nicht einmal, wir haben das nie gebraucht.“
„Das ist genau der Punkt. Du könntest euren Planeten bei diesem Einsatz vertreten, und gleichzeitig ein Beobachter sein. Damit würdest du zwei Funktionen füllen.“
„Das habt ihr euch doch ausgedacht“, sagte Elvis.
„Ich bin auch nur hier, weil ich bei der Galaktischen Patrouille und nicht der Wache bin“, sagte Lucia. „Als unabhängige Vermittlerin.“
„Es ist ein Experiment“, sagte Jin Dahl, „aber wir müssen es ausprobieren. Es geht um einen Planeten. Das ist nicht unser Planet, aber … das macht es nicht weniger zu einem Planeten.“
Oh nein, dachte Elvis. Was auch immer sie sich ausgedacht haben, es ist bereits viel zu groß, dass ich noch dagegen ankäme. Alle haben darin ihre Rolle zu spielen, und ich wusste einfach nur nicht, dass wir schon angefangen haben. Rachel schaute ihn mit dem nachsichtigen Lächeln an, das er nach all den Jahren nicht vergessen hatte. Sie meinte es gut, aber wahrscheinlich aus einer ganz anderen Perspektive, von der aus es notwendig war, dass sie eben alle ihre Rollen in einem interplanetarischen Krieg spielten. „Habt ihr auch Hunger“, sagte er und stand auf, „da ist eine gute Kneipe, die müssten schon offen haben.“
„Aber nicht zu weit weg“, sagte Lucia, „du solltest besser heute schon packen.“
⭐️
Nach gut einem Jahrzehnt bei der Galaktischen Patrouille, auf unterschiedlichsten Raumfahrzeugen und Planeten gab es kaum eine Situation, die Duncan aus dem Gleichgewicht bringen konnte, aber in den Regierungsgebäuden der Befreiten Sektoren wurde ihm unweigerlich schwindlig. Wie in den meisten Neubauten dieser Stadt hatte die Integrierte Zivile Auswertung die Architektur gemäß der Menschenströme berechnet, die durch die Hallen und Korridore geleitet werden sollten; nichts war hier ganz gerade, alles verjüngte und verzweigte sich wie die Blutgefäße irgendeines gewaltigen Organismus. Die Integrierte Zivile Auswertung war gut im Rechnen gewesen, aber jetzt war sie längst ausgeschaltet und die Parameter dieses Gebäudes ganz andere; wo damals hunderte oder tausende Menschen täglich ihren Zielorten zugeführt werden sollten, schlichen nun Duncan und Bess im Halbdunkel durch die leeren Gänge. Nichts stimmte, von den Winkeln der Böden hin zu den Dimensionen und den Krümmungen der Passagen. Zuvor wäre damit geregelt gewesen, mit welcher Geschwindigkeit sich die Menschen optimal im Gebäude verteilten, doch dafür fehlte jetzt die zu verteilende Menge. Duncan spürte, wie ihm die Architektur eine Laufgeschwindigkeit aufzwang, und stolperte beinahe, als er dem einen eigenen Rhythmus entgegenzusetzen versuchte.
„Ruhig“, flüsterte Bess. Das Archiv war längst verlassen, die hier untergebrachten Datenspeicher entfernt, von der Galaktischen Patrouille beschlagnahmt oder zuvor von Leuten einkassiert, die darin zur Erpressung taugliches Material befürchteten oder erhofften. Heute war das alles belanglos, aber Duncan und Bess konnten die labyrinthisch gewordenen Gänge und leeren Kammern gut gebrauchen. Das Gebäude war gewissermaßen wieder zu einem Archiv geworden — sorgfältig versteckt lagerten im Keller mittlerweile Tausende der kleinen Scheiben, auf denen die Menschen ihre Leben aufzeichneten, und von denen immer mehr und mehr in ihre Obhut gelangten. Diese Angelegenheit hatte sich eher zufällig ergeben, zuerst nur ein Freundschaftsdienst für ein paar Leute, die ihre Aufzeichnungen nicht bei sich behalten wollten. Aus gutem Grund, denn die Rekonstruktion der Menschen, die in diesen Zeiten auf Gliese Pacifica ums Leben kamen, war von einer privaten zu einer politischen Angelegenheit geworden.
Ihr Kontaktmann wartete in einem Aufenthaltsraum, der sich an der Kreuzung mehrerer der Arterien dieses Gebäudes aufspannte. Die Hände in den Taschen seines Kapuzenpullovers lehnte er an der kleinen Mauer um einen der runden Schächte, die überall die Böden und Decken perforierten. „Alles klar?“, sagte Duncan. Der Mann nickte nur und behielt die Hände in den Taschen, aber Duncan hatte mittlerweile einen Blick dafür, ob Hände in den Taschen noch etwas anderes verbargen und sah hier keine Gefahr. „Lass uns woanders hingehen“, sagte er trotzdem. Sie waren im Gebäude sonst niemandem begegnet und es gab auch keinen Anlass anzunehmen, dass sich jemand hierher verirren würde, aber Wände und mindestens eine Tür wären gut. Eine Korridorbiegung weiter fanden sie ein Besprechungszimmer, einen schummerigen länglichen Raum mit einem ovalen Glastisch, mit dem Staub mehrerer Jahre verkrustet wie die Sessel um ihn herum. Duncan setzte sich lieber auf den Rand einer Anrichte.
Bess befreite sich aus dem massiven Schal, der unter der Kapuze das meiste ihres Gesichts verborgen hatte. „Erst die Karte“, sagte sie und fischte aus einer Innentasche ein Heft und Buntstifte heraus, um die Fronten nachzutragen, die sie in der Umgebung auf dem Weg hierher ausgemacht hatten; die Wachposten auf den Dächern oder den Straßenecken, die zu provisorischen Bunkern verbarrikadierten Erdgeschosse oder die allzu unauffällig leerstehenden Wohnungen, die jemandem als Rückzugsort dienen sollten. Der Kontaktmann schaute über Duncans Schulter zu, wie Bess Linien und Kringel und Kürzel auf dem Stadtplan verteilte.
„Bevor wir es wieder vergessen“, sagte Duncan. Der Mann sagte nichts. Er war fahl, die Augenringe fast noch dunkler als die Bartstoppeln. Niemand, der von der aktuellen Lage profitiert hatte; ein mittelalter Lehrer, der unter dem Regime eher aus Pech die schlimmsten Erfahrungen gemacht und es persönlich genug genommen hatte, um für die Sache alles zu riskieren, aber nicht so persönlich, um bei irgendwem einen bleibenden Eindruck zu hinterlassen. Zumindest im Moment arbeitete Duncan gerne mit dieser Art von Menschen zusammen. „Was hast du für uns?“, fragte er, nachdem ihnen für die Karte nichts weiter eingefallen war.
Der Mann hob nur eine Augenbraue, bevor er aus seiner Jacke einen gepolsterten Umschlag zog. Darin war ein Buch, dass er jedoch achtlos auf die Anrichte legte, um gleich den gesamten Umschlag auf einer Seite auf- und dann das Polster herauszureissen.
„Nicht dein Ernst“, sagte Bess, als hinter dem Polster mehrere Dutzend kleiner Scheiben zum Vorschein kamen; die Aufzeichnungen gesamter Familien oder Nachbarschaften.
„Gute Arbeit“, sagte Duncan und klopfte dem Mann auf die Schulter. Oft genug hatten ihnen Leute eine oder zwei der Scheiben in die Hand gedrückt; nicht das Risiko oder den Aufwand wert, ins Archiv zu schleichen, aber dafür mit der unangenehmen Verantwortung verbunden, derweil jemandes Leben mit sich zu tragen. Duncan entfernte die Scheiben vorsichtig von der klebrigen Pappe. Die Menschen richteten sich in der neuen Situation ein: Nach dem Sturz des Regimes auf Gliese Pacifica waren viele erleichtert gewesen, wieder selbst über ihre Aufzeichnungen verfügen zu können, anstatt sie der Integrierten Zivilen Auswertung zu überantworten; jetzt war gerade dies zu einem Risiko geworden.
„Ich habe meinen Cousin gesehen, wie er gegen sich kämpfen musste“, sagte der Mann plötzlich in die Stille hinein, „gestern, in der Arena.“
„In der Arena“, wiederholte Duncan. Bess atmete durch die Zähne aus, ein schneidender Zischlaut, als hätte eine Maschine gerade etwas präzise zweigeteilt. Sie hatte für diese neue Institution nur Verachtung übrig, und Duncan traute es Bess zu, irgendwann einen Anschlag darauf zu verüben, so wie sie fast ihr halbes Leben zuvor damit verbracht hatte, Anschläge auf die Einrichtungen der Befreiten Sektoren zu verüben. „Das tut mir leid“, sagte er, während er die letzte Scheibe von der Pappe löste. Viele Menschen starben in diesem Krieg, aber noch war es ein leichtes, sie zu rekonstruieren; die Frage war nur, wer sie wann rekonstruierte. Die Armee der Morgenröte machte einen Punkt daraus, Gefangene zu nehmen, und wer durch ihre Waffen zu Tode gekommen war, fand sich meistens bald in einem ihrer Lager rekonstruiert wieder. Doch der manische Krieg, der diesen Planeten in immer weitere Fronten zerteilte, machte nicht vor den Menschen selbst halt. Einige der unzähligen Parteien — Duncan notierte jeden Tag mehrere neu formierte Splittergruppen, alle untereinander verfeindet oder bestenfalls misstrauisch alliiert — waren dazu übergegangen, Kopien der Aufzeichnungen ihrer Mitglieder anzulegen oder sogar diejenigen von anderen zu stehlen, und so führte der Tod mitunter dazu, dass dieselbe Person zwei- oder gleich mehrfach rekonstruiert und von der jeweiligen Partei in Anspruch genommen wurde. Nicht nur die Armee der Morgenröte löste dies damit, dass sie die rekonstruierten Leute auf ihre Doppel ansetzte, und die Arena war einer der Orte, an denen dies ausgetragen wurde.
„Noch etwas“, sagte der Mann. „Die große Messehalle. Da hat sich die Sektoriale Selbstverwaltung eingerichtet. Da ist ihr Arsenal. Und Aufzeichnungen, tausende Aufzeichnungen.“
„Gute Arbeit“, sagte Duncan wieder. „Aber macht nichts auf eigene Faust. Das ist eine Nummer zu groß, für euch. Für uns auch.“ Die Sektoriale Selbstverwaltung war unter den Parteien auf Gliese Pacifica diejenige, die am ehesten als Wiedergänger des alten Regimes gelten konnte: Ehemalige Militär- und Verwaltungsleute, die das Chaos als Chance sahen, um die frühere Ordnung wieder herzustellen. Ohne die Allgegenwart der Integrierten Zivilen Auswertung waren sie nur eine bewaffnete Bande, die sich als Regime verkleidete, doch selbst das war freilich genug, um die Gegend in Angst zu versetzen und selbst die Truppen der Morgenröte fernzuhalten. Duncan hatte gewusst, dass sie den Norden der Stadt beherrschten, aber jetzt hatten sie eine Adresse.
⭐️⭐️
Die Morgenröte war zwar einst ein Kolonieschiff gewesen, doch das hieß vor allem, Menschen im Kälteschlaf einzulagern, bis sie irgendwo ankamen. Jetzt waren alle wach, und Abelia stand vor unerwarteten logistischen Problemen. Der Großteil der Truppen war auf dem Planeten, nur mussten auch sie versorgt und gegebenenfalls rekonstruiert werden, solange die notwendigen Einrichtungen unten nicht zur Verfügung standen (Abelia hatte aufgehört, das ‚noch‘ in dem ‚noch nicht‘ ernstzunehmen, das sie dann immer zu hören bekam). Fakt war jedenfalls, dass es auf dem Schiff eine begrenzte Anzahl von Schlafplätzen gab und weder genug Ressourcen noch Einrichtungen, um die Besatzung und Armee über längere Zeit zu verpflegen. Bei der Invasion des ersten Planeten schien es, als wären sie in eine Speisekammer eingebrochen; dieser Planet war etwas ganz anderes. Dieser Planet schien vielmehr ihre Truppen geschluckt zu haben. Nicht, dass sie verschollen waren — Nachrichten von den Bataillons am Boden erreichten sie alle paar Minuten, wenn nicht ohnehin einer der Transporter bei der Morgenröte selbst ankam. Nein, die Truppen waren auf dem Planeten und würden dort bleiben, schienen jedoch kaum in der Lage, dort eigene Infrastrukturen aufzubauen — dafür waren sie zu sehr damit beschäftigt, den Überblick über eine sich ständig ändernde Situation zu behalten. Und, dachte Abelia, zu sehr mit ihren eigenen Projekten beschäftigt. Der Planet hatte die Truppen der Morgenröte geschluckt, weil sie nicht länger einem gemeinsamen Projekt folgten; bisweilen hatte Abelia das Gefühl, dass sich viele als Fremde begegneten, sobald sie wieder auf dem Schiff zusammenkamen. Selbst manche Namen — vertraute Namen — waren verschwunden, weil sich niemand mehr fand, der über sie, geschweige denn mit ihnen sprechen wollte. Dafür zirkulierten andere, neue Namen, oft nicht einmal mehr wie diejenigen von Personen, sondern vielmehr von Gerüchten oder Dingen, die sich auf diesem Planeten ereigneten. Das Goldene Gespenst. Abelia fand das alles lächerlich und gerade deswegen beängstigend, ein irrationales Gefühl, das den Unfug da unten spiegelte.
Sobald sie es rational betrachtete, war all das kein so großes Problem mehr. Falls es derart unterschiedliche Ansätze gab, diesen Planeten zu erobern, wäre es nur förderlich, sie alle durchzuspielen: Aus dem Chaos würden dann diejenigen wieder hervorkommen, die wirklich klar sahen. Darüber hinaus galt ihre Loyalität der Morgenröte selbst, und bereits mehrfach hatte sie sich geärgert, gerade in dieser Phase der planetaren Invasion aus dem Kälteschlaf geweckt worden zu sein und darüber die Jahre verpasst zu haben, die sie im All unterwegs gewesen waren. Entnervt blätterte sie durch die Listen der Besatzung und der Truppen und der Ressourcen. Wir sollten sie sich selbst überlassen, da unten, dachte sie und wusste, dass sie mit dieser Einstellung sogar auf der Brücke der Morgenröte nicht alleine stand. Das änderte nichts daran, dass sie hier eine Aufgabe hatte. Sie rief ein Hologramm des Schiffes auf und ließ es langsam über ihrem Pult rotieren. Die Gefangenen, dachte sie. Sie nehmen zu viel Raum ein. Es hatte Überlegungen gegeben, die Gefangenen in Kälteschlaf zu versetzen, aber andere wandten ein, dass dies die Funktion der Gefangenschaft unterwandern würde; obwohl Abelia die Logik dahinter nicht ganz verstand, konnte sie sie ausreichend nachfühlen. Allerdings gab es keinen Grund, warum die Gefangenen auf der Morgenröte bleiben mussten. Wofür brauchen wir sie hier, dachte sie. Sie könnten ebenso auf dem Planeten irgendwo festgehalten werden; ohnehin wären sie dort nicht weniger fremd und unerwünscht als wir. Vielleicht war das sogar mit einem der Projekte dort unten vereinbar. Das ist eine gute Idee, dachte Abelia. Ob sie sich durchsetzen ließ würde sich noch zeigen, jedenfalls war es an der Zeit, herauszufinden, wer aus welchem Grund auf der Morgenröte blieb.
⭐️⭐️⭐️
Der Weg zur Messehalle war viel zu lang und hätte über eine ganze Reihe von Fronten geführt, zwischen die sie auf gar keinen Fall geraten wollte, aber Bess testete gerne, wie weit sie an einem Tag und in einer Richtung kommen würde. Sie hatte sich wieder in den Schal gehüllt und die Kapuze aufgesetzt, doch derart vermummt aus dem Haus zu gehen war mittlerweile einer der üblichen Kleidungsstile der Zivilbevölkerung geworden, als würde selbst an einem solchen freundlichen Frühlingstag ein schneidender Wind durch die Straßen wehen. Bess war eine Weile die Allee entlanggelaufen, an der das Archiv lag, und dann in eines der sichereren Viertel abgebogen, bevor der Weg sie ins Zentrum und an eine der Fronten geführt hätte. Duncan war im Archiv geblieben, um die neuen Aufzeichnungen einzutragen; das würde Zeit, aber keine zwei Personen brauchen. Sie würden später die nächsten Schritte planen.
Ein paar Biegungen weiter fand sie die Hauptstraße, die durch diese Gegend führte. Das Viertel hatte eine gewisse Gleichgültigkeit gegenüber der Invasion bewahrt; weder setzten die Menschen den Truppen der Morgenröte allzu viel entgegen, noch waren letztere allzu interessiert, hier Fuß zu fassen. Dennoch hatte sich alles verändert. Menschen aus anderen Vierteln waren zugezogen, vielleicht, weil ihre Häuser besetzt oder einfach zerstört worden waren, vielleicht, weil es hier eben einigermaßen ruhig blieb. Jetzt teilten sich mehrere Familien die nicht allzu großen Wohnungen, und so viel wie möglich des Lebens hatte sich auf die Straße oder zumindest die Balkone verlagert. Es war eng geworden. Alle schienen einander im Weg zu stehen oder gerade irgendetwas wegräumen zu müssen, damit jemand anderes an seinen Kram konnte. Hier und da waren trotzdem gemeinschaftliche Orte entstanden, Straßenecken, an denen Leute für alle Kaffee oder eine Suppe kochten. Hinter den Häusern sah sie bereits das Hochhaus des Büros für innere und äußere Grenzangelegenheiten aufragen. Jahrelang hatte Bess fantasiert, dieses Gebäude dem Erdboden gleichzumachen; dann war das Regime abgesetzt und das Büro aufgelöst worden. Mittlerweile hauste darin eine irrelevante Splittergruppe von der Morgenröte, doch das Hochhaus verfolgte Bess weiterhin, sobald sie dem Stadtzentrum näher kam. Auch jetzt hatte es sie abgelenkt, und so stellte sie plötzlich fest, dass die Menschen in der Straße und auf den Balkonen längst nervös in eine Richtung starrten. Dann sah sie selbst in der Ferne die goldenen Rüstungen glänzen.
Wenn sie sich nicht gerade an einer der Fronten befanden, waren die Truppen der Morgenröte keine unmittelbare Gefahr. Bess hasste sie nicht einmal: Sie waren weniger wie Einbrecher und mehr wie Bekannte, die sich beim Besuch aus Ungestüm wirklich sehr danebenbenommen hatten. Das Problem war nur, dass sie immer noch da waren. Sie hätte Zeit gehabt, um einfach umzudrehen und in der nächsten Seitenstraße zu verschwinden, aber Bess suchte sich lieber einen freien Stuhl an der nächsten Ecke, wo jemand in einem riesigen Kocher Tee aufbrühte und genug lethargische Menschen zusammensaßen, damit auch sie niemandem auffallen würde. Bess hatte kein Gedächtnis für Details, aber in den Jahren im Untergrund eines für Situationen entwickelt. Die Vergangenheit blieb neblig, doch sie wusste recht genau, wo dieser Nebel Stolperfallen oder Abgründe verbarg. Hier war ich schon mal, dachte sie; es war okay, kein gefährlicher Ort. Sie lockerte ihren Schal und schob ihn unters Kinn. Zwischen den Leuten aus diesem Viertel und den Truppen der Morgenröte war die Lage bereits zu kompliziert, um noch über eine vermummte Fremde zu rätseln. Sie lächelte dem Mann am Teekocher zu. Er stellte ihr ein Glas mit dem heißen braunen Zeug hin, ohne die Augen von den Truppen zu nehmen, die jetzt nur zwei Kreuzungen von ihnen entfernt waren.
Kein gefährlicher Ort, dachte Bess wieder und nahm schließlich die Kapuze ab. Sie registrierte ein einige abfällige Blicke, während sie Haare und Fell in Ordnung brachte. Das war nicht weiter wichtig. Bess hatte sich diese Modifikation ausgesucht, als sie noch ein Teenager gewesen war; damals hatte sie dadurch niedlich aussehen wollen, aber rückblickend wusste sie nicht mehr recht, was dieser Begriff genau bedeuten sollte. Niedlich war nicht etwas, was jemanden in Gefahr bringen sollte. Zu allem Überfluss war es ihr nicht einmal wichtig, ein Spiel mit den Möglichkeiten, die die Biomasse hergab, ein paar dekorative Tierassoziationen statt den üblichen Menschenformen. Doch in den Befreiten Sektoren waltete damals das Büro für Innere und Äußere Grenzangelegenheiten, und dem Büro lag viel daran, Möglichkeiten Grenzen zu setzen: Danach war Bess nicht länger niedlich, sondern verboten. In diesen jungen Jahren hatte sie das als Verrat erlebt und sich — noch schlimmer — selbst zur Verräterin gemacht gefühlt, wenn ihre triviale Modifikation nun in gleichem Maße ungerechtfertigt geahndet wurde wie diejenigen von Leuten, die damit ein wirkliches Anliegen hatten. Das Büro für Innere und Äußere Grenzangelegenheiten unterschied jedoch nur zwischen dem Innen und Außen seiner Grenzen, wie auch die Apparate der Integrierten Zivilen Auswertung nur unterschieden, ob ein DNA-Satz den Anforderungen entsprach oder nicht.
Die Apparate waren sehr effizient darin, aber Bess hatte keinerlei Respekt davor; ganz im Gegenteil wurde sie zu einer permanenten Mutation, stets auf der Suche nach einem neuen Genotyp, der sich den Apparaten entzog oder sie auf eine falsche Fährte brachte, sie aus den irgendwo herausgefilterten Hautschuppen oder Haaren eine Person berechnen ließ, die es so gar nicht gab; eine Person vielleicht, die von den Algorithmen der Integrierten Zivilen Auswertung zum Phänotypen modelliert plötzlich aussah wie ein ranghoher Funktionär des Regimes selbst und nicht im entferntesten wie Bess in ihrem jeweils aktuellen Zustand. Bess hatte sich instabil gemacht, um das System zu destabilisieren. Bald wurde sie vor dem Spiegel beinahe wütend, wenn sie an ihr altes Gesicht dachte, als hätte es ihr eine tiefe Enttäuschung zugefügt. Niedlich, das war irgendwann ein Wort für kollektives moralisches Versagen geworden.
Mit dem Sturz des Regimes hatte Bess das Mutieren sein lassen und war zu der Version ihrer selbst aus der Zeit zurückgekehrt, als das alles begonnen hatte, nur doppelt so alt, doppelt so müde und zumindest genauso wütend. Vielleicht würde sie eines Tages zu ihrem ganz gewöhnlichen Menschenkörper zurückkehren, aber vielleicht war das erst angebracht, wenn es keinen Unterschied machte. Das schien weiterhin nicht der Fall, obwohl die Leute von der Morgenröte sie zumindest nicht ermorden wollten. Modifizierte Menschen schienen sie vor allem interessant zu finden; bereits mehrfach hatten sie Bess in Gespräche darüber verwickelt, welche Art von Sinneseindruck nun ein Pelz verschaffte, und einmal verbrachte sie eine lästige Viertelstunde damit, die peinlich ausgedachten Dialoge zwischen zwei der Soldaten in einer Menschenmenge zu belauschen, nur um ihnen ihr verbessertes Gehör zu demonstrieren.
Als die Vorfahren dieser Leute vor Generationen in die Untiefen des Weltalls davongezogen waren, hatten sie alle komplexeren Modifikationen aufgegeben, um den begrenzten Genpool auf ihrem Kolonieschiff nicht zu gefährden; auf ihrem Planeten angekommen schienen sie vergessen zu haben, was über dieses Erbgut hinaus alles möglich war. Ist doch nicht mein Problem, dachte Bess immer, wenn sie wieder jemand auf ihre Erscheinung ansprach, warum mich mit Fragen löchern, warum nicht einfach selbst ausprobieren. Sie trank das kleine Glas Tee mit einem Zug leer. Er war bitter genug, um sie heute Nacht sicher eine Stunde länger wachzuhalten.
Bess spürte, wie die Menschen um sie herum erneut von einer Welle der Aufmerksamkeit ergriffen wurden, und dann sah sie es selbst: Die feierlichen und zugleich erschöpften Bewegungen der Leute in den goldenen Rüstungen; das ebenso träge an seiner Stange hängende Banner mit dem grünen Efeublatt, von einem der Krieger vor sich hergetragen. Diese Truppen waren mit der Morgenröte gekommen, aber längst zu etwas geworden, das nur hier und jetzt in diesem Krieg möglich sein konnte. Duncan sprach von ihnen mit einer wohl angemessenen Mischung aus Abscheu und Ehrfurcht als den ‚Heiligen‘. Für Bess funktionierte das nicht so recht: Dafür hätte es Persönlichkeit gebraucht, irgendetwas grundsätzlich Menschliches, von denen sie sich zum Heiligen hin wegbewegen hätten können. Aber da war nichts, trotz der fast schon zu Karikaturen versteiften Gesichter. Sie sind wie Puppen, dachte sie.
Es war nicht ganz klar, was die Rolle dieser Splittergruppe in der Stadt sein sollte. Über eine Lagerhalle hinaus, die ihnen als Kaserne diente, hatten sie nichts eingenommen; sie paradierten ihr Banner die Straßen hinab und zündeten in der Arena schweigend Fackeln an, um damit den Beginn eines Zweikampfs zu markieren. Bess bedeutete das ganze Spektakel nichts. Mit der Arena war eine neue Scheußlichkeit auf den Planeten gekommen, und sie wollte nichts weiter, als das wieder in Ordnung zu bringen: Wie früher eben, als Rekonstruktion nur hieß, dass jemand nach einem tödlichen Unfall unbeschadet zurückkehrte, eine Versicherung und kaum etwas, über das man sich noch Gedanken machen musste. Wie vor ihnen das Regime der Befreiten Sektoren hatten die Leute von der Morgenröte aus ganz alltäglichen Dingen eine Gefahr gemacht.
Jetzt und besonders angesichts dieser Parade schien niemand mehr zu wissen, wie Alltag funktionierte. Alle sprachen zu laut oder zu leise, fielen sich versehentlich immer wieder ins Wort oder machten viel zu lange Pausen, in denen die Löffelchen frenetisch in den kleinen Teegläsern klimperten. Was stimmt hier nicht, dachte Bess plötzlich und drehte sich möglichst behäbig um, als würde sie vielleicht nach jemandem suchen, auf den sie hier wartete. Da war jedoch nichts, außer dem Gefühl, etwas zu übersehen.
Die Parade war mittlerweile auf der anderen Seite der Kreuzung angekommen. Bess konnte jetzt die Gesichter und die Details der Masken ausmachen. Es blieb ein schwer erträglicher Anblick. Dabei mussten sie doch hier sein, damit wir sie betrachten, warum sonst, warum diese Parade, dachte sie, aber die marschierenden Figuren starrten nur stumm vor sich hin, als wären da weder Menschen noch überhaupt eine Stadt um sie. Bess musste nervös blinzeln und spürte eines ihrer Ohren zucken. Nein, nicht, als wäre die Stadt nicht da, sondern als wären sie und wir zu einer anderen Zeit da, als könnten nur wir sie sehen. Gespenster, eben.
Das Ohr hörte nicht auf zu zucken. Da, dachte sie, als sich in einem der Fenster auf der anderen Straßenseite etwas bewegte; ein Schatten, dann doch der Lauf einer Waffe, vom obersten Stockwerk eines Hauses nach unten gerichtet. Ich habe es gesehen, dachte sie, hat jemand gesehen, dass ich es gesehen habe? Bess’ Nackenhaare stellten sich auf, als sie aus dem Augenwinkel noch etwas bemerkte; eine golden gepanzerte Gestalt, die kaum zwei Meter hinter ihr an einer Hauswand lehnte. Sie war die ganze Zeit hier gewesen, dachte sie, wie konnte ich sie nicht bemerkt haben. Hat sie es auch gesehen, das Gewehr? Bess hatte kaum Zeit, allzu viel abzuwägen. Sie empfand wenig Sympathie für die Truppen unter dem Efeubanner; es konnten genauso gut hohle Rüstungen sein, die hier durch den Staub paradierten. Wer auch immer aber eine Waffe auf sie richtete, brachte damit dieses ganze Viertel in Gefahr. Zumindest nicht so tun, als würde ich nichts sehen, dachte sie und drehte den Kopf zum Fenster hin. Aus dem Augenwinkel sah sie, dass die Gestalt hinter ihr bereits verschwunden war, und dann hörte sie den Schuss — gedämpft und dennoch ein Geräusch, das sie unter allen Umständen erkennen würde. Aus dem Hals eines der Soldaten spritzte Blut, bevor er zu Boden sank.
Um sie herum flüchteten Menschen in Hauseingänge und versteckten sich zwischen Möbeln oder den allgegenwärtigen Gepäckstapeln vor den Gebäuden. Die Parade war gerade erst zum Halt gekommen, als Bess zwei Schemen aus dem Fenster stürzen sah. Es war ein tiefer Fall, aber nur eine der Personen blieb am Boden liegen; die zweite kniete daneben, die Hand am Nacken der anderen, als hätte sie sie gerade niedergerungen. Dann stand sie auf, eine nicht einmal besonders große Figur, unpassend mädchenhaft für diese gespenstische Truppe und trotzdem mit den gleichen versteinerten Gesichtszügen.
Das war sie, dachte Bess und griff sich an das unerbittlich zuckende Ohr, das war sie, hinter mir, eben noch. Das goldene Gespenst, eine Legende der letzten Wochen, unter der sich niemand allzu Konkretes vorzustellen schien und die Bess jetzt, in diesem Moment nicht hätte evidenter erscheinen können. Für eine Sekunde lenkte sie irgendein Geräusch in der Nähe ab, und als sie wieder zurückschaute, lag da nur der gebrochene Körper der Attentäterin am Boden. Vier der gepanzerten Leute versammelten sich um ihren toten Kameraden und hievten ihn stumm auf die Schultern; vier andere hoben die zweite Leiche auf, vielleicht neues Material für die Arena. Aus dem Hals des erschossenen Kriegers strömte weiter Blut. Dunkel lief es über die Rüstung und dann über diejenige eines der Soldaten, der ihn trug, füllte die Vertiefungen der Ornamente und tropfte schließlich in den Straßenstaub.
Vorschau: Der alte General starrt über die Stadt, die Flaggen und den Rauch hinweg. „Hast du etwas zu klären, Quartiermeisterin Morse?“, fragt er. Ein trauriger Ort, befindet der künstliche Mensch, als sich die Vorhut der Galaktischen Wache zwischen Reihen toter Maschinen für ihren ersten Einsatz sammelt.