Die Kriege Der Zukunft: Goldenes Gespenst

Jacob Birken
28 min readJan 9, 2023

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Teil II

Was bisher geschah: Gliese Pacifica versinkt in Chaos, als zu den innenpolitischen Konflikten nach dem Sturz der sogenannten Befreiten Sektoren die Morgenröte hinzukommt. Vor Ort versucht Duncan mit einer neuen Verbündeten — der ehemaligen Widerstandskämpferin Bess — zu retten, was noch zu retten ist, während viele Sternensysteme weiter Elvis Eric Late unerwartet Mitglied einer neugegründeten ‚Galaktischen Wache‘ wird.

Abelia Morse war eine hochgewachsene Frau und nur ein wenig kleiner als die wirklich sehr große Mira Dion, aber nach einer halben Stunde auf der Planetenoberfläche war sie so in sich zusammengesunken, dass Mira sie um gut einen Kopf überragte. Wie ein trauriges Kind, dachte Mira, oder eine müde Greisin. In den Zeiten auf der Morgenröte, in denen sie zugleich wach gewesen waren, hatte Mira schnell eine grundsätzliche Antipathie zu der Quartiermeisterin entwickelt und sich dennoch eingestehen müssen, dass Morse gerade in ihrer überspannten Arroganz eine Persönlichkeit war. Weder von Morses Arroganz noch von Miras Respekt war jetzt allzu viel geblieben.

Morse war auf den Planeten gekommen, um hier in ihrer offiziellen Funktion das Hauptquartier zu begutachten, aber das war nur ein Vorwand, wie auch das Hauptquartier nur diesen Namen trug und dabei kaum mehr als ein paar Zelte und eine als Landeplatz freigeräumte Fläche an einer Straßenkreuzung war. Mira wusste zuerst nicht, ob Morse sich explizit mit ihr hatte treffen wollen, weil sie zu Carina Debros ehemaligem Platoon gehörte, oder wegen ihrer jetzigen Funktion in der Logistik. Carina Debro, Palmer und viele andere aus dem Platoon waren jedenfalls weg, und mehr gab es dazu nicht zu sagen.

„Wo sind alle“, hatte Morse zwischen den leeren Zelten gefragt und Sergeant Taber einen wirklich wütenden Blick zugeworfen, als er arg ironisch das Wort ‚alle‘ wiederholte. Mira hätte sie zur Arena bringen können, wo zumindest einige waren; sie hätte letztlich sogar gewusst, wo alle — selbst Carina — zu finden wären, doch Morse schien dafür nicht bereit: Vermutlich ging sie weiterhin von einer Armee aus, wo dieser Planet nur versprengte Banden bieten konnte. Dann fangen wir von vorne an, dachte Mira. Von oben.

Die Fahrt zum Turm verlief ohne weitere Ereignisse, selbst wenn Morse jedes Mal zusammenzuckte, wenn irgendwo in der Nähe ein Schuss fiel. „Dann bist du auch noch nie bei einem Kampfeinsatz gewesen“, sagte Mira.

„Ich war auf der Morgenröte“, sagte Abelia, was Miras Frage sowohl bejahte wie verneinte.

„Über Dunhuang Siebzehn? Warst du dabei?“

Abelia fand nicht die richtigen Worte, um die Schlachten über dem Planeten effizient wiederzugeben, die Lichtspektakel, die Geschwindigkeit und Gefahr. „Ja“, sagte sie, „ich werde es nie vergessen.“

Mira ließ sie den Rest der Strecke aus dem Fenster des Wagens schauen, während sie sich selbst daran zu erinnern versuchte, was sie wohl nie vergessen würde. Die blauen Pfeiler aus Energie, die die Morgenröte in die Landschaft um die benachbarte Stadt rammte; der Mann mit der Maske, der wie aus dem nichts auf dem Dach erschienen war; Carinas Gesicht, als sie sich beim Einsteigen in den Truppentransporter ein letztes Mal zu dem Planeten umdrehte, auf dem sie sich so unwillkommen gemacht hatten.

Zum Glück war die Strecke nicht mehr allzu lang. Taber und die anderen drei aus dem Platoon, die Mira für dieses Treffen mitgenommen hatte, sprangen vor ihnen aus dem Wagen und sicherten routiniert die Straße. Der Eingang zum Turm war gut durch Truppen der Morgenröte bewacht, aber Mira sah längst keinen Grund mehr, anderen als ihren eigenen Leuten zu vertrauen. Einer der Soldaten neben dem Eingang deutete einen Salut an, als sie die breiten Treppenstufen hinaufstiegen. Der Turm ragte mehrere hundert Meter zwischen den anderen Gebäuden dieses Viertels auf — simple, leicht gegeneinander abgesetzte rechteckige Formen, verkleidet mit massiven Platten aus hellem Marmor, nach unten hin immer dichter mit Einschusslöchern bedeckt. Abelia schaute zu den Panoramafenstern hinauf, die erst viele Stockwerke weiter oben die blanke Fassade unterbrachen.

„Was war das früher?“, fragte sie.

„Ein Büro … für irgendetwas?“

Abelia nickte. „Was ist ein Büro?“, fragte sie, während Mira die riesige Eingangstür aufstieß.

„Gute Frage“, sagte Mira.

Ein Soldat begleitete sie in den Aufzug und wählte auf einem Display gelangweilt das Stockwerk aus. „Frisch vom Schiff?“, fragte er Abelia, die wie immer nach dem Betreten eines neuen Raumes zuerst ihre Uniform zurechtrückte.

„Ja“, sagte Abelia knapp. Die Frage wäre an sich müßig gewesen — die roten Uniformen der Besatzung trug in der Armee niemand — doch das ‚frisch‘ hätte es erst recht nicht gebraucht. Sie versuchte vergeblich, in dem verspiegelten Aufzug den Blicken der anderen auszuweichen und stellte frustriert fest, wie Mira Dion ihrerseits auf ganz beiläufige Weise über alle hinwegsah, als würde sie durch die Spiegel hindurch in eine unerreichbare Ferne schauen und so selbst unerreichbar bleiben. Was versteht sie schon, dachte Abelia ärgerlich.

Dann ging die Fahrstuhltür auf. Dieses Stockwerk schien eine einzige riesige Halle zu sein, voller schrankgroßer Terminals und Arbeitsstationen; von vielen waren nur noch die Gehäuse geblieben, die Datenträger und sonstige Elektronik sichergestellt, wiederverwertet oder verscherbelt. Für die Leute, die jetzt hier hausten, war es wohl nicht mehr als Innenarchitektur, die die Grenzen von privaten oder kollektiven Räumen markierte. Unweit des Aufzugs polierte eine Frau mit einem stark riechenden Öl einen Kampfanzug; sie hatte ihren Arbeitsplatz mit Teppichen ausgelegt, während nebenan eine Gruppe auf Strohmatten saß und würfelte. Hier und da hatte jemand Stromkabel aus den Arbeitsstationen herausgezerrt und irgendein von der Morgenröte mitgebrachtes Gerät angeschlossen, aber insgesamt war es ruhig, die Menschen in ihren Projekten oder Unterhaltungen versunken. Neben den ausgehöhlten Resten irgendwelcher Großrechner stand ein alter Mann auf einer Strohmatte, den Oberkörper bis auf das Unterhemd frei und mit einem Übungsschwert senkrecht durch die Luft schneidend, alle paar Sekunden ein lautes Ausatmen und der kurze Windstoß. Das ist Carson Milia, stellte Abelia fest und sah wieder weg. Sie war Milia nur kurz begegnet, nachdem er vor der Invasion dieses Planeten rekonstruiert worden war: Ein bitter wirkender Greis, der niemandem etwas zu sagen haben schien. Was macht er hier, dachte sie. Überflüssig.

Mira hatte ihre Leute angewiesen, beim Aufzug zu warten, und zu zweit suchten sie einen Weg zu der Fensterwand am Ende der großen Halle, durch die hell die morgendliche Sonne auf die toten Terminals, die Strohmatten und Teppiche und die glänzenden Kampfanzüge fiel. „Jehan Debro“, sagte Abelia leise, als ihr bewusst wurde, wen sie hier treffen sollten. Mira nickte nur. Der General saß auf dem Boden vor der Fensterwand, eine schmächtige Figur in der üblichen Armeeuniform. Mehrere bewaffnete Leute hielten mit einigem Abstand Wache, doch Debro musste sie ohnehin schon längst in der Spiegelung des Fensters gesehen haben.

Er rührte sich nicht, bis sie höfliche zwei Meter neben ihm stehenblieben, und drehte auch dann nur den Kopf leicht in ihre Richtung. Die Familienähnlichkeit zu den beiden jüngeren Debros war ihm anzusehen. Ein Unterschied ist da, dachte Mira. Carina und ihr Vater, soweit sie ihm auf der Morgenröte begegnet war, hatten etwas zugleich Fahrlässiges und ausgesprochen Zielstrebiges an sich, das Mira selbst unzugänglich blieb; ihr erschien es gefährlich, aber sie verstand, dass es andere als schneidig ansahen und es dadurch gerade in einer Armee seine Funktion hatte. Beim ältesten Debro war daran etwas abhanden gekommen, dass sie selbst nicht benennen konnte.

Mira salutierte so zackig, wie es ihr Gemüt erlaubte.

„Leutnant Dion“, sagte der alte Mann.

„General Debro.“

„Quartiermeisterin Morse, von der Morgenröte“, sagte Abelia.

„Ich erinnere mich“, sagte Debro. „Wie hält sich das Schiff?“

„Wir sind bereit“, sagte Abelia. Ihr stockte der Atem, als Debro für einen Moment die Augen zusammenkniff, aber dann drehte er sich wieder zu dem Stadtpanorama hinter den Fenstern weg.

„Gut“, sagte er. „Noch ist alles offen. Eine ganze Welt der Potenziale, wann hatten wir das jemals?“ Debro lachte leise.

Abelia wusste nicht, was er meinte, aber sehr wohl, dass es ihm damit sehr ernst war. Warum hat sie mich hierher gebracht, dachte sie, ist das ein Test? Auf einigen Gebäuden flatterten Flaggen, die sie den Platoons der Morgenröte zuordnen konnte; andere waren neu oder ganz fremd. An mehreren Orten sah sie Qualm aufsteigen, und vor allem endete die Stadt nicht — Abelia meinte, am Horizont Felder oder Wiesen zu sehen, doch es war alles zu klein und zu weit weg. Sie trat näher an die Fenster heran. Wo sich zuvor die Stadt vor ihr in die Ferne erstreckt hatte, war sie jetzt auch unter ihr, und obwohl sie vom Boden selbst hunderte Meter trennten, war die Tiefe daran plötzlich so nah — direkt vor ihr –, dass Abelia eine ganz körperliche Furcht überkam. Wie kann das sein, dachte sie, das ist doch nichts im Vergleich zu der Tiefe des Weltalls. Sie versuchte, möglichst sofort, aber auf nicht auffällig hastige Weise von diesem Abgrund zurückzutreten. Zum Glück fühlten sich ihre Beine nur an, als wären sie gelähmt.

Debro mochte es trotzdem gemerkt haben. „Von oben wirkt alles viel klarer, als es vielleicht ist“, sagte er beiläufig, und Abelia war gut bewusst, dass er damit sowohl dieses Panorama wie die Morgenröte meinte.

„Aber wirklich geklärt werden kann es nur da unten“, sagte sie mit einem etwas panischen Eifer, um dieses Gespräch in irgendeine Richtung zu lenken, selbst wenn der alte Mann sie jetzt durch das Fenster schleudern würde.

„Hast du etwas zu klären, Quartiermeisterin Morse“, sagte er.

Einfach weitersprechen, dachte Abelia. „Es ist nichts Wichtiges“, sagte sie. „Die Gefangenen, die auf der Morgenröte sind. Sie sind dort schon seit Jahren, und wozu? Vielleicht wäre hier irgendwo ein besserer Ort für sie.“

„Ich erinnere mich an sie“, sagte Debro. „Ich verstehe, was du meinst.“ Er runzelte die Stirn, als müsse er nachdenken, doch nach einer Weile merkte Abelia, dass er einfach nur wieder in das Panorama versunken war. Mira nickte in Richtung des Aufzugs.

„Können wir ein wenig laufen“, sagte Abelia, als sie noch nicht ganz wieder beim Hauptquartier angekommen waren. Mira ließ den Wagen anhalten. Es war unwahrscheinlich, dass sie hier angegriffen werden würden, und der Wagen rollte weiterhin mit Schrittgeschwindigkeit neben ihnen die Straße entlang.

„Er wird gar nichts machen“, sagte Abelia wütend, als sie meinte, dass sie niemand weiteres hören konnte. „Er will einfach nur zuschauen, wie irgendetwas brennt, von seinem Fenster aus.“

„So ist die Lage“, sagte Mira, „auf diesem Planeten.“

„Auf diesem Planeten. Wir sind seid Generationen unterwegs“, sagte Abelia, deren akkurat geschnittener Pony mittlerweile in nassen Strähnen an der Stirn klebte, „wozu sollten wir überhaupt einen Planeten erobern?“

„Wozu“, wiederholte Mira nachdenklich und biss sich danach fast auf die Zunge, nachdem ihr bei aller Nachdenklichkeit erst nicht aufgefallen war, dass sie sich beide die gleiche Frage mit ganz gegensätzlicher Betonung stellten.

Abelia sagte nichts weiter und starrte nur feindselig eine der Fassaden hinauf, an denen sie gerade vorbeiliefen, ein dunkelgrauer Klotz mit einem verzogenen Raster viel zu klein wirkender Fenster, die sich auf den zweiten Blick als höher erwiesen als ein ganzes Stockwerk in anderen Gebäuden.

„Das ist wirklich nicht schön“, sagte Mira, „aber ich verstehe nichts von Architektur.“

„Ich auch nicht“, sagte Abelia und wischte sich den Schweiß von der Stirn.

Mira sah noch zu, wie sich der Transporter erst träge von der provisorisch markierten Landefläche erhob und dann überraschend schnell gen Himmel aufstieg. Taber zwinkerte ihr zu, als sie wieder zum Wagen lief; er hatte sicher im Turm irgendwen in ein Gespräch verwickelt und jetzt genug neue Informationen, damit dieser Ausflug nicht reine Zeitverschwendung gewesen wäre. Taber war wahrscheinlich kein besonders guter Soldat, aber — wie die meisten Leute, die in ihrem Platoon geblieben oder auf die eine oder andere Weise dazugekommen waren — nachhaltig am Überleben interessiert. Bei Abelia Morse war sie sich dessen überhaupt nicht sicher.

„Diese Quartiermeisterin“, sagte Taber und sah dem winzigen Punkt des Transporters zwischen den Wolken hinterher, „gut, dass wir sie nicht hier unten haben.“

„Vielleicht gut, wenn wir sie da oben haben“, sagte Mira.

⭐️

Vor ihnen musste bereits die Stadt liegen: Tausende helle Punkte in der Dunkelheit, viele aufgereiht, wo Laternen eine Straße oder die Flugschneisen für Gleiter säumten, andere wie zufällig verteilt, wo die Menschen trotz oder wegen des Ausnahmezustands das Licht in ihren Wohnungen brennen ließen. Gut, dass ich aufgewacht bin, dachte Rachel und streckte sich, soweit es die Enge des kleinen Landungsschiffs zuließ. Der graue Kreuzer der Wache hatte sie in sicherer Entfernung von Gliese Pacifica abgesetzt, und der Anflug auf diesen Planeten war so ereignislos verlaufen, dass ihnen außer Schlaf nicht viel geblieben war. Die anderen in der Kabine hatten sich nicht gerührt, als Rachel ins Cockpit gegangen war; auch jetzt blieb es bis auf das leise Fiepen irgendwelcher Bordinstrumente fast vollkommen still. In einem der Sessel hier vorne schien selbst Aleph in Schlaf versunken, doch der künstliche Mensch war präsenter als sonst jemand auf dem kleinen Schiff. Die feinen Lichttentakel aus Alephs Nodium spannen ein Netz durch das halbe Cockpit. Rachel hatte sie sogar in in die Kabine tasten sehen, nicht unbedingt eine Lebensform, aber zumindest eine Intelligenz. Gerade trug das Nodium dazu bei, das Landungsschiff für alle Augen und Sensoren da draußen unsichtbar zu machen. Oder wir tragen etwas zu dem bei, was auch immer das Nodium gerade vor hat, dachte Rachel. Aleph hatte sich die Haare bis auf Hüfthöhe wachsen lassen, wohl nur für diesen Moment; beim Einsteigen in das Landungsschiff waren sie zumindest noch kurz gewesen. Eine nachvollziehbare Entscheidung, fand Rachel, denn so sah Aleph vollends märchenhaft aus, mit den über die Armlehnen wallenden Haaren und dem flirrenden Lichtnetz, das sich aus der Scheibe am Armreif in den Raum spann: eine Sagengestalt in irgendeiner Grotte und kaum jemand bei einem hochtechnisierten Militäreinsatz.

Rachel wandte sich lieber wieder den Lichtern vor ihnen zu. „So sieht’s aus“, sagte der Pilot leise, der wohl ihre Spiegelung in seinen Anzeigetafeln oder dem Cockpitfenster gesehen hatte. Er gehörte zu der Gruppe von Trappist’s Merveille, die an dieser Mission teilnahm, ein Soldat, der auf den Namen Gabor hörte und eine immer leicht schläfrige Attitüde dadurch wettmachte, offenbar nie wirklich schlafen zu müssen.

„Haben wir Kontakt zu jemandem, da unten?“, fragte Rachel.

„Ich habe gerade etwas gesendet“, hörte sie Aleph sagen. „Es könnte eine Weile dauern, eine Viertelstunde, erfahrungsgemäß. Vielleicht länger; es ist spät.“

„Dann drehe ich noch eine Runde“, sagte Gabor, „oder zwei.“ Aleph hatte wieder die Augen geschlossen, oder sie gar nicht erst geöffnet.

Anderthalb Runden später kam Rachels Bruder Milan gähnend ins Cockpit, verfiel aber schnell genug der Landschaft unter ihnen, um irgendwelche Fragen stellen zu wollen. Gabor hatte mittlerweile Kameraansichten aufgerufen, auf denen zwischen den Lichtpunkten der Stadtraum erkennbar wurde. Mitunter schienen die Kameras gegensätzliche Interpretationen davon zu bieten, was sich in der Tiefe hinter dem Fenster abspielte; einmal sahen sie auf einem der Displays eine Straßenecke, an der im Schein einer Laterne ein paar Leute vielleicht ein letztes Bier für diese Nacht tranken, während sich auf einem anderen irgendwer zwischen brennenden Wracks ein Gefecht lieferte, die Flammen und die Energieprojektile der Waffen in den zerborstenen Spiegelfassaden der Gebäude unendlich reflektiert.

Das Landungsschiff beendete gerade die zweite Runde, als ein weiteres Display vor dem Cockpitfenster aufflackerte. „Wir haben Kontakt“, sagte Gabor.

„Bitte“, sagte Aleph, jetzt kerzengerade im Sessel aufgerichtet, statt einer Sagengestalt wieder ganz im Dienste der Galaktischen Patrouille. Gabor aktivierte den Kanal. Das Display flackerte ein paarmal, bis sich schließlich ein Mann ins Bild schob, als würde er gerade von einer Party kommen: mit wildem Blick, das Hemd zerknautscht und die rotblonde Mähne schweißverklebt.

„Ihr seid da“, rief er. Seine Stimme kam übersteuert durch die Lautsprecher; vielleicht war die Verbindung schlecht, oder er war gerade wirklich sehr laut.

„Da sind wir“, sagte Aleph.

„Kannst du mir Koordinaten geben, für die Landung“, sagte Gabor, dem bereits das wohl zu viel Smalltalk gewesen war. „Ein Schiff, getarnt, achtzehn Personen.“

Der Mann sah eine Weile über seine Kamera hinweg; achtzehn Personen waren wohl nicht die Verstärkung, die er erwartet hatte. „Ich habe da was“, sagte er schießlich mit breitem Grinsen.

⭐️⭐️

Rachel fixierte ihre Maske, während vor ihr lautlos die Seitenluke des Landungsschiffs aufklappte. Der Kontaktmann von der Patrouille war sich recht sicher gewesen, dass dieses Areal vollständig verlassen war, und auch die Sensoren des Schiffs hatten über irgendwelche Kleintiere hinaus keinerlei Lebenszeichen entdeckt; dennoch hätte es sich falsch angefühlt, jetzt einfach auf diesen Planeten zu spazieren. Die Galaktische Wache war eine Armee, und mit dem nächsten Schritt würden sie nicht einmal metaphorisch in einen Krieg eintreten. Rachel fluchte lautlos über sich und die ganze Situation, als sie ins Freie sprang und versuchte, sich in der Anlage zurechtzufinden. Der Computer in ihrer Maske rechnete ein paar Linien in ihr Gesichtsfeld hinein, aber das bildete die Umgebung bereits vollständig ab: immense Hallen und Container und nichts weiter, nicht einmal Beleuchtung und erst recht keine Menschen.

Zu ihren Seiten schwärmten die anderen aus, um die Lage zu sichern, doch bald war klar, dass es hier nichts zu sichern gab. Milan seufzte und wedelte mit dem Zeigefinger in der Luft, bis sich alle hinter ihren Gebäudeecken und Containern wieder entspannt hatten. Zwischen ihnen flimmerte das Landungsschiff in seinen Tarnmodus, weniger effektiv als mit Alephs Nodium, aber effektiv genug, damit Rachel es tatsächlich nicht mehr sah, nachdem sie ihre Maske abgenommen hatte. Nach ein paar Minuten fanden sie einen großen Hangar, in dem sie das ganze Schiff unterbringen konnten.

„Was ist das hier?“, fragte Elvis, als sie vor den dunklen Formen gewaltiger Maschinen standen, die streng aufgereiht den Rest des Hangars füllten.

„Landwirtschaftsroboter“, sagte Milan und richtete seine Taschenlampe auf ein Symbol an den Seiten der Maschinen, eine gepanzerte Faust, die ein Büschel Ähren wie einen Knüppel umfasste.

„Auweia“, sagte Elvis.

„Der Roboterpark der Integrierten Zivilen Auswertung“, sagte Aleph. Das Nodium hatte bereits die ersten Tentakel in Richtung der Maschinen ausgestreckt, doch plötzlich zuckten sie zurück, als hätte Aleph ihnen Einhalt geboten.

„Stimmt etwas nicht“, sagte Rachel, obwohl sie bereits ahnte, was nicht stimmte: Das Areal war verlassen, weil hier nie jemand anderes als die Maschinen gewesen war, eine vollautomatisierte Anlage, die wohl mit dem Untergang der zumindest teilautomatisierten Regierung der Befreiten Sektoren auf diesem Planeten zum Stillstand gekommen war.

„Ein trauriger Ort“, sagte Aleph nur.

⭐️⭐️⭐️

Duncan sprang aus der Seitentür des Busses und schlug nochmals höflich mit der flachen Hand gegen das Heck, bevor seine Mitfahrgelegenheit die Straße herunterrollte und um die nächste Biegung wieder in der Stadt verschwand. Öffentliche Verkehrsmittel gab es längst nicht mehr, aber es fand sich immer jemand, um auf einer halbwegs verlässlichen Route einen Bus durch die gerade weniger umkämpften Bezirke zu steuern. Hier war die Stadt zu Ende — eine letzte Straße, die an einigen niedrigen Lagerhallen und Bungalows vorbeiführte, während auf der anderen Seite die Felder begannen. Duncan schaute sich ein weiteres Mal um. In einem Fenster schien durch dicke Gardinen das Licht einer schwachen Lampe, doch sonst war es dunkel und still — ein vergessenes Viertel, dessen Gebäude hier seit der ersten Besiedlung des Planeten standen, simple Kästen aus vorgefertigten Modulen. In Duncan weckten sie eine sonderbare Melancholie; er hatte lange genug auf der Erde gelebt und Bauwerke betreten, die hunderte Generationen lang gestanden hatten, bevor Gliese Pacifica überhaupt als winziger Punkt auf irgendeinem Teleskop-Bild aufgetaucht war. Dennoch hatte diese Siedlung in ihrer Einfachheit etwas Zukunftsträchtiges, viel eher als die von den Algorithmen und Maschinen der Integrierten Zivilen Auswertung geplanten, immer wieder abgerissenen und optimiert neu errichteten Viertel, die den Großteil der Stadt ausmachten. In diesen neuen Vierteln überkam Duncan oft das Gefühl, einen höheren Sinn der Architektur auf eigene Gefahr nicht erkennen zu können; hier wusste er, dass es eben nicht mehr als das Nötige war, um den ersten Menschen an einem neuen Ort ein Zuhause zu bieten.

Jetzt musste Duncan unwillkürlich zum Nachthimmel hinaufschauen, wo irgendwo die Morgenröte um Gliese Pacifica kreiste — einst selbst ein Kolonieschiff, jetzt vielmehr ein Fluch, der die besiedelten Planeten heimsuchte. Was jagt euch, dachte er. Niemand von der Morgenröte konnte ihm dazu Auskunft geben, aber die wenigen, mit denen er gesprochen hatte, waren auf dem Schiff geboren und kannten keine Perspektive außer dieser katastrophalen Suche nach einem Ort, den sie erobern konnten. Der Gedanke an das Schiff hatte alle Melancholie verjagt, und nun spürte Duncan eine unbestimmte Angst, als würde ihn jemand aus dem Orbit oder zumindest von hinter den dunklen Fenstern der Siedlung beobachten. Weiter, ich muss weiter, dachte er und stolperte von der Straße in die Felder hinaus, wo umgeben vom süßlichen Duft und dem Rascheln der Ähren um ihn herum die Welt klein und dunkel wurde, was gerade die bessere Alternative schien.

⭐️⭐️⭐️⭐

Sie hatte den Geruch nach Stunden immer noch im Sinn, und als er auf dem Weg zu ihrem Versteck wieder in der Luft stand hatte ihn Bess schließlich doch so ernst genommen, dass er zu einer Spur wurde. Ihr Geruchsvermögen war mehr ein Gimmick als wirklich außergewöhnlich — eine leichte Modifikation der Nase und ein paar zusätzliche Subroutinen in ihrem Implantat, die Gerüche zu etwas Bewussterem machten, als es für Menschen sonst war; zu etwas Räumlichem, das sich nicht unbedingt analysieren, aber zumindest verfolgen ließ. Bess hatte also den Geruch verfolgt, obwohl sie ahnte, wohin er sie führen würde. Sie hatte sich Zeit gelassen, fast mit der Hoffnung, die Spur schließlich zu verlieren; aber das wäre ohnehin unwahrscheinlich gewesen, da ihr Weg immer wieder eine andere Fährte kreuzte — das Blut der zwei Toten dieses Mittags, das die Straßen und Plätze mit Flecken und unruhigen Linien markierte. So war Bess nicht überrascht gewesen, irgendwann vor der Lagerhalle zu stehen, in der die Leute mit dem Efeubanner hausten. Nein, hatte sie gedacht und war ins Versteck gegangen; jetzt war es Nacht, Duncan seitdem nicht wieder aufgetaucht und Bess zu aufgedreht, um schlafen zu können.

Die Lagerhalle war ein grauer Klotz im schwachen Schein der letzten Laternen, die in dieser Ecke der Stadt noch leuchteten. Die Arena war nur zwei Straßen weiter entfernt, doch selbst dort passierte zu dieser Zeit nichts mehr. Bess verbrachte eine gute Stunde in dunklen Ecken, bis sie die Bewegungsmuster der zwei Wachposten in der Lagerhalle verinnerlicht hatte. Der eine war nervöser, hielt es kaum zwei oder drei Minuten an einem der Fenster aus, bis er entweder zum nächsten oder gleich an eine andere Seite des Gebäudes wechselte; der andere stand reglos an die Mauer um das Flachdach gelehnt, um erst langsam zur nächsten Ecke zu spazieren, wenn Bess sich bereits fragte, ob sie nicht die ganze Zeit einen Schornstein beobachtet hatte. Sie entschied sich für das Dach. Die Lagerhalle war höher als die benachbarten Gebäude, aber an einer Seite standen irgendwelche Generatoren von der Fassade ab; eine leichte Kletterübung.

Einen Moment hockte sie auf der Mauer, während der Wachposten an der fernen Seite die Ecke wechselte. Ansonsten regte sich nichts, doch jetzt stockte Bess kurz der Atem: Zwischen großen Topfpflanzen standen auf dem Flachdach vielleicht ein Dutzend Zelte verteilt, dazwischen sogar Leute, die auf ihren Feldbetten ganz unter freiem Himmel schliefen. Die fürchterliche Geisterkompanie hatte hier ihr Lager aufgeschlagen, als wären sie nicht mitten in einer Großstadt, sondern hätten in der spärlichen Vegetation einer kleinen Oase Zuflucht gefunden. Irgendwer schnarchte leise.

Bess schlich um ein paar Zelte, bis sie den Geruch wiederfand; dann stand sie über der Soldatin, die sie am Mittag für nur zwei Augenblicke gesehen hatte. Die junge Frau hatte ihre Rüstung nicht vollständig abgelegt. Ihr Gesicht war weiterhin ohne jeden Ausdruck, doch im Schlaf wirkte es immerhin friedlich und nicht einfach nur leer. Bess hatte schon einige Menschen im Schlaf getötet. Jetzt stand sie eher ratlos über diesem Mädchen. Was hätte das für eine Bedeutung, dachte sie. Unter dem Regime der Befreiten Sektoren war Terror eine Botschaft gewesen; Terror hatte klargestellt, dass die persönliche Beteiligung an diesem System etwas Verhasstes war, etwas, wofür jemand (Bess) deinen Körper zerstören würde, damit dieser Hass allen bekannt wird: Euer Fehler. Die Leute von der Morgenröte schien Hass nicht weiter zu kümmern. Bess erwartete beinahe, dass ihr ein solches Opfer noch zum erfolgreichen Mord gratulieren würde, je nach Splittergruppe vielleicht mit einem jovialen Schulterklopfen oder — wie diese Truppe wohl — mit stummem Respekt. Ihr Ohr zuckte wieder, und plötzliche Angst lähmte für einen Augenblick ihre Beine.

Die Soldatin drehte sich auf den Rücken. Bess’ Instinkte waren stärker als alle Angst, und mit ein paar Schritten war sie zwischen einem Zelt und irgendeiner Zierpalme verschwunden. Tatsächlich öffnete die Soldatin jetzt ihre Augen, aber aus diesem Winkel und in der Dunkelheit würde sie Bess nicht sehen können. Dennoch verharrte Bess eine gefühlte Ewigkeit in Deckung, bis das goldene Gespenst die Augen wieder schloss. Dann erst flüchtete sie vom Dach. Sie hatte gerade die nächste Straßenecke erreicht, als der aufgehende Stern dem Himmel bereits einen leichten Rotstich verlieh.

⭐️⭐️⭐️⭐️⭐️

„Und das hier“, sagte Milan und deutete auf einen Wolkenkratzer, „was ist das hier?“ Das projizierte Modell der Stadt kreiste langsam zwischen ihnen, und in der engen Kabine des Landungsschiffs war dafür so wenig Platz, dass immer wieder jemand instinktiv einem der markanteren Gebäude auswich. Duncan hätte die Projektion auch im Hangar einrichten können, aber wer wusste schon, ob nicht doch irgendeine Drohne gerade über den Feldern kreiste.

„Ehemaliges Büro für innere und äußere Grenzangelegenheiten“, sagte Duncan. „Jetzt, jetzt ist da ein Bataillon von der Morgenröte drin. Sie machen nicht viel. Gar nichts, eigentlich, seit der Invasion.“

Milan ging in die Knie, um einen Eindruck von der Perspektive aus den oberen Stockwerken des Wolkenkratzers zu bekommen. „Nicht? Warten sie? Sind sie wichtig?“

„Sie haben zwei der alten Männer da oben“, sagte Duncan. „Vielleicht mehr. Ihre Generäle. Sie haben sie von ihrem alten Planeten mitgebracht und hier rekonstruiert.“

„Generäle. Ist das das Hauptquartier ihrer Armee?“

Duncan fuhr sich mit der Hand durch die Haare. „Das ist keine Armee mehr“, sagte er. „Ich könnte euch nicht einmal sagen, was sie hier … wirklich wollen.“ Er machte eine Pause und hielt mit einer Handbewegung das Modell an. „Hier“, sagte er und wischte mit der Hand über einen großen Platz unweit des Wolkenkratzers, „hier landen die Fähren von der Morgenröte. Das einzige, was sie hier noch an gemeinsamer Infrastruktur haben.“ Das Hologramm färbte sich rot, wo Duncans Hand den Platz gestreift hatte, wie er auch schon andere Gebäude markiert hatte, um sie den unterschiedlichen Parteien zuzuordnen.

Rachel sah unkonzentriert zu, wie der Agent das Hologramm in ein buntes Patchwork verwandelte und hier und da etwas kommentierte, während ihr Bruder zunehmend erschöpft Zwischenfragen stellte. Das Ganze war eine Katastrophe, ein Konflikt zwischen Dutzenden von Splittergruppen, die schneller in weitere zerfielen als sie die Oberhand über irgendwelche der anderen gewinnen konnten. Sie schaute in die Runde, zu den anderen Rangern von Selene, den massiven Leuten von Trappist’s Merveille in ihren irgendwie altertümlich wirkenden, perlmuttfarbenen Raumanzügen, den Kommandos der Res Publica, hinter deren Krägen und Ärmeln großflächige Tattoos hervorwuchsen; zu Elvis, der mit etwas deplatziertem Interesse eines der Gebäude auf dem Hologramm untersuchte. Und deswegen sind wir hier, dachte sie, und nicht eine ganze Streitmacht der Res Publica, wie es sich als kurzfristig wirksame, aber auf jeden Fall falsche Lösung angeboten hätte. Damit uns schließlich etwas Anderes einfällt.

„Das hier ist interessant“, sagte Duncan gerade und deutete auf ein massives Gebäude mit einem Turm an der Front. Wie die alten Kultstätten auf der Erde, dachte Rachel, nur scheußlich. „Hier sitzt die Sektoriale Selbstverwaltung“, sagte Duncan. „Die wären gerne die Nachfolge der alten Regierung.“

„Warum ist das interessant?“, fragte Milan.

„Weil wir wissen, was sie wollen“, sagte Duncan.

⭐️⭐️⭐️⭐️⭐️⭐️

Der Agent verschwand wieder in dem Getreidefeld, aus dem er Nachts gekommen war. In der Ferne dahinter ragte im morgendlichen Dunst die Stadt auf. Rachel erkannte den Wolkenkratzer aus dem Hologramm. Auch jetzt am Horizont fand sie daran nichts imposant. Sie versuchte stattdessen, an den Bewegungen des Getreides den Agenten wiederzufinden, doch ein leichter Wind ließ ohnehin das ganze Feld sanft wogen.

Milan kannte den Mann; vor vielen Jahren hatten sie gemeinsam das Portal auf Selene gefunden. Rachel meinte zwischen den Zeilen herausgehört zu haben, dass der Agent auch jetzt das Portal als beste Option ansah. Direkt hatte er es freilich nicht angesprochen: Das war etwas, das zwischen der Galaktischen Patrouille und Selene bleiben musste. Rachel war strikt dagegen, es einzusetzen, und hoffte, dass es Milan ebenso sah. Sie hatte weniger Sorge, dadurch den offensichtlichen taktischen Vorteil zu verlieren, als vielmehr das Vertrauen zu ihren Verbündeten, die wahrscheinlich nichts von dieser Technologie ahnten.

Sie kletterte von dem kleinen Anbau hinab, von dem aus sie sich einen etwas besseren Überblick der Situation hatte verschaffen wollen. Die anderen hatten sich müßig um den Hangar herum verteilt. Der Agent würde im Laufe des Tages wiederkommen; in der Zwischenzeit wollten sie sich mit der Umgebung vertraut machen oder vereinzelt die Stadt erkunden.

Elvis war schon zu lange wach, um den Morgen als Tageszeit wahrnehmen zu können und nicht nur, als dass es draußen aus irgendeinem Grund hell war: So fühlte er sich zwischen den Militärs deplatziert und auch noch irgendwie aus der Zeit gefallen. Ich sollte meinen Job machen, dachte er resigniert. Er begann dies mit der wirklich allerletzten Frage, die er gerade stellen wollte.

„Warum bist du eigentlich hier?“, fragte er Rachel. „Nicht nur hier, auch auf Dunhuang Siebzehn. Wir haben nie darüber gesprochen.“

Zu seiner Überraschung schien es auch die allerletzte Frage zu sein, die Rachel gerade gestellt bekommen wollte. Sie öffnete den Mund, schloss ihn wieder, biss sich auf die Lippe und wandte irritiert den Blick ab. Nach der langen Zeit, die seit Selene vergangen war, konnte Elvis kaum sagen, dass er Rachel kannte, aber so kannte er sie auf keinen Fall.

„Weil sie ein sehr guter Ranger ist“, rief Milan herüber, als Rachel gerade zum zweiten Mal den Mund öffnete. „Eine der Besten.“

Rachel schüttelte fast ärgerlich den Kopf. Sie suchte den Himmel nach dem orangen Schiff ab, falls sich dieses vom Planeten aus sehen lassen sollte.

„Ich finde es gerade auch nicht“, sagte Elvis. Über ihnen waren noch die letzten Sterne zu sehen, aber keiner von ihnen schien die Morgenröte zu sein.

„Sie haben unsere Leute verschleppt“, sagte Rachel. „Seit all den Jahren.“ Zumindest mussten sie das annehmen. Rachel war wütend darauf, und sie war wütend, dass sie die Morgenröte auf Dunhuang Siebzehn lediglich vertrieben hatten: Weitere Jahre, in denen ihre Leute gefangen blieben, in denen auf Selene viele auf wenigstens Lebenszeichen warteten. Mit dieser Wut hatte Rachel zu lange gelebt, und doch wirkte sie wie kein guter Grund, gerade hier zu sein — ebenso wie die Tatsache, dass sie ein guter Ranger war, mehr wie eine beiläufige Gegebenheit wirkte als wie ein Grund für irgendwas. „Ich brauche ein paar Minuten für mich“, sagte sie und spazierte wieder vom Hangar weg, während Elvis sich noch resignierter auf die Suche nach anderen Leuten machte, denen er lästige Fragen stellen konnte.

Der Dreck und das Moos, die sich auf den Maschinen in dieser Anlage abgelagert hatten, ließ sie bei Tageslicht zumindest etwas friedlicher wirken als zuvor in der Nacht. Wie ein Friedhof, eben, dachte Rachel und hoffte, dass auch Aleph in der Lage war, dem eine nicht allzu schmerzhafte Art der Trauer abzugewinnen. Sie fand eine Lücke im Zaun und lief ein paar Meter in das Getreide hinein. Die Körner sahen reif aus, schmeckten aber nach süßlichem Nichts — weiterhin nur zur industriellen Weiterverwertung verplante Biomasse, auch wenn sie nicht mehr ganz automatisch abgeerntet wurde. Ein trauriger Ort, dachte jetzt auch sie.

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Duncan hatte sein Hemd so weit aufgeknöpft, dass er es gleich hätte ausziehen können; ein verschwitzter Wanderer an einem warmen Mittag. Auf den letzten Kilometern des Wegs aus der Stadt war ihm kein einziger Mensch begegnet, und auch jetzt, als er an der hohen Hecke des Anwesens entlanglief, war außer Grillen und Vögeln und einem leichten Wind in den Bäumen nichts weiter zu hören. Das Tor war nur angelehnt, der Garten dahinter halb verwildert, was diesem aber, so fand Duncan, keineswegs geschadet hatte. Auf der Straße draußen hatte er Spuren von Fahrzeugen gesehen, doch der Schotterweg hinter dem Tor war mittlerweile halb überwuchert und an den Pflanzen keinerlei Schaden zu erkennen. Nach zwei Biegungen des Weges tauchte strahlend weiß der Landsitz zwischen den Bäumen und Sträuchern auf, ein einstöckiges, aber schier endloses Bauwerk mit hohen Fenstern und allerlei Säulchen und Pilastern vor der Fassade.

Die Eingangstür war unverschlossen. Drinnen war es kühl und so frisch, dass hier jemand ohne Zweifel unlängst gelüftet hatte. Die wenigen Möbel waren mit Tüchern verhüllt und der Holzfußboden mit Staub verschleiert, aber es gab genug weitere Hinweise, dass hier Menschen ein- und ausgingen: Ein zurückgeschobener Vorhang und ein Wasserglas, wo jemand noch vor kurzem gesessen haben mochte, die vagen Abdrücke einer Stiefelsohle, die vielleicht vom morgendlichen Tau draußen feucht geworden war. Von irgendwoher kamen leise Geräusche. Duncan knöpfte sein Hemd ansatzweise zu, als ihm beinahe zu kühl wurde. Alles an der Architektur schien hier hell und freundlich, aber es war mit einer Art von Großzügigkeit eingerichtet, die unterschwellig einschüchtern musste. Gliese Pacifica war nie dicht besiedelt gewesen und hätte Platz für Villen für alle geboten, doch soweit es Duncan — der zumeist in großen Städten oder auf Raumschiffen gelebt hatte — beurteilen mochte, hatten Menschen, die fünf Minuten Fußweg zwischen ihren einzelnen Zimmern einplanten, entweder selbst zu viel Zeit oder zu viel Macht, insofern sie es dann anderen zumuteten.

Er irrte kurz zwischen den Korridoren und Zimmern umher, bevor er jemanden fand — wie erwartet einen Soldaten in der Uniform der Morgenröte, der auch seinerseits kaum überrascht schien. Duncan hatte die Adresse von einer Kontaktperson bekommen; nicht einmal eine Nachricht, nur eine Anfrage an den Mann von der Galaktischen Patrouille. Jemand musste ihn verpfiffen haben, aber Duncan hatte selbst keine größeren Schwierigkeiten, die Fraktion ausfindig zu machen, die sich in dem leerstehenden Landsitz einnistete — eine Logistiktruppe, die er bis dahin kaum beachtet hatte, was bedeutete, dass sie entweder besser waren als er oder eine Agenda verfolgten, die nichts mit dem sonstigen Durcheinander auf diesem Planeten zu tun hatte.

Der Soldat führte ihn zu einem Saal an der anderen Seite des Gebäudes. Weitere uniformierte Leute räumten hier behäbig etwas aus Kisten aus; Karten oder irgendwelche Datenträger, die sich bereits auf den Tischen stapelten. Duncan blieb an der Tür stehen, während der Soldat mit einer Offizierin sprach. Sie sah kurz über die Schulter zu Duncan hinüber, und ohne weitere Ansage verließen alle anderen den Raum. Die Offizierin deutete zu einem Stuhl an einem der Tische hinüber, während sie zwei Gläser und eine Karaffe von einem Fensterbrett holte.

Duncan setzte sich. Das schien keine Situation zu sein, in der sich Menschen einander beim Namen vorstellten, und so wartete er ab, bis sie beiden Wasser eingegossen und selbst Platz genommen hatte. Auf dem Aufnäher an ihrer Brusttasche konnte er einen Namen entziffern:DION, M.“, kein Name, den er irgendwo gelesen oder gehört zu haben meinte. Sie war verhältnismäßig jung, mit einem runden braunen Gesicht und bei allen Bewegungen etwas langsam; kein gewalttätig oder barsch wirkender Mensch wie viele der anderen aus dieser Armee, weniger eine Soldatin als irgendeine Spezialistin, die in diesem Chaos zu einer Führungsposition aufgestiegen war. Dann bemerkte Duncan die letzten Spuren eines Gesichtsausdrucks, den er aus den ersten Jahren in der Patrouille selbst sehr gut kannte: Ein kindlich aufgeregtes Staunen, der große Wunsch nach dem Weltall. Das ist gut, dachte er und musste selbst breit grinsen, die ist gut.

Dion sah ihn schweigend an, bis Duncan das Wasserglas vom Tisch nahm und erst einen kleinen und danach einen sehr großen Schluck trank. „Hast du etwas für mich?“, fragte sie schließlich.

„Ich denke schon“, sagte er, „hängt davon ab.“ Er wusste viel zu wenig über diese Fraktion, aber in der aktuellen Lage konnte er zumindest sicher sein, dass sie genug gemeinsame Interessen hatten, und sei es nur Stabilität. Das war jetzt eine ökonomische Angelegenheit: von entbehrlichen Informationen, von taktischen Informationen, die beiden vorübergehend einen Vorteil verschaffen konnten, von längerfristigen Konsequenzen.

„Ich habe etwas für euch“, sagte sie und holte ein kleines Notizbuch aus der Brusttasche.

„Ja?“

„Informationen über das Schiff. Pläne.“ Sie legte das Notizbuch vorsichtig auf den Tisch.

Duncan trank das Wasserglas leer. „Ich muss jetzt doch fragen — warum?“

„Weil sie verlieren müssen“, sagte Dion und schenkte ihm aus der Karaffe nach. Duncan entschied, lieber nichts zu sagen; das schien etwas zu sein, das sie noch für sich selbst artikulieren musste. „Wir müssen verlieren“, sagte sie. „Es war der falsche Weg. Es muss allen klar werden, dass es der falsche Weg ist.“

Sie will ihre Leute retten, dachte Duncan. Was für ein Glück, was für ein großes Glück. „Was wäre der richtige Weg?“, fragte er.

Dion zuckte mit den Schultern. „Nicht dieser Krieg.“ Sie schaute aus dem Fenster und durch die Türen in die endlosen Korridore und Zimmerfluchten, wo die Leute aus ihrer Einheit warteten oder irgendwelche Unterlagen sortierten. „Wir sind alle sehr müde, hier.“ Duncan war versucht, sich sein Glas Wasser oder gleich die ganze Karaffe ins Gesicht zu kippen. Das war, selbstverständlich, die Lösung aller Probleme; es war aber auch ein Deal, und er musste herausfinden, was sein Beitrag dazu sein würde. Die Galaxis, dachte er. Galaktische Dimensionen. In galaktischen Dimensionen denken.

„Ihr braucht einen Planeten“, sagte er, selbst von der Idee überrascht; ein Gedankenfetzen aus einer Kaffeepause mit Lucia Lem, den niemand weiterverfolgt hatte, weil wie immer viel Dringenderes zu klären war.

„Ist das etwas, das du entscheiden kannst?“

„Er ist halt da, der Planet“, sagte Duncan. „Nicht wie … dieser.“

Dion schob das Notizbuch über den Tisch. Duncan schaute nur kurz hinein: Akribische, aber hastige Skizzen und Beschreibungen, wahrscheinlich insgeheim und zwischendurch aufgezeichnet. Er war gerade von seinem Stuhl aufgestanden, als er Dion fast unmerklich die Stirn in Falten legen sah. „Ja?“, fragte er, „noch etwas?“

„Noch etwas“, sagte sie. Duncan setzte sich wieder. Dion schaute eine Weile zum Fenster. „Deine Leute“, sagte sie, „sind sie stark?“

„Stark genug“, sagte Duncan. Sie wusste, dass er sich mit der Einheit von der Galaktischen Wache getroffen hatte; natürlich wusste sie das. Jemand war im Bus gewesen, oder hinter den dicken Gardinen in der Siedlung. Wie sonst sollte sie ihm trauen. Für eine Sekunde verspürte er ehrliche Angst, ob diese Truppe auch von den Aufzeichnungen im verlassenen Archiv wusste, aber dann schien das nichts zu sein, das diese Fraktion interessieren könnte.

„Stark genug?“ wiederholte Dion. Sie wirkte immer noch nicht, als wäre Krieg ihre Berufung, doch mit nur einer winzigen Änderung ihrer Haltung stellte sie klar, dass sie dennoch ihr gesamtes Leben dafür trainiert hatte. Hier bin ich also wieder, dachte Duncan und kam sich nicht nur sehr verschwitzt, sondern auch sehr schwer und weich vor. Die bringt mich notfalls mit einem Handgriff um. Er musste trotzdem grinsen.

„Warst du bis zuletzt auf Dunhuang Siebzehn?“, fragte er.

„Ja.“

„Ich nicht“, sagte Duncan. „Aber unsere Leute, sie waren da.“

Dion verzog den Mundwinkel. „Ja, gut“, sagte sie. „Ich habe einen weiteren Vorschlag.“

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Eran Debro war erstaunt, als er die Offizierin auf den zweiten Blick wiedererkannte — nicht, weil er sie lange nicht gesehen hatte, sondern weil er sie andauernd gesehen und nie registriert hatte. Jetzt musste sie wohl zum ersten Mal etwas zu sagen haben, anstatt bestenfalls über etwas Auskunft zu geben.

„Und die Quelle ist vertrauenswürdig?“, fragte er.

„Ja“, sagte Mira Dion und wirkte selbst so vertrauenswürdig, dass es auf alle ihrer Quellen übergehen musste.

„Was gewinnen wir dabei?“, fragte Debro in die Richtung der Projektionen. Er hatte Jehan zugeschaltet, nachdem Dion sich aus ihrer Basis auf dem Planeten gemeldet hatte. Der ältere Mann war wie immer sofort in seinem Turm erreichbar gewesen; jetzt schaute er unbeteiligt über die Kamera hinweg.

Dion wartete einen Moment, bevor sie antwortete, aber Jehan hatte wohl vorerst nichts anzumerken. „Die Sektoriale Selbstverwaltung wird uns immer im Weg sein“, sagte sie. „Sie haben eigene Strukturen und könnten die Zivilbevölkerung mobilisieren, sobald sie sichtbare Erfolge haben. Oder wenn die Lage noch länger instabil bleibt.“

Warum spricht sie immer so langsam, dachte Debro ärgerlich. Als würde sie einen Bericht vorlesen. „Ich verstehe“, sagte er.

„Diese Messehalle“, fiel Abelia Morse ihm fast ins Wort. „Können wir sie für etwas gebrauchen?“

„Es ist eine große Anlage“, sagte Dion, „sie bietet keine strategischen Vorteile gegenüber unseren … bisherigen Basen, so weit ich es ermessen kann. Aber eine mögliche Kaserne, eine Klinik. Besser, sie nicht anderen zu überlassen.“

Nicht einmal Vorteile, dachte Debro. Und diese träge Offizierin gehörte zu denen, die sich dort unten als Militärs verstanden; die nicht, wie die meisten, jetzt irgendeiner Bande angehörten, die die Reste der Ausrüstung und Ideen von der Morgenröte mit sich trug.

„Wir können dort die Gefangenen unterbringen“, sagte Abelia.

Kurz hatte Debro das Gesicht seiner Tochter vor Augen. Sie zählte wohl ebenso nicht mehr zu der Armee, die er von hier oben befehligte. War sie jetzt nur noch, oder eher vor allem seine Tochter, zu was auch immer sie sonst auf diesem Planeten geworden war? „Wozu brauchen wir Gefangene“, sagte er, irritiert von der Wendung, die dieses ohnehin uninteressant werdende Gespräch genommen hatte.

„Ganz genau das ist mein Punkt“, sagte Abelia mit Nachdruck. „Sie sind jetzt seit Jahren auf der Morgenröte.“

„Ja“, sagte Debro und verzog das Gesicht. Selbstverständlich sprach sie nicht von der Invasion, sondern von diesem Schiff, und von den Leuten, die als Gefangene hier beinahe so lang an Bord waren wie er.

„Sektoriale Selbstverwaltung“, sagte Jehan jetzt, während er vermutlich nicht nur über die Kamera, sondern über die gesamte Stadt hinwegsah. „Milia kann gehen. Wenn es nötig ist.“ Jehan Debro hätte nach seiner Rekonstruktion ohne weiteres das Kommando über die gesamte Armee zugestanden; er und Carson Milia — seinerseits ein fast mythischer Kriegsheld auf ihrem Planeten — hatten zu Anfang der Invasion mit einem Platoon in nur wenigen Stunden das Stadtzentrum erobert und sich dann in diesen Turm zurückgezogen. Eran Debro wusste nicht, was er ihnen noch sagen konnte oder zu sagen hatte.

Mira Dion schwieg ausdruckslos, doch Morse sah ihn erwartungsvoll, beinahe fiebrig an. Eine Falle, dachte Debro. Aber das war es schon davor gewesen, möglicherweise sogar dieser erste, einfache Sieg auf der kleinen Kolonie, der die irritierenden Menschen mit den bleiernen Augen auf die Morgenröte gebracht hatte; vielleicht tat die junge Offizierin gut daran, bereits da anzusetzen, diesen Fehler zu revidieren. Plötzlich spürte er etwas Übles, das von seinem Bauch hinaufkroch und ihm den Atem stocken ließ. Nein, dachte Debro. Viel früher, die Falle wurde viel früher gestellt. Was wäre, wenn wir nicht unterwegs waren, um einen neuen, besseren Ort für unsere Leute zu erobern; wenn die Morgenröte sich auf die Reise gemacht hatte, den Krieg möglichst weit wegzutragen. Uns.

„Milia sollte gehen“, sagte er. „Morse hat recht.“

Basil Matei hob amüsiert die Augenbrauen. Er spürt es auch, dachte Debro. Oder weiß es schon längst. Das große Projekt der Morgenröte schien vor seinen Augen zu zerfallen — ein innenpolitischer Schachzug auf einem Planeten, auf dem längst niemand mehr auf sie wartete; auf der anderen Seite der Spleen von Berserkern wie Carson Milia oder Spielern wie Matei. Und dafür verliere ich da unten mein Kind, dachte er. Mittlerweile war er sich sicher, dass die träge Offizierin sie verriet. Also gut, dachte er bitter, dann ist dies ist die Zeit des Verrats.

Vorschau: Weit oben über der Stadt hat Rachel eine letzte Idee, um ein Duell für sich zu entscheiden. Aleph verändert sich für eine einsame Mission. „Aber das kannst du doch nicht so einfach machen“, sagt Bess.

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Jacob Birken
Jacob Birken

Written by Jacob Birken

Writer, researcher. Interested in ideas about history & historicity, and their mediation in arts & pop culture.

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