Die Kriege der Zukunft [SE01 EP10/11]

Jacob Birken
41 min readFeb 9, 2020

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Was bisher geschah: Aus den Tiefen des Weltalls kommt die Morgenröte, um einen vor Jahrhunderten zurückgelassenen Teil der Galaxis zu erobern. Mit an Bord Carina Debro und Abelia Morse: Letztere auf dem Schiff geboren und aufgewachsen, erstere der aus dem Kälteschlaf geweckte Spross der Familie, die die Morgenröte Lichtjahre zurück auf den Weg gebracht hatte. Auf ihrem Weg liegt — vermutlich — der Planet Dunhuang Siebzehn. Hier wartet Eric Elvis Late. Er hat die Morgenröte vor einigen Jahren auf dem Planeten Selene verpasst; was er sich von ihr erwartet, weiß er noch nicht. Auch andere Menschen auf Dunhuang Siebzehn bereiten sich auf die Ankunft des Schiffes vor.

„Der Puls”

Abelia hatte lange darüber nachgedacht, warum der neue Kapitän auf der Brücke so anders wirkte als Eran Debro und zuvor Wornausz. Gewiss war Basil Matei, was man als eine historische Figur bezeichnete. Schließlich war dies sein Projekt; Matei hatte die Morgenröte aus der Vergangenheit eines jetzt unendlich fernen Planeten auf eine Reise geschickt, die dann Leute wie die Debros und — hier kniff Abelia unwillkürlich irritiert die Augen zusammen — sie selbst unternahmen. Jetzt war er wieder da, und nicht, weil er wie alle anderen einige Jahre oder Jahrzehnte geschlafen hatte: Basil Matei war schlichtweg tot gewesen, und Eran Debro hatte die Entscheidung gefällt, dass es an der Zeit war, diesen Tod wieder rückgängig zu machen — Lichtjahre entfernt in einem Schiff, dessen Besatzung zu einem guten Teil noch nicht geboren gewesen war, als Matei das letzte Mal aus dem Leben schied. Matei war wie die übrigen elf Gründer als Geist anwesend geblieben, als die Inspiration der Morgenröte; jetzt aber stand er auf der Brücke und interagierte mit Menschen, die diesen Ort zuvor auf ganz normale Weise belebt hatten.

Dennoch war das nicht, was Matei von ihnen unterschied; der neue Kapitän war, wie Abelia überrascht festgestellt hatte, alt. Natürlich war Eran Debro wie seine Tochter um einige Jahre gealtert, und mit ihnen alle anderen, die nach dem Rückzug vor Selene wach geblieben waren. Matei aber war nicht erst gealtert. Er gehörte einer anderen Generation an, wie sie auf der Morgenröte schlichtweg nicht vertreten war: Bevor Menschen hier alt wurden, verschwanden sie in den Tiefkühlschlaf. Das war vor allem eine Frage der Höflichkeit. Wer schon hier an Bord einen guten Teil des Lebens Dienst getan hatte, sollte den Rest gerne woanders verbringen können, wo auch immer dieses woanders sein sollte; und so warteten in den kryogenischen Röhren immer mehr Menschen darauf, dass die Morgenröte irgendwo ankam und dort auch ihr eigenes Leben weiter seinen Lauf nahm, und mit den Schlafenden summierte sich — wie Abelia manchmal konsterniert feststellte — die Verantwortung der wachen Menschen, mit der Morgenröte endlich an ein Ziel zu gelangen.

Basil Matei wirkte nicht wie jemand, der sich über den Rest seines Lebens Gedanken machte. Dies war auch nicht der Rest eines Lebens, sondern ein neues Leben; vielleicht ein richtiges Leben, wie es ihm sein Planet zuvor verweigert hatte. Nun waren sie hier, um dieses Problem zu lösen: Vielleicht würde dieser Planet Basil Matei vor Aufgaben stellen, denen beide gewachsen waren, der Planet und der alte Mann. Was hat das jetzt mit uns zu tun, dachte Abelia, ließ diesen ketzerischen Gedanken aber schnell wieder fallen.

Der neue Planet drehte sich als Hologramm riesig über der Brücke. Sein Bild war auf das Notwendigste reduziert: auf ein simples Gitter, das grob die Landmassen verzeichnete, auf farbige Punkte, die irgendwelche relevanten Fakten verorteten. Diese Daten hatten sie von einem streunenden Kriegsschiff gestohlen, das sie seinerseits zuvor gestohlen hatte; vermutlich waren sie unvollständig und mit Sicherheit veraltet, vielleicht sogar Falschinformationen, die von dem Planeten aus gestreut wurden, um Angreifer über seine Verteidigungsanlagen zu täuschen.

Die wichtigste dieser prekären Informationen umhüllte nun als ein Raster aus gelben Punkten den gesamten Planeten: Ein Netz aus Satelliten, bewaffnet und sicherlich mit weiteren unabsehbaren Abwehrmechanismen ausgestattet. Abelia schaute eine Weile zu, wie über ihr das Hologramm rotierte, und dann zu der Plattform hinauf, von der aus Matei und die Debros ihren Schlachtplan entwickelten. Niemand hätte ihr untersagt, sich zu ihnen auf die Plattform zu gesellen, aber hier unten war sie wenigstens eine erfahrene Offizierin, und dort oben nur jemand, der anderen bei Entscheidungen zusah.

Das Raster war zu perfekt, um es sich als etwas Wirkliches vorzustellen: Jeweils zweiunddreißig gelb leuchtende Punkte, die auf jeweils einem von zweiunddreißig Ringen ihre Bahn um den Planeten zogen; ein sich permanent veränderndes Muster, genau eingerichtet, damit sich die Satelliten nicht in die Quere kamen und dennoch nie eine größere Lücke freigaben. Carina Debro spürte einen instinktiven Widerwillen gegen die Verteidigungsanlage. Gut, dachte sie dann, das muss sowieso weg, was auch immer es ist. Immerhin hatten sie diese Information: Die Satelliten waren ein Problem, aber das hieß, dass sie dafür eine Lösung suchen konnten. Der Planet der Menschen mit den bleiernen Augen hingegen hatte die Morgenröte damit konfrontiert, vollkommen unvorbereitet gewesen zu sein; das war bereits ein guter Grund gewesen, sich geschlagen zu geben, und vielleicht ein besserer als die titanische Lanze aus Energie selbst, die damals knapp an dem Schiff vorbeigezogen war. Carina sah sie manchmal noch in ihren Träumen, einfach nur eine helle Diagonale, die ihr Gesichtsfeld durchkreuzte, kurz, bevor sie aufwachte. Diesmal nicht, dachte sie.

„Wir müssen von der optimalen taktischen Lage ausgehen“, hörte sie neben sich Basil Matei sagen. „und dann den Weg dorthin finden. Wo brauchen wir die Morgenröte, um diesen Planeten zu gewinnen?“ Der alte Offizier massierte sich beiläufig die Schläfen. Zu seinen früheren Lebzeiten hatte er Schlachten geschlagen, die für alle anderen auf der Morgenröte undenkbar erschienen; ein brillanter Stratege und der erste, der die Pulswaffe zielführend einzusetzen vermochte. Dies war jedoch auf dem Boden und am Himmel ihres staubigen, bleichen Planeten passiert; mit dem interstellaren Krieg in diesem Teil der Galaxis hingegen hatte er (bei allem Respekt) weniger Erfahrung als noch der jüngste Kadett der Morgenröte, und machte auch keine Anstalten, einen anderen Eindruck zu erzeugen. „Vorschläge?“, fragte er und hob eine Augenbraue.

Carina spürte einen unangebrachten Druck in ihrem Brustkorb. Nein, dachte sie, ich muss hier niemanden beeindrucken. Nur die richtige Lösung finden. Die optimale taktische Lage war ein niedriger Orbit über dem Planeten, von dem aus die Morgenröte die Landungsschiffe und Geschwader aussenden konnte. Auf dem Weg dorthin lag jedoch das Netz aus Satelliten. Selbst wenn sie es durchdringen könnten, würden auf der anderen Seite weiterhin hunderte dieser Maschinen ihre Waffen auf die Morgenröte richten. Und selbst wenn sie mit dem Puls einen größeren Bereich von den Satelliten säubern könnten — in kurzer Zeit wären wieder genug in Reichweite; dazu brauchten sie nur ihrer jeweiligen Umlaufbahn zu folgen. Fielen hundert der Satelliten aus, würden die verbliebenen neunhundert schnell ein zwar weniger dichtes, aber zureichend tödliches Netz bilden. Es müsste viel mehr als nur eine Lücke sein.

Wir haben aber nur den Puls, dachte Carina, und der Puls hat einen weiten, aber letzten Endes beschränkten Radius. Sie starrte durch das Hologramm hindurch in das Weltall hinter den Fenstern der Brücke, in die Schlieren, in die Lichtgeschwindigkeit alles da draußen verwandelte, während sie auch im Inneren des Schiffes allem eine dubiose Unschärfe verlieh. Ich werde mich nie daran gewöhnen, dachte Carina und versuchte, die ohnehin schon halbtransparenten Linien und Punkte des Hologramms über der Brücke zu fokussieren. Ach so, dachte sie dann.

„Können wir schnell eine Simulation ausprobieren“, sagte sie in die Runde.

„Natürlich“, sagte Basil Matei.

🌠

Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs … sieben. Duncan hatte eine Weile gebraucht, um in der Stadt einen interessanten Aussichtspunkt zu finden, aber jetzt saß er bereits den ganzen Nachmittag auf dem Balkon und beobachtete die Menschen auf den Plätzen und in den gegenüberliegenden Wohnblöcken. Der Balkon gehörte zu einem Apartment am Rand eines der großen Blöcke Dunhuang Siebzehns; das Apartment selbst war unbewohnt, aber schien informell zur Fläche einer Kneipe ein Stockwerk tiefer zu gehören, deren Gäste sich jedenfalls regelmäßig hier heraus setzten und manchmal noch in die Wohnung einstiegen, falls ihr Eintopf über einem Gespräch kalt geworden war und kurz aufgewärmt werden musste. Nach seinem ersten Besuch hatte Duncan bereits gelernt, zwanglos in die Runde zu fragen, ob jemand auch ein Getränk von unten haben möchte, und am zweiten Abend erzählten ihm mehrere Menschen ihre Lebensgeschichten, während er nebenbei die Kochplatten in der Wohnung abwischte. Im Augenblick saß er mit einem frischen Bier in einer Ecke des Balkons und zählte, wie viele der Menschen unten gerade den Kopf in den Nacken legten und den Himmel nach irgendwelchen Zeichen absuchten. In den letzten Tagen war dies für zunehmend mehr zu einer Angewohnheit geworden. Sie blickten hoch, wenn sie an einer Straße warteten, wenn ein Gespräch sich zu lange hinzog oder gleich als erstes, wenn sie aus einem Gebäude ins Freie traten; manchmal warfen sie noch einen letzten Blick über die Schulter hinauf, bevor sie in ein Haus oder ein Fahrzeug verschwanden, wie um sich abzusichern, ob sie nicht etwas aus den Tiefen des Weltalls hierher verfolgt hatte.

Als hätten sie sich gerade an etwas Wichtiges erinnert, dachte Duncan, etwas, das von dort oben ihren Alltag in Frage stellte. Es waren weiterhin nur wenige, aber ausreichend, damit sich hin und wieder zwei dabei ertappten, gerade zum Himmel gestarrt zu haben; dann wandten sie peinlich berührt den Blick ab oder lächelten verlegen und zugleich etwas beruhigt, denn der strahlend blaue und bis auf einige Wölkchen recht leere Himmel zeugte nur davon, dass sie gerade eine offenbar unbegründete Sorge teilten. Duncan war ihnen jedoch zu selten nahe genug, um den Gesichtsausdruck zuverlässig interpretieren zu können. Vielleicht las er hinein, was er selbst empfand, während er hin und wieder unwillkürlich den Himmel über Dunhuang Siebzehn absuchte.

Sieben, dachte er und überflog schnell die Szenerie unten, gestern waren es höchstens vier gleichzeitig gewesen. Die Sorge verbreitete sich oder gewann mit der Zeit an Gewicht. Das war nicht überraschend: Seit Jahren waren die Netze voller Spekulationen über den Verbleib des rätselhaften roten Schiffes, und einige der überzeugenderen hatten mit Dunhuang Siebzehn zu tun. Gestern vier, heute schon sieben; vielleicht würde die Morgenröte schließlich erscheinen, wenn an irgendeinem Tag in der Zukunft wirklich alle gleichzeitig in die Höhe starrten. Vielleicht musste man es von dieser Richtung her betrachten. Irrsinn, dachte Duncan und nahm lieber einen großen Schluck Bier.

Er selbst hatte soweit alle Vorbereitungen getroffen, die ihm in den Sinn gekommen waren. Pünktlich jeden Morgen hatte er seinen aktuellen Zustand gescannt und eine Kopie der Aufzeichnung durch das Portal vor Dunhuang Siebzehn nach Callisto in die Personalarchive der Galaktischen Patrouille geschickt; bald wurde ihm klar, dass dies einen eher rituellen Charakter hatte, denn an jedem neuen Morgen war er selbst weder mehr noch weniger bereit für das, was auch immer da kommen mochte — der Duncan von heute genauso wie der Duncan von gestern oder vorgestern nur jemand, der mit nebliger Sorge und Sehnsucht hin und wieder nach oben starrte. Nein, viel länger, dachte er, während er mit einem Finger über den Rand des Bierflaschenetiketts fuhr, schon viel länger. Vielleicht habe ich das mitgebracht, und die Leute hier angesteckt. Duncan war wahrscheinlich bereit gewesen, nachdem die unermesslichen rötlichen Gebirge und Täler ihres Rumpfs, die Wälder aus Antennen und die blau pulsierenden Generatoren der Morgenröte hinter den Fenstern der Gandiva verschwunden waren und das Flaggschiff der Galaktischen Patrouille im Verhältnis noch etwas winziger im Weltall zurückgeblieben war. Seitdem waren Jahre vergangen. Nachdem Lucia Lem und er auf Selene die Verschwörung aufgetan hatten, wurden sie beide der Spionageabwehr innerhalb der Galaktischen Patrouille zugeteilt. Genauer gesagt wurden sie die Spionageabwehr, nachdem Leute weiter oben festgestellt hatten, dass so etwas angesichts der aktuellen Lage notwendig wäre — und Lucia und Duncan gerade ihr Können in dieser Sache unter Beweis gestellt hatten (dass dies weniger mit Berufung als mit den Umständen zu tun hatte, schien einzig Lucia Lem aufzufallen).

In den nächsten Jahren deckten die Beiden sechs weitere, mehr oder weniger bedrohliche Verschwörungen auf den Planeten der Res Publica und ihrer Alliierten auf. Vom Außeneinsatz war Duncan schon bald hinter einen Schreibtisch gewandert, von wo aus er andere ermitteln ließ; Lucia Lems Gesicht war seit Selene in allen Datenbanken, und nach ihrem dritten Einsatz hatte Duncan in den Unterlagen der Zelle der Befreiten Sektoren ein paar unscharfe Aufnahmen seiner selbst gefunden, was den Erfolg angesichts der offensichtlichen Unfähigkeit ihrer Kontrahenten etwas schmälerte („jeder zweite hier sieht aus wie du“, hatte Lucia beschwichtigend gesagt). Es war ein guter Job, aber vor wenigen Monaten hatte Anita Pastor Lucia in die Befreiten Sektoren selbst gerufen, wo die Galaktische Patrouille einen Durchbruch nahe Gliese Noctis gemacht hatte. Duncan rückte nun an die Spitze der Spionageabwehr, doch als bei einer Sitzung der Abteilungsleitungen der Patrouille die Rede auf die Morgenröte und ihren möglichen Kurs auf Dunhuang Siebzehn kam, meldete er sich ohne Zögern und trotz sonderbarer Gefühlswallungen freiwillig und überließ die Abteilung seinem mittlerweile gut eingespielten Team.

Als Agent auf Dunhuang Siebzehn kam es Duncan vor, als wäre aus einer anspruchsvollen Arbeit ein interessantes Hobby geworden. Eine Weile lang hatte er den verdächtigen Mann beschattet, den Lucia Lem vor ein paar Jahren bei Selene aufgegriffen hatte; danach hatte er zusätzlich die Leute der Garde der Res Publica beschattet, die sehr offensichtlich auch den verdächtigen Mann beschatteten. Das war unterhaltsam, aber nach wenigen Tagen wurde er des Ganzen überdrüssig. Als er zwischendurch kurz Kontakt zu Lucia aufnehmen konnte, hatte sie beim Namen „Elvis Eric Late“ nur mit den Augen gerollt, und ganz ehrlich war der Einsatz der Garde hier ein gutes Zeichen dafür, dass von dem Mann nur scheinbar irgendeine Bedrohung ausging. In der Galaktischen Patrouille gehörte es beinahe zum Protokoll, Ermittlungen einzustellen, sobald auch die Garde sich mit etwas zu beschäftigen begann; dann war nämlich der Punkt erreicht, ab dem es entweder zu spät war oder es sich um eine falsche Fährte handelte.

Als auch er nun von seiner Terrasse aus mit zugekniffenen Augen zwischen den Wolken irgendwas zu erkennen versuchte, überkam Duncan das Gefühl, dass es tatsächlich zu spät war, selbst wenn dies nicht direkt etwas mit Elvis Eric Late zu tun haben sollte; vielleicht war auch Late hier, weil es zu spät war, und nicht, um noch irgendetwas unternehmen zu wollen. Im Gegensatz zu den Menschen auf den Straßen unten hatte Duncan die Aufnahmen gesehen, die eine Sonde der Marine von einem bei Lichtgeschwindigkeit reisenden Schiff gemacht hatte, und dabei die gleiche Aufregung verspürt wie Jahre zuvor, als die gewaltigen Formen der Morgenröte hinter den Fenstern der Gandiva vorbeizogen. Dass auf den neuen Aufnahmen nicht viel mehr zu sehen war als eine rote Schliere, war nur folgerichtig: Nicht lange nach dem Abenteuer auf Selene hatte Duncan begonnen, seine eigenen Erinnerungen an das monströse Schiff anzuzweifeln, und schließlich ertappte er sich dabei, dass er auf die Frage, ob er dieses Schiff denn damals gesehen habe, mit einem „ich glaube“ antwortete. Auch auf den aktuellen Aufnahmen blieb die Morgenröte eher eine Ahnung als ein Beleg, ein rotes Gespenst im All, vielleicht unterwegs zu diesem Planeten.

„Denkst du auch, dass es kommt“, sagte jemand, eine jüngere Frau, die nicht allzu lange her mit ein paar anderen auf den Balkon gekommen war.

„Was?“

„Dieses Schiff, Das geheimnisvolle Schiff“, sagte sie mit gespieltem Grauen, während sie zwischen den Flaschen und dem Geschirr auf der Balustrade ihr Bier suchte. „Weil du gerade so in den Himmel geschaut hast.“ Duncan riskierte einen weiteren raschen Blick nach oben, während die Frau zum Bier griff, doch der Himmel blieb leer, auch wenn sich bereits eine Spur von Rot ins Blau gemischt hatte. Abenddämmerung, nicht Morgenröte, dachte Duncan. Da ist noch nichts. „Ich habe nur nachgedacht“, sagte er und lachte. „Aber erzähl mal, was hast du gehört, über das Schiff?“

🌠🌠

„Warum programmieren sie dann nicht das Protokoll ein“, sagte Seth Reinald. „Dann wäre das Protokoll da. Dann wäre das Problem gelöst.“ Er rief ein paar Akten auf und wischte durch die Seiten. „Da. Einrichtung des Transferprotokolls zwischen Orbitalnetzwerk und planetarem Verteidigungssystem laut Spezifikation ISO Dreisiebenfünfvierachtzweizwei und so weiter und so weiter, geschätzte Einrichtungszeit inklusive Dissemination zwanzig Stunden, vorgeschriebene Testphase achtundzwanzig Tage. Zwanzig Stunden.“ Reinalds Blick blieb auf ein paar Zahlen in einer Ecke des Dokuments hängen. „Das ist ihr Vertrag, von vor zwölf Jahren. Zwanzig Stunden, um dieses Protokoll einzurichten.“

„Das stimmt“, sagte der Unternehmensvertreter, den Reinald nach mehreren Tagen vergeblicher Versuche nun endlich erreicht hatte. Das Gesicht des Vertreters schwebte hinten über Reinalds Schreibtisch, fast schon verdeckt von den vielen Dokumenten und Diagrammen zu der dysfunktionalen Verteidigungsanlage Dunhuang Siebzehns, die Reinald im Laufe dieses Gesprächs aufgerufen hatte. „Wir müssen dafür aber die Anwendbarkeit von ISO Dreisiebenfünf…“ — Reinald wedelte ungeduldig mit einer Hand — „… die Anwendbarkeit der Spezifikation auf ein autarkes orbitales Waffensystem in Verbindung mit den Netzen der Garde prüfen. Wie sie sicher selbst wissen, sind die Netze der Garde auf Dunhuang Siebzehn intern gemäß dem Standard ISO Dreisiebenvierneunneunneunacht gesichert, während die Kommunikation mit den interplanetaren Netzen der Res Publica noch, warten sie … dem Standard ISO Dreisiebenvierneunneunachtsieben folgt, in der nicht mehr aktuellen Fassung Sechstausenddreiundvierzig. Ich verstehe, dass die Res Publica ihre Systeme in den nächsten Jahren dem aktuellen Standard anpasst, aber aktuell wurden hier zahlreiche Sicherheitsbedenken an mich herangetragen, die ich angesichts der Situation durchaus teile.“

Reinald wollte instinktiv aus seinem Sessel aufspringen, sank dann doch nur einen halben Kopf tiefer hinein. „Sind sie dumm“, sagte er, mehr erschöpft als wütend. „Das einzige relevante Sicherheitsbedenken ist hier, dass die Satelliten wahrscheinlich nicht ihre Arbeit machen, und wir nicht einmal wissen können, ob sie sie machen könnten. Zwanzig Stunden. Dieses Gespräch ist beendet.“

„Sie verstehen nicht. Falls wir das Protokoll nach Spezifikation …, also, nach Spezifikation einrichten, machen wir uns möglicherweise strafbar. Ich muss das erst durch unsere Rechtsabteilung laufen lassen, bevor wir überhaupt etwas unternehmen können.“

Reinald wurde blass. Das ist es, dachte er, die haben nicht einmal Leute, die dieses Protokoll einrichten können. Die haben nur ihre Rechtsabteilung und Idioten wie diesen hier, der uns alle paar Monate mit seinem Geschwätz einlullt. Er drehte sich zu Park Thaeer um, der in einer Ecke des Büros gutgelaunt die Blättchen einer großen Topfpflanze zu zählen schien. „Können wir diese Satelliten nicht einfach kaufen? Oder meinetwegen stehlen, was auch immer schneller geht.“

„Warum nicht beides“, sagte Thaeer zu der Topfpflanze.

🌠🌠🌠

‚Besinnlich‘ war kein Wort, das Anita Pastor bislang für Jin Dahl eingefallen wäre. Mit geschlossenen Augen und einem feinen Lächeln auf den von seinem wild wuchernden Bart fast verborgenen Lippen ruhte der Riese im Pilotensitz des Landungsschiffs. Von der glänzenden Scheibe des Nodiums an seinem Arm aus durchwirkten Fäden aus Licht oder vermutlich etwas anderem, für die menschliche Wissenschaft soweit nicht verständlichem das Cockpit, als würde aus Dahls Handgelenk eine sanft strahlende Koralle wachsen. Manche der Fäden tasteten langsam über die Oberflächen im Schiff; manche hatten sich bereits an für sie vorgesehene Anschlüsse im Cockpit festgesetzt. Auch wenn die Funktionsweisen des Nodiums rätselhaft blieben, war es immerhin möglich, ihm nicht allzu sehr im Weg zu stehen, wenn es sich beispielsweise das Innenleben einer Maschine aneignete — und so war gerade dieses Schiff entsprechend konstruiert worden, um dem Nodium Zugriff auf seine doch sehr speziellen Funktionen zu ermöglichen.

Auch Jin Dahl war freilich nicht im Pilotensitz eingeschlafen. Durch das Gerät an seinem Arm war er selbst mit dem kleinen Schiff verwoben und darauf konzentriert, es und seine Besatzung vor allen Augen und anderen Sensoren verborgen zu halten. Melancholie überkam Anita. Es war nicht so, dass ihr die Macht fehlte, die einem das Nodium verlieh — das war ein Ärgernis, denn schließlich hatte Anita Verantwortungen, die sie nun nicht auf die Weise übernehmen konnte, wie sie es über Jahrhunderte gewohnt gewesen war. Was ihr wirklich fehlte, war die Möglichkeit, mittels der sonderbaren Scheibe in ihre Umwelt einzutauchen. Jin Dahl war in diesem Moment nicht minder mit den verschiedenen Tarnsystemen ihres Schiffs verbunden, wie mit allem, auf das diese Systeme reagieren sollten — es war, als würde dieses winzige Stück der Galaxis insgesamt darauf hinarbeiten, dass das Schiff der Patrouille in ihm verschwand, und der Riese im Pilotensitz war daran nicht mehr oder weniger beteiligt als die Tarnfeldprojektoren des Schiffs und die Augen der Leute in den anderen Schiffen oder in den Kontrollzentren unten auf Gliese Noctis, die dieses kleine Schiff in diesem Augenblick eben nicht sahen.

Es mussten viele Augen sein und noch viel mehr Sensoren, die es gerade hätten entdecken sollen. Nach den Vorfällen bei Selene und auf Gliese Pacifica hatte die Res Publica schließlich eine Flotte nach Gliese Noctis entsandt. Die Flotte hatte Jahre gebraucht, um in dieses Sternensystem zu gelangen — eine Reise wie aus der Zeit, bevor Portale alle besiedelten Planeten in diesem Teil der Galaxis innerhalb von Stunden erreichbar gemacht hatten. Von der Brücke der Vijaya aus hatte Anita den geschundenen Rumpf des gewaltigen Schlachtschiffs bestaunt, das im Zentrum dieser Flotte stand und ihnen nun in Reichweitte von Gliese Noctis schließlich ein neues Portal in die Befreiten Sektoren hatte eröffnen können. Das war die Denali, nach Generationen reaktiviert, in denen interstellarer Krieg nicht einmal eine Erinnerung war. Anita hatte überlegt, ob sie selbst das Schlachtschiff einst in Aktion erlebt hatte, aber es war eben nur eine weitere unter den vielen Kriegsmaschinen der letzten Jahrhunderte. Vielleicht wäre da irgendwo ein Detail gewesen, das eine Erinnerung hervorgerufen hätte, doch sie waren nicht hier, um ihr Gedächtnis aufzufrischen.

Die Flotte war auf ihrem Kurs nicht unbemerkt geblieben. Notdürftige Reparaturen an der Denali und den kleineren Schiffen zeugten von Scharmützeln mit Piraten und Aufklärungsgeschwadern der Befreiten Sektoren; als sie vor Gliese Noctis ankamen, wartete hier entsprechend eine zahlenmäßig weit überlegene feindliche Flotte. Es war jedoch nie der Plan gewesen, Gliese Noctis aus dem Weltraum anzugreifen. Die Denali hatte sicheren Abstand eingehalten, während drei Teams der Galaktischen Patrouille von der Vijaya in das kleine Landungsschiff stiegen.

„Sehen uns eigentlich unsere Leute noch?“, hatte Lucia Lem gefragt, als Jin Dahl die Tarnvorrichtungen aktivierte und das Schiff aus dem Hangar glitt.

„Gute Frage“, hatte Anita geantwortet.

Jetzt waren sie bereits inmitten der Flotte um Gliese Noctis, zwischen den kantigen schwarzen Kreuzern der Befreiten Sektoren, die das Landungsschiff mit nur einem Schuss aus irgendeiner Behelfskanone atomisieren konnten. Anita sah, wie Lucia neben ihr schon viel zu lange den Atem anhielt. Jin kümmert sich darum, wollte Anita sagen, da ist es egal, wie laut wir atmen. Dann wurden auf der grauen Murmel vor ihnen die ersten Details sichtbar. Gliese Noctis war nicht wirklich dunkel, sondern nur meistens bewölkt. Durch die Lücken in den Wolkenmassen blitzte hin und wieder eine Wasseroberfläche auf oder ein Stück Land, vielleicht bebaut, vielleicht öde oder von irgendeinem Ökosystem bewachsen, das das Terraforming einst ausgelöst hatte. Lucia atmete laut aus, oder seufzte vielleicht.

Der Planet erschien nur vom All aus geheimnisvoll. Vom Boden aus hatte Anita oft genug in die dichte Wolkendecke gestarrt, die nur wie ein weiterer Teil ihres Gefängnisses wirkte. Gliese Noctis war der letzte Ort, an den sie wiederkehren wollte, aber auf unangenehme Weise schien gerade dies ihrem Beruf gerecht zu werden: Wer sollte an diesen Ort zurück, wenn nicht sie. Da war zum einen die pragmatische Einsicht, dass sie die einzige in der Patrouille war, die die Anlagen auf Gliese Noctis selbst erlebt hatte, und zum anderen die ethische, dass sie es nicht verantworten konnte, diese Aufgabe jemandem anderen aufzubürden. Bereits jetzt hatte sie Jin Dahl in die Sache hineingezogen, und die zehn erfahrensten Leute der Patrouille, die nicht gerade mit Aleph auf Gliese Pacifica den Frieden zu sichern versuchten. Mit etwas Glück würden sie unten auf diesem Planeten ihrem verlorenen Nodium wieder ein Stück näher kommen; mit etwas Pech würden sie ein zweites verlieren, und in dieser Sache hatte die Galaktische Patrouille in den Befreiten Sektoren bisher eindeutig kein Glück gehabt.

🌠🌠🌠🌠

Ob die Garde der Res Publica das Satellitensystem über Dunhuang Siebzehn schließlich gestohlen, gehackt oder sich mittels irgendeines Verwaltungsakt angeeignet hatte, würde irgendwann die Rechtsabteilung des Unternehmens herausfinden müssen, das noch vor kurzem Kontrolle über die tausendvierundzwanzig Maschinen hoch über Dunhuang Siebzehn hatte. Wer jetzt die Kontrolle hatte, stand offen.

In den letzten Stunden hatte sich Seth Reinalds Büro mit Menschen aus allen Abteilungen der Garde und der planetaren Verwaltung gefüllt. Anfangs hatte der Generalleutnant jeweils angerufen, wen sie gerade brauchten, aber da sie eigentlich immer alle brauchten, war nach kurzer Zeit der Schreibtisch mit dutzenden Hologrammen bedeckt und Reinald damit beschäftigt, ärgerlich die unterschiedlichen Projektionen von Gesichtern, Akten und Analysen immer aufs neue Beiseite zu schieben. „Alle zu mir ins Büro, jetzt“, rief er, als ihm die Schichten an Dokumenten, animierten Datensätzen und Gesichtern vor den Augen zu einem einzigen Trugbild verschwammen.

Die ersten holten sich noch Stühle, aber dafür war bald kein Platz mehr. Stühle wurden hinausgetragen und Tische hineingetragen. Auf den Tischen häuften sich bald die Datenarmbänder und über ihnen Projektionen, an denen jemand der Gruppe irgendetwas zu veranschaulichen versuchte. Es dauerte nicht lange, bis sich auch so alle wieder im Wege standen; Park Thaeer nahm dann einen dicken Stift von Reinalds Schreibtisch und malte kurzerhand große Rechtecke auf die Wände des Büros, nummerierte sie durch und ließ die meisten der Tische an diese neuen Zonen schieben. Reinald holte sich währenddessen lieber einen Kaffee.

Irgendwann standen alle gedrängt um seinen Schreibtisch und schauten stumm über Thaeers Schulter zu, wie dieser mit einem Finger eine schier endlose Zeichenfolge in ein Interface tippte; wo sie letzten Endes hergekommen war, konnte niemand mehr rekonstruieren — aus den laut diskutierenden Arbeitsgruppen reichte irgendwer tatsächlich einen Zettel mit dem handgeschriebenen Passwort durch –, aber allem Anschein nach sollte dies ihnen endlich den Zugang zum System verschaffen. Hinter diesem Zugang fanden sie allerdings nicht allzu viel: Das Unternehmen hatte die Entwicklung eines autonomen Abwehrsystems so verstanden, dass das System sich ab einem gewissen, wohl bereits lange zurückliegenden Zeitpunkt selbst überlassen werden sollte. Die Satelliten hatten ihre Programme, die sie vielleicht auch ausführen würden, aber zwischen den Programmen und den Menschen in Reinalds Büro fehlte die Schnittstelle.

Dies war der Moment, in dem Seth Reinald zum ersten Mal in ihrem Arbeitsverhältnis Park Thaeer nicht lächeln sah. Der Magister zog kurz die Augenbrauen zusammen und hoch; dann blinzelte er einige Male, als hätte ihn jemand aus dem Mittagsschlaf gerissen. Danach rotierte er den Bürosessel in Richtung der Menge hinter sich und überflog kurz die Gesichter. „Was sehen diese Maschinen?“, fragte er in die Runde. „Wie sehen sie es? Nein, besser gesagt: Was erkennen sie?“

„Es muss einen Abgleich zwischen Sensoren und Datenbanken geben“, sagte jemand. „Sie müssen Schiffe erkennen können. Feindliche, freundliche.“

„Und Dinge, die keine Schiffe sind. Schrott. Wann ist es gefährlich?“, ergänzte jemand anderes.

„Ist es überhaupt an? Erkennt es jetzt schon Dinge?“, fragte eine dritte Person.

„Danke“, sagte Thaeer. „Bitte zu Tisch eins eine Arbeitsgruppe, die sich darum kümmert, wie diese Maschinen die richtigen Dinge erkennen. Tisch zwei eine Arbeitsgruppe, die herausfindet, ob sie schon an sind und wie sie gegebenenfalls mit uns kommunizieren. Fragen sie uns, wann sie was abschießen dürfen? Wann fragen sie uns und wann nicht?“

„Haben wir alle Zugang zu diesem System?“, fragte jemand.

„Ach ja. Dritte Arbeitsgruppe hier an das Terminal, Zugriffsrechte für alle anderen Arbeitsgruppen einrichten. Danke.“

Er lächelt wieder, stellte Reinald beruhigt fest und rückte beiseite, damit Arbeitsgruppe drei seinen Schreibtisch übernehmen konnte. Keine Ahnung, was ich hier noch machen soll, dachte er.

„Die Satelliten müssen die Morgenröte erkennen“, rief Thaeer in den Raum hinein. „Vierte Arbeitsgruppe, bitte alle verfügbaren Modelle, Aufnahmen und so weiter sammeln. Mit der ersten Gruppe absprechen, wie sie es brauchen.“

Es sollte ein halbes Dutzend mehr Arbeitsgruppen benötigen, bis die Satelliten mit den Daten der Morgenröte versehen waren und der Anweisung, sich den Auftrag zum Abschuss von der Garde auf Dunhuang Siebzehn bestätigen zu lassen. Ob und wie die Satelliten dann das Schiff tatsächlich angreifen würden, war zu tief in den Programmen des Systems verankert; für den nächsten Tag war ein Test geplant, in dem ein künstliches Flugobjekt in den Orbit geschickt und die Satelliten mit den entsprechenden Daten gefüttert werden sollten, um es als ‚feindlich‘ zu erkennen. Auch hatte immer noch niemand herausfinden können, ob das System bereits in Betrieb war und möglicherweise unzählige Schiffe und andere Satelliten nur dank eines glücklichen Zufalls nicht aus Versehen abgeschossen worden waren.

Sie haben sich eine unmögliche Aufgabe gestellt, dachte Reinald, als ihm die Komplikationen zunehmend klar wurden. Das Satellitensystem war zu komplex, um menschliche Entscheidungen einbeziehen zu können; jeder Eingriff in die Algorithmen, die die tausendvierundzwanzig Maschinen zu einem Netz um den Planeten verwoben, würde ihr perfektes Zusammenspiel nur schwächen. Aber ebenso war Krieg zu komplex, um ihn von den Entscheidungen eines Satellitensystems abhängig zu machen. Es reichte nicht, wenn die Maschinen sich — wahrscheinlich, die entsprechende Arbeitsgruppe war bislang nicht weit gekommen — mittels einer Gefahrenanalyse selbständig gegen Angriffe verteidigten, und lediglich visuelle Informationen zu potentiell gefährlichen Objekten einzuspeisen grenzte ans Lächerliche. Um wirklich selbständig agieren zu können, hätte dieses System unendlich viel Daten mehr auswerten müssen — politische Zusammenhänge und nicht zuletzt das jeweilige Verhalten von Menschen untereinander: Wie sonst sollten die Satelliten beispielsweise zwischen einem zivilen Frachter und Piraten unterscheiden, die einen baugleichen Frachter verwendeten? Eine totale Abwehrmaschinerie dieser Art passte vielleicht in die Befreiten Sektoren, die sich mit dieser — wie hieß es — Integrierten Zivilen Auswertung einem entsprechenden System unterworfen hatten. Da spielte es keine Rolle, wenn ein ziviler Frachter aus Versehen abgeschossen wurde; er hätte sich eben mehr bemühen sollen, nicht mit einem Piratenschiff verwechselt werden zu können. So etwas gehört nicht in die Res Publica, dachte Reinald. Vielleicht hatte das Unternehmen zurecht die Arbeit an den Satelliten verschleppt. Nein, dachte er dann, es sind Waffen, und wir müssen sie nur zu nutzen wissen.

„Das war doch ganz interessant“, sagte Park Thaeer und wischte viel zu schnell durch die in den letzten Stunden rudimentär eingerichteten Kontrollpaneele des Systems. Reinald wusste nicht, wie er das alles fand, aber der Begriff ‚interessant‘ kam ihm sehr falsch vor. Dennoch beruhigt von ihren Erfolgen schweifte er gerade in Gedanken ab, als eine Nachricht dringendster Priorität sein Armband grell aufleuchten ließ. Auch auf den Tischen blinkten und quäkten zeitgleich viele der Armbänder, und überall im Raum schreckten Menschen auf und versuchten sich zu erinnern, welches der Geräte ihres war und auf welchem der Tische lag. „Na gut“, sagte Thaeer, nachdem die Nachrichten die Runde gemacht hatten, „jetzt wird es wirklich interessant.“

🌠🌠🌠🌠🌠

Duncan war nicht allzu unglücklich darüber, tief in der Nacht aus dem Schlaf gerissen worden zu sein; er hatte noch fragmentarisch Erinnerungen an einen unangenehmen Traum. Viel war nicht geblieben. Er war zur falschen Zeit aus einem Fahrzeug gestiegen oder hatte durch die falsche Tür ein Haus verlassen (oder jeweils beides?) und fand sich an einem nicht enden wollenden Stadtrand wieder; die hohen Gebäude des Zentrums blieben meistens in Sichtweite und ragten bisweilen weit über ihm auf (im Fenster eines der oberen Stockwerke erkannte er eine hier unerwartete Person) — beruhigt sah er der nächsten Biegung entgegen, doch am Ende war er immer nur am Rand angekommen. Hier lief die Stadt in flachen Systembauten und Lagerhallen aus, zwischen denen bestenfalls Drohnen oder automatisierte Transporter irgendwelche leeren Container verschoben. Ein Schild wies in eine unsinnig erscheinende Richtung, aber Duncan folgte dem Weg dennoch (falscher konnte der Weg schließlich nicht sein), bis er sich, doch wieder ungeduldig, umdrehte und einige Meter hinter sich einer Person gewahr wurde. Ihren Bewegungen nach schien sie nicht weniger überrascht als er. Mehr konnte Duncan nicht erkennen, denn die Figur lag mehr wie ein Schatten auf der Landschaft vor ihm (ein roter Schatten), ihren eigenen Schatten vorauswerfend, bis er …

So dumm, dachte Duncan, als er nach dem kurzen Anruf wieder rücklings auf sein Bett sank und sich die letzten Reste des Traums aus seinem Bewusstsein und Gedächtnis verflüchtigten. Aber allzu viel Fantasie hat mir noch niemand nachgesagt, nicht wahr, das wird im Traum nicht besser sein. Auf dem Bett liegend und mit beiden Handflächen gegen die dumpf schmerzende Stirn gedrückt musste Duncan lachen. Das rote Gespenst war dann doch da.

„So sehr zwei undeutliche Aufzeichnungen eben identisch sein können“, hatte die Stimme vom anderen Ende der Leitung gesagt, aber Duncan hörte aus dem Tonfall eine Spur von Panik heraus. „Ja“, hatte er gesagt, „danke.“ Wenige Minuten zuvor hatte eine einsame Sonde am äußersten Rand dieses Sternensystems eine rote Schliere registriert; über ihr kleines Portal hatte sie die Daten an die Station über Dunhuang Siebzehn geschickt, von wo aus sie schnell den Weg in die Kommandozentrale der Galaktischen Patrouille auf Callisto fanden und zu einem Anruf zu einer ansonsten unmöglichen Uhrzeit führten. Wer auch immer am anderen Ende der Leitung war — Duncan hatte den Namen im Halbschlaf nicht aufgeschnappt und nicht nachgefragt, nachdem vor ihm schon der Schatten der Morgenröte in die Dunkelheit seines Zimmers projiziert wurde — hatte entweder entschieden, dass die Nachricht dringend genug war, oder gar nicht erst die Uhrzeiten Dunhuang Siebzehns mit denen auf Callisto abgeglichen.

Die Morgenröte würde mit Lichtgeschwindigkeit einige Stunden brauchen, nur wenige mehr als Duncan, um von hier aus mit einer Fähre in den Orbit des Planeten zu gelangen. Ich werde mich unterwegs rasieren, beschloss er, nachdem er sich im Bad zwei Handvoll kalten Wassers ins Gesicht gespritzt hatte.

Die Nacht war lau wie jede der Nächte, die er auf diesem Planeten erlebt hatte. Duncan hatte den Impuls, den wenigen Menschen auf der Straße die Neuigkeiten zuzurufen, wie Leute in den großen Städten auf der Erde — und vielleicht auch hier — Fremden Neujahrsgrüße oder ähnliches zuriefen; „sie sind da“, wollte er rufen, aber unter den Menschen war diesmal niemand, den der Himmel zu beschäftigen schien. Noch im Treppenhaus hatte Duncan den Generalleutnant der Garde auf Dunhuang Siebzehn angerufen. Der Militärmann war ihm kaum sympathisch gewesen, doch die Resignation, mit der dieser den Anruf entgegen nahm und knapp beantwortete — „ich weiß Bescheid“ — kam Duncan zuerst besonders unpassend vor; nur, nachdem das kleine Hologramm über seinem Handgelenk verschwunden war, brachte ihn das Gespräch kurz in die Wirklichkeit zurück. Auf der Straße hatte er noch absichtlich laut auf Reinald eingeredet, in der Hoffnung, jemanden darauf aufmerksam zu machen, vielleicht selbst darauf angesprochen zu werden. Jetzt, nachdem ihm der Ernst der Lage erreicht hatte, musste er über sich lachen. Zu spät, dachte er. Die Garde mochte noch an ihren Satelliten da oben schrauben, was sie wollte, aber falls es zu einer Schlacht kommen sollte, war ihr Ausgang wohl bereits lange entschieden: in dem Augenblick, in dem die Morgenröte Kurs auf Dunhuang Siebzehn gesetzt hatte.

Unsinn, Unsinn, Unsinn, dachte er dann, ich bin doch nicht hier, um nur bei irgendwas zuzuschauen. Er rief den Standort des nächsten freien Gleiters auf, mit dem er zur Fähre am Stadtrand fliegen konnte. Es waren keine hundert Meter. Unterwegs blieb sein Blick an einem Schild über dem Menü einer Getränkekarte hängen, die draußen vor einer Bar angebracht war und die er zuvor übersehen haben musste, wenn sich abends die Menschen mit oder ohne Drinks vor der Tür scharten und ohnehin alle wussten, was es drinnen am Tresen zu holen gab. „Auf ein Leben in den langweiligsten Zeiten“, stand dort in freundlichen goldenen Schriftzeichen.

Duncan wurde etwas übel. Ich gehe wieder ins Bett, entschied er; nein, erst mal einen Drink. In der Bar saßen sogar noch ein paar Leute. Er ging dennoch an der offenen Tür vorbei und hielt erst einige Schritte weiter kurz inne. Muss ich die Menschen informieren?, dachte er. Reinald wollte in einigen Stunden, vor Morgengrauen eine öffentliche Durchsage machen; es gab ohnehin keine praktischen Maßnahmen, mit denen sich die Zivilbevölkerung vorbereiten konnte. Eh zu spät, dachte Duncan und ging dennoch jetzt schnelleren Schrittes weiter, die letzten Meter zum Gleiter beinahe rennend. Das flaue Gefühl im Magen war ihm geblieben, und Duncan wurde klar, dass er zeitlebens immer nur aufgeregt und nie nervös gewesen war — bei den Aufnahmeprüfungen für die Patrouille nicht, ebenso wenig, als er mit Lucia Lem durch das geschlossene Portal hinter einer Garage auf Selene starrte, und selbst nicht angesichts der Morgenröte, als er sie zum ersten Mal gesehen hatte. Auch was Neues, dachte er und betrachtete im fahlen Cockpit-Licht eine Weile seine leicht zitternden Hände, nachdem er den Kurs zur Fähre einprogrammiert hatte.

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Die ersten eigenen Bilder, die die Morgenröte von dem Planeten aufzeichnen konnte, waren eher von symbolischer Bedeutung. Aus der Lichtgeschwindigkeit heraus blieb nichts scharf, und mit seinen verwaschenen Rändern wirkte er wie ein kleines blau-grünes Loch im Weltall und kaum wie ein Trilliarden von Tonnen schwerer Himmelskörper. Dennoch war der Planet jetzt wirklicher geworden — nicht länger nur ein Punkt auf der Sternkarte, ein Name und ein paar Datensätze, aus denen sich vielleicht ein Abbild zusammensetzen ließe. Abelia rückte instinktiv ihre Uniform zurecht, als würde der Planet von der anderen Seite des Bildschirms gerade auch sie begutachten. Natürlich hatte die Uniform vorher perfekt gesessen, aber für Abelia war dies in letzter Zeit zu einer Angewohnheit geworden, ihre jeweils erste Reaktion auf beinahe alles, was geschah.

„Willst du dir nicht eine neue Uniform machen lassen?“, hatte Carina letztens gesagt.

„Ist etwas gerissen?“, hatte Abelia gesagt und schnell nach Schäden gesucht, die ihr vorhin vor dem Spiegel nicht aufgefallen sein mussten.

„Nein“, hatte Carina etwas ungeduldig gesagt, „die Rote, für Phase Zwei.“

Das wäre nicht falsch gewesen, denn immerhin hatte Abelia mittlerweile wieder offizielle Funktionen an Bord der Morgenröte: Sobald die planetare Invasion in vollem Gange war und die Truppen am Boden ihre eigenen Infrastrukturen einrichteten, gäbe es im Orbit genug Aufgaben für eine Quartiermeisterin.

„Ja“, hatte Abelia gesagt und war bei der dunkelblauen Uniform geblieben. Vielleicht war das eine Entscheidung, die ihr besser die bevorstehende Schlacht abnehmen sollte; falls der Angriff — und das war nicht einmal unwahrscheinlich — fehlschlagen und das Satellitennetz die Morgenröte in einen Schrottring im Orbit verwandeln würde, wäre die neue Uniform eine recht hohle Geste gewesen.

Die Strategie der Morgenröte für diesen Angriff war ein Wagnis und etwas, dass in dieser Galaxis so wohl noch niemals ausgeführt oder überhaupt geplant worden war. Dafür sind wir hier, dachte Abelia. Sie hatte verstanden, dass viele auf diesem Schiff von der Sehnsucht getrieben waren, einen lebenswerten Planeten für sich zu finden. Das war ein zweifellos gut begründetes Gefühl, aber auf einer höheren Ebene ein Missverständnis. Was war schon ein Planet, dachte Abelia. Viel bedeutender war doch dieser Wille, dafür in einem unerhörten Manöver alles aufs Spiel zu setzen.

Sie drehte sich zur Plattform des Kapitäns um. Carina Debro stand am Geländer, bereits im Kampfanzug für den Einsatz auf dem Planeten. Das Manöver war ihre Idee gewesen, aber für die Ausführung waren die anderen auf der Brücke besser berufen; bald würde sich Carina auf den Weg zu den Landungsschiffen machen, eine unter einigen Tausend, die in wenigen Stunden die Städte und Anlagen des Planeten besetzen sollten. Carina lächelte herunter, zuversichtlich und freundlich, als würde es demnächst nicht um Leben und Tod gehen. Widersprüche wallten in Abelia auf, und nur mit einiger Konzentration konnte sie die gewohnte Ausdruckslosigkeit aufrechterhalten.

Zum einen überkam sie etwas, das Abelia am ehesten als Rührung bezeichnen mochte: dass die kleine Frau in der schweren Rüstung dort oben nicht nur dieses irre Manöver erdacht hatte, das sie bald alle in Lebensgefahr bringen würde, sondern dass sie auch Abelia selbst in ihr Projekt für die Morgenröte einbezog, obwohl das innerhalb der Kommandostruktur nicht weiter vorgesehen war — und wie sie schließlich gerade über beides hinweglächelte.

Dann war da, zum anderen, der Zweifel. Das Projekt war spektakulär, die Gründe dafür weniger (vielleicht war das Problem bereits, dass das Projekt Gründe über sich hinaus haben musste). Bei allem Respekt für die Debros fragte sich Abelia bisweilen, ob es hier nicht eine weitere Generation brauchen würde, eine Generation, die keinen Gedanken mehr an einen Planeten verschwenden würde, der viele Lichtjahre hinter ihnen lag. Diese Entwicklung war so unausweichlich, dass es Abelia vorkam, als würden die Menschen auf der Morgenröte in verschiedenen Epochen gleichzeitig leben, mit verschiedenen Vorstellungen von Geschichte und verschiedenen Ansprüchen an die Zukunft. Aber das war nichts, was sie oder irgendwer anderes lösen konnte. Oben zog Carina Debro schließlich ihren Helm auf und verließ die Brücke.

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Die Satelliten waren sogar größer, als Duncan sie sich vorgestellt hatte: massive Sphären von den Ausmaßen eines Mehrfamilienhauses, bedeckt mit Beulen und Antennenbüscheln und in einem tiefen Schwarz beschichtet, das noch das letzte Licht schluckte und sie mit bloßem Auge wie zweidimensionale Kleckse wirken ließ, die über den Planeten krochen oder im All vorübergehend die Sterne verlöschen ließen. Hoffentlich macht ihr euren Job, dachte Duncan, während mehrere der Maschinen langsam vorbeizogen. Er hatte die Khanda in Sichtweite der Portalstation über Dunhuang Siebzehn manövriert, aber die kleine Korvette würde gegen die Morgenröte nichts ausrichten können; tatsächlich würde keines der Schiffe der Patrouille irgendetwas gegen sie ausrichten können. Wenn es überhaupt etwas gibt, das gegen sie ankommt, dachte Duncan, dann passt es durch kein Portal. Aber weder er noch die Khanda waren hier, um die Morgenröte zu versenken. Galaktische Patrouille, dachte er, nicht Galaktische Kriegsflotte. Duncan war zuversichtlich, dass irgendwo anders — auf Callisto, auf der Erde — Leute an Strategien arbeiteten, um Dunhuang Siebzehn vor dem zu retten, was auch immer mit der Morgenröte kam, und er konnte zumindest dafür sorgen, dass sie die dafür relevanten Informationen erhielten.

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Alles ist so neu, dachte Carina. Sie versuchte, die Ornamente und Inschriften auf den Kampfanzügen mit den Leuten darin in Verbindung zu bringen, aber es blieb alles noch belanglos. Natürlich kannte sie alle in ihrem Platoon; auch war sie beileibe nicht die einzige, die irgendwo ein „Plus Ultra“ auf ihrem Anzug untergebracht hatte — eine besondere Verbindung stellte sich dadurch nicht ein. Uns fehlen die gemeinsamen Erfahrungen, stellte sie fest. An den glänzenden Kampfanzügen war kaum eine Schramme, geschweige denn Schäden, die Reparaturen notwendig gemacht hätten. Der Überfall auf die kleine Mondkolonie vor Jahren und die wenigen Male, in denen die Morgenröte in den Tiefen des Weltalls ein anderes Schiff gekapert hatte, waren eher Handgemenge als größere Schlachten gewesen, nichts, das wesentliche Spuren an der Ausrüstung oder den gemeinsamen Lebensläufen hinterlassen hatte: Keine Rettung aus aussichtsloser Lage, kein unerwarteter, aber verdienter Sieg. Keine Opfer. Haben wir uns das alles ausgedacht, ist das ein Missverständnis, dachte Carina. Haben wir übersehen, dass das Spiel nach ganz anderen Regeln gespielt wird? Aber hier waren sie jetzt, dutzende Kompanien, auf Landungsschiffe wie dieses verteilt und bereit, in Kürze die zentralen Städte dieses Planeten einzunehmen. Das allein sprach dafür, dass das ihr Spiel war.

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„Da ist etwas“, sagte die Kommunikationsoffizierin der Khanda und zog auf der Sternenkarte einen rötlichen Fleck groß. Er wuchs schnell, ohne deutlicher zu werden. Duncan korrigierte aus Gewohnheit den Kurs, auch wenn es für ernsthafte Manöver nicht die Zeit war: Die Morgenröte war noch viel zu weit entfernt und zugleich bereits viel näher, als die Kameras der Khanda sie aufzeichnen konnten; bei Lichtgeschwindigkeit war sie ihrem Bild immer voraus. Gleich, dachte er, gleich bremsen sie ab. „Vorausberechnete Route ist hier“, sagte die Offizierin. Duncan folgte dem Pfeil, den der Bordcomputer auf die Karte zeichnete. Am Planeten vorbei, dachte er, warum? Warum sind sie immer noch auf Lichtgeschwindigkeit? Für einen Augenblick lähmten ihn widersprüchliche Gefühle von Enttäuschung und Erleichterung. Noch ein paar Sekunden, dachte er, und sie sind wieder weiter, und wir werden sie nicht einmal gesehen haben. War es das, jetzt? Duncan merkte, wie die Anspannung von den Menschen auf der Brücke abfiel. Dann merkte er, wie sich in der Ferne hinter den Planeten und die kleinen schwarzen Formen der Abwehrsatelliten ein Glanz über das Weltall legte. Auch jemand anderes deutete gerade in die Richtung, aber im nächsten Augenblick passierte alles gleichzeitig. Sonderbare Wellen aus vielfarbigem Licht krochen durch das Vakuum; anderswo glühten Plasma-Projektile und Energiefelder auf. Das ist ein Schlachtfeld, dachte Duncan. Überall.

„Alle auf Gefechtsstation“, rief er in sein Mikro, obwohl auf dem kleinen Schiff ohnehin alle meistens am Platz waren. Duncan griff nach seinem Helm und ließ ihn in den Raumanzug einrasten, während der Computer das Licht auf der Brücke dimmte.

„Da sind sie“, sagte die Kommunikationsoffizierin leise.

„Wo?“, fragte Duncan, aber die Offizierin zuckte nur mit den Achseln. Auf der Sternkarte war im Augenblick nicht viel zu sehen außer hunderten flimmernder Punkte, während der Computer sich durch die Daten filterte. Die Morgenröte war wohl jeweils da, wo das größte Chaos herrschte, oder zumindest war sie jeweils gerade dort gewesen. Was machen sie da, dachte Duncan. Für einen Angriff wirkte es zu ziellos, und ein Rückzug ist es offensichtlich nicht, dann wären sie bereits wieder weg.

„Bringt uns irgendwie zumindest in ihre Nähe“, sagte er.

„Bin dran“, sagte der Navigator.

Die Khanda hatte Mühe, den Salven der Satelliten auszuweichen, auch wenn sie gar nicht für sie bestimmt waren und ohnehin zumeist irgendwo tief im All verglühten. Der Kurs der Morgenröte blieb erratisch; nur im Vorbeiflug schien sie sich mit den Satelliten Feuergefechte zu liefern, aber alles ging zu schnell um es wirklich mitzuverfolgen. „Warum machen sie das? Da sind mehr als Tausend von den Dingern“, sagte Duncan. „Wie viele haben sie abgeschossen? Drei?“

„Drei, vier“, sagte die Kommunikationsoffizierin. „Nein, das stimmt nicht.“

„Was?“

„Die Satelliten. Sie fallen aus, immer mehr.“

Es hat angefangen, dachte Duncan. Das Gesicht der Offizierin wurde am Rande seines Visiers eingeblendet, und selbst auf der winzigen Aufnahme aus ihrer Helmkamera war ihre Angst gut zu sehen. Sie war zu jung, um damals auf der Gandiva gewesen zu sein, aber natürlich kannten alle in der Patrouille die Aufzeichnungen aus der verlassenen Kolonie der Selenen und ihrer gespenstischen Portalstation.

Das Gesicht des Navigators erschien automatisch neben dem der Offizierin, als der Mann irgendwas in das Mikrophon in seinem Helm murmelte; es war unverständlich, aber Duncan war klar, worauf der Navigator hinauswollte. Die Morgenröte schien es darauf anzulegen, unfassbar zu bleiben.

„Dieses Glänzen, dieser Nebel“, sagte Duncan, „wir dürfen ihm nicht zu nahe kommen. Können wir das irgendwie einprogrammieren, dass wir notfalls automatisch ausweichen?“

„Wenn wir wüssten, was es ist“, sagte die Offizierin. „Wir haben nur visuelle Daten, und auch die …“ Sie zog einen Ausschnitt des Chaos um den Planeten groß, wo gerade eine der leuchtenden Wellen einen der Satelliten umspülte und dann im All versiegte wie die Gischt einer Meeresbrandung, nur in irren Regenbogenfarben.

„Ja“, sagte Duncan. Weder die Galaktische Patrouille noch die Labors der Res Publica hatten nachvollziehen können, mit welcher Technologie die Morgenröte vor mehreren Jahren die Kolonie Selenes und — zumindest indirekt — die Gandiva lahmgelegt hatte; auf Gliese Pacifica gefundene Informationen deuteten darauf hin, dass eine Flotte der Befreiten Sektoren auf dem Weg zu Selene in etwa zur gleichen Zeit ein ähnliches Schicksal ereilt hatte. Jeder Versuch, die von der Gandiva geborgenen Geräte zu analysieren, endete nur damit, das auch die dazu verwendeten Instrumente ausfielen. Schließlich hatte sich die Patrouille damit begnügt, ihre Ausrüstung und Schiffe mit der bestmöglichen bekannten Abschirmung auszustatten und, wo es ging, Funktionalität auch unabhängig von Elektrotechnik aufrechtzuerhalten. Es ging zumeist nirgendwo. Der Moment, in dem die Khanda konkretere Daten über die leuchtenden Wellen aufzeichnete und in ihre Systeme einspeisen würde, wäre möglicherweise auch ihr letzter Moment.

Duncan stieß sich aus seinem Sessel ab und schwebte zu einem der großen Kästen, die er in den letzten Tagen auf Dunhuang Siebzehn anfertigen und dann innen an den Fenstern der Khanda hatte installieren lassen. Am Kasten legte er einen massiven Schalter um und machte sich dann auf den Weg zum nächsten. Gerade, als er den dritten der Kästen aktiviert hatte, verschwand hinter dem Fenster das Weltall. Wo gerade noch Dunkelheit und ferne Sternbilder waren, starrte Duncan jetzt in einen gewaltigen rötlichen Canyon, zerklüftete Stahllandschaften, zersetzt von leuchtenden Fensterreihen und tiefen Schluchten, in denen sich Röhren und Kabelstränge spannten wie die freigelegten Adern irgendeiner Gottheit von hinter den Sternen. „Ist das …“, sagte jemand.

Duncan presste die Hände an die Scheiben. „Sie existiert“, rief er zur eigenen Verwunderung in seinen Helm hinein, dass das Visier unten beschlug, „sie existiert wirklich!“ Im nächsten Augenblick war die Morgenröte wieder verschwunden, abgedreht, vielleicht ohne die Khanda überhaupt registriert zu haben, und jetzt bereits hunderte Kilometer entfernt irgendwo anders über Dunhuang Siebzehn. Einen Moment nur blieb ein sonderbar feierliches Licht; ein irisierender Schleier aus flüchtigen glitzernden Partikeln, aber dennoch von einer gewissen Schwere, der draußen vor den Fenstern der Khanda wehte. Draußen? Duncan war sich nicht sicher; vielleicht war es nicht draußen, vielleicht war es in seinem Schiff oder in seinem Anzug, doch dann war das Licht schon erloschen. Die Kommunikationsoffizierin zog abrupt die Hände von ihrem Pult zurück, während einzelne glitzernde Partikel aus dessen Fugen schwebten. Die ersten Kontrollpaneele fielen aus. Ist es das, dachte Duncan. Er rief schnell die kleinen Gesichter seiner Crew im Display seines Helms auf, aber eines nach dem anderen verschwand wieder und mit ihnen auch die übrigen Anzeigen vor seinem Visier.

Eine der Technologien, die die Patrouille angesichts dieser unerklärlichen Bedrohung entwickelt hatte, steckte in ihren Anzügen. Mit einem kleinen Schraubventil ließ sich manuell ein Betäubungsmittel in den eigenen Helm leiten: Dies ersparte einem dann, bei Bewusstsein zu ersticken oder zu erfrieren, wenn die lebenserhaltenden Funktionen des Anzugs ausfielen. Noch nicht, dachte Duncan. Zufrieden spürte er selbst durch seine Handschuhe hindurch, wie der Kasten am Fenster vor ihm sanft vibrierte. Auch die Technologie, die er in diesem Kasten verbaut hatte, würde ihn hier nicht retten. In der Zeit auf Dunhuang Siebzehn hatte er nach Mitteln gesucht, um der rätselhaften Waffe der Morgenröte etwas entgegenzusetzen, oder sie zumindest an irgendeiner Stelle auszutricksen. Wenn wir es zumindest dokumentieren könnten, hatte Duncan gedacht und bald darauf in der technischen Abteilung des lokalen Archivs gestanden. „Gibt es so etwas“, hatte er gefragt, „ein Bild, besser einen Film aufzeichnen, aber nicht elektronisch?“

„Mal das doch“, hatte der Referendar von zwischen seinen Kisten voller Datenträger und irgendwelcher Module gesagt.

„Zu langsam“, hatte Duncan gesagt. „Ich brauche eine Maschine. Aber nicht elektronisch.“

„Wie soll das denn gehen?“

„Weiß ich nicht. Aber es gab ja nicht immer Computer.“

Der Referendar hatte gelangweilt mit den Achseln gezuckt und ein paar historische Unterlagen aufgerufen. „Verrückt“, hatte er nach ein paar Minuten schließlich gesagt.

„Was?“

„Chemikalien. Ganz am Anfang, da haben sie Bilder mit Chemikalien aufgezeichnet.“

„Wie soll das denn gehen“, hatte Duncan gesagt, aber kurz darauf stand er in der Werkstatt der nahegelegenen Uni.

„Wie bescheuert“, hatte die Studentin gesagt, die man ihm zugeteilt hatte. „Aber das kriegen wir hin. Nein, das kriegen wir besser hin, viel besser als diese Affen damals.“

Jetzt surrten ihre Maschinen in den Kästen auf der Brücke der Khanda, angetrieben von einem Federwerk und ausgestattet mit den unterschiedlichsten Linsensystemen; was auch immer für Strahlen durch die Linsen fielen, sie trafen auf eine ebenso große Auswahl an beschichteten Folien und Plättchen. „Warum nicht“, hatte Duncan zu jedem weiteren Ergänzungsvorschlag gesagt: Schließlich wussten sie nicht einmal, was es hier aufzuzeichnen gab.

Das werden wir ja sehen, was es zu sehen gibt, dachte er. Also nicht wir, wie wir gerade hier sind. Schade. Falls nicht die ganze Galaxis flöten gehen sollte, würde auf Callisto früher oder später der Duncan von heute Morgen aus seiner hinterlegten Aufzeichnung wieder rekonstruiert werden; das war dann freilich der Duncan, der noch auf die Morgenröte wartete und sie zumindest in dieser Situation verpasst haben würde. Duncan musste ein Lächeln unterdrücken, als er sich seine eigene, zukünftige Enttäuschung darüber vorstellte. Doch dieser Duncan der Zukunft war niemand, dem er jetzt helfen konnte.

Die Menschen auf der Brücke hatten bereits begonnen, hektisch nach den Ventilen an ihren Anzügen zu suchen, gegen ihre nutzlosen Helme oder die stummen Pulte vor sich zu schlagen. Duncan winkte und klopfte auf Schultern, bis er endlich die Aufmerksamkeit seiner ganzen Crew hatte. Wir können hier nichts mehr tun, sagte er in Zeichensprache, lasst uns einfach ein wenig zuschauen, bevor wir gehen.

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Das Kreischen hatte endlich aufgehört. Ich muss mich übergeben, dachte Abelia. Nein, doch nicht. Die Morgenröte war nicht für diese Art von Manövern gedacht, und es war sicher einiges an Glück dabei gewesen, dass das Schiff bei seinen Runden um den Planeten nicht auseinander gebrochen war. Für das Manöver hatte der Bordcomputer das höchste Tempo berechnet, mit dem die Morgenröte Lichtgeschwindigkeit verlassen und in einem hohen Orbit um den Planeten fliegen konnte; was das ganze mit dem Material des Schiffs anrichten würde, war nicht in diesen Rechnungen inbegriffen. „Sie wurde ja damals als Kolonieschiff gebaut“, hatte Carina bei der Planung gesagt, aber es klang weniger wie ein möglicher Einwand als wie eine interessante Anekdote. Abelia war gewohnt, das Holz auf den Böden und an den Wänden des Schiffs arbeiten zu hören, und selbst ein plötzliches Knarren des metallenen Skeletts der Morgenröte brachte niemanden aus der Ruhe. Während des Manövers schien hingegen jeder Teil des Schiffs ein gequältes Geräusch von sich zu geben, sodass Abelia beinahe erwartet hatte, dass unter ihr gleich die Dielen aus den Fugen springen. Es wäre ein Wunder, wenn nicht irgendwo tatsächliche Schäden entstanden waren.

Alle auf der Brücke wirkten benommen. Der technische Offizier, der nicht weit von Abelia hinter seinem Pult arbeitete, griff sich mit beiden Händen an den Schädel. „Ich bin nur gefühlt zehn Jahre gealtert?“, fragte er. Abelia fand den Spruch unpassend, aber er betrachtete ihr eigenes Gesicht so aufmerksam, dass sie schnell verstand, dass es nicht als Scherz gemeint war. Der Bergenholm-Antrieb der Morgenröte wirkte den verstörendsten Auswirkungen von Zeit, Masse und Geschwindigkeit entgegen, aber vielleicht war in den letzten Sekunden gerade hier etwas ausgefallen; vielleicht kreisten sie über einem Planeten, der seit Jahrhunderten verlassen war oder mittlerweile von einer Menschheit bewohnt, die ihnen in der Entwicklung uneinholbar voraus war. Und das war das kleinste der Risiken gewesen, denen sie sich ausgesetzt hatten.

„Wahrscheinlich“, sagte Abelia und lächelte höflich. Der Offizier nickte und wischte sich mit dem Ärmel die Schweißperlen weg, die auf seiner Stirn und im akkurat getrimmten Bart glänzten.

„Runter, runter“, rief Basil Matei von seiner Plattform. Abelia spürte, wie die Triebwerke der Morgenröte starteten, keine Minute, nachdem der Bordcomputer in die plötzliche Stille das Ende des Manövers durchgesagt und das Kommando des Schiffs wieder an die Menschen übergeben hatte.

Matei hatte etwas grimmig gelacht, als ihnen allen die Konsequenzen von Carinas Plan klar geworden waren: Um das Manöver umsetzen zu können, musste zuallererst der Kapitän sein Kommando aufgeben. Das Schiff an eine geeignete Stelle zu manövrieren und dann die Pulswaffe zu zünden, war eine Frage der Taktik; den Puls innerhalb kürzester Zeit an unterschiedlichen Stellen im Orbit eines Planeten zu verteilen war hingegen etwas, das nur Algorithmen überlassen werden konnte. So hatte die berechnete Route aus irrwitzigen Schleifen und Rollen weniger wie ein Schlachtplan gewirkt und eher, als würde der Bordcomputer ein ornamentales Band um den Planeten legen wollen.

Natürlich ging es hier nicht um Ästhetik, sondern um sehr pragmatische Angelegenheiten. Die Pulsgeneratoren an den Flanken der Morgenröte strahlten nach vorne und nach allen Seiten; wenn der Puls gezündet wurde, breitete sich die Welle gut hundert Kilometer ins All aus, bevor sie ihre Wirkung verlor. Danach mussten die Generatoren erneut geladen werden. An der richtigen Position konnte die Morgenröte einige benachbarte Satelliten des Verteidigungsnetzes außer Gefecht setzen, aber bis sie den nächsten Puls geladen hatte, hätten sie die entfernteren Satelliten längst ins Visier genommen. In Bewegung bleiben war hingegen nicht so einfach: Dass der Puls aus ihren eigenen Generatoren stammte, machte die Morgenröte ihm gegenüber genauso wenig immun, wie das Halten eines Messers einen Menschen vor Schnittwunden schützte. Im schlimmsten Fall würde das Schiff zum vorausgeschickten Puls aufholen und ihm selbst zum Opfer fallen. Das wäre das Ende. „Wir müssen immer den Satelliten und uns einen Schritt voraus sein“, hatte Matei gesagt, nachdem Carina ihren Plan erklärt hatte. „Das ist gut.“

Leider waren weder Carina noch er zu solcher Voraussicht in der Lage, und so überantworteten sie sich und die Morgenröte der Rechenleistung des Bordcomputers. In der Kantine hatte Abelia Diskussionen darüber gehört, inwiefern damit das Ethos des ganzen Projekts verraten worden war, aber sie selbst hatte bereits der Anblick der Schnörkel und Knoten überzeugt, die der Computer über das Hologramm des Planeten gelegt hatte. „Das müssen wir ausprobieren“, hatte Matei mit einem Grinsen gesagt, das alle in die Flucht gejagt hätte, die das Ganze kritischer sahen. Es war eine starke Entscheidung, das gesamte Schiff dem für Menschen unbegreiflichen Plan der Maschine auszuliefern, befand Abelia; vielleicht nicht ein zweites Mal machen, das wäre dann schwach. Aber so weit sind wir natürlich nicht.

Und die Maschine hatte ihre Arbeit getan. Für einige Sekunden hatte Abelia den Planeten betrachten können, nachdem sie über ihm Lichtgeschwindigkeit verlassen hatten; diese Sekunden brauchte der Computer, um die Positionen und Bewegungen der Satelliten aufzuzeichnen und die vorausberechnete Route daran anzupassen. Dann begann das Programm, und der einzige menschliche Eingriff kam von dem technischen Offizier, der zwischendurch den Kollisionsalarm ausschaltete und aus der fürchterlichen Geräuschkulisse des leidenden Schiffs zumindest das enervierende Hupen entfernte, wenn die Morgenröte wieder ganz wie geplant einem der Satelliten zu nahe gekommen war.

Jetzt sind wir dran, dachte Abelia, während Matei oben Kommandos durchgab und der Offizier neben ihr die Alarmfunktion wieder einschaltete. Irgendwo unter ihnen musste der Planet sein. Durch die Fenster der Brücke sah sie die Sternbilder dieses Systems und davor die dunklen Formen der ominösen Satelliten, und zwischen alledem funkelten die Reste der Pulswellen wie die Spinnweben hoch in den Sauerstoffwäldern der Morgenröte. Einige der Satelliten waren nur noch Wracks, glühende metallene Brocken, die der Computer der Morgenröte zerschossen hatte, bevor sie sich wehren konnten; andere musste der Puls lahmgelegt haben. Abelia versuchte, zwischen ihnen die Route ihres Schiffs zu rekonstruieren, doch ohne das Hologramm wirkte die Verwüstung im Orbit nur willkürlich.

„Schilde halten“, rief ein Offizier, während die verbliebenen Satelliten weiter auf die Morgenröte feuerten. Hunderte von ihnen hatten den Angriff überstanden, aber nicht mehr genug, um ein lückenloses Netz um den Planeten spannen zu können. Das war nun eine neue Situation, in der es um Taktik ging, um Finten und Breschen und offene Flanken. Abelia sah eine Weile zu, wie Matei und Eran Debro die Schlacht koordinierten, und machte sich dann auf den Weg zum Hangar; sie war ganz zuversichtlich, dort zur Vorbereitung der Landung mehr beitragen zu können als hier auf der Brücke.

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Schnittlauch, dachte Elvis. Das hätte es jetzt gebraucht, Schnittlauch. Irgendwann nach seiner Ankunft auf Dunhuang Siebzehn war ihm wieder in den Sinn gekommen, sich selbst Brot zu backen, und das aktuelle war ganz gut geworden. Vor ein paar Stunden — es war noch dunkel — hatte ihn eine öffentliche Durchsage auf allen Kanälen geweckt, in der eine erhöhte Alarmbereitschaft wegen einer möglichen planetaren Invasion ausgerufen wurde; genaueres, ob überhaupt eine konkrete Gefahr bestand und wie man sich gegen diese schützen sollte, konnte nicht gesagt werden. Wirklich, hatte er gedacht, als hätte ihn unerwartet eine lästige Pflicht eingeholt. In den Wohnblöcken waren nach und nach die Lichter angegangen, in so gut wie jedem Fenster die Silhouetten von Menschen. Wir wissen nicht einmal, worauf wir warten, hatte Elvis gedacht und beschlossen, dann zumindest auf etwas Konkretes zu warten, und zwar darauf, dass der Brotteig aufging. Etwas später waren die ersten Aufnahmen aus dem Weltall gekommen, wacklige, aus der Ferne geschossene Bilder von Bögen aus glitzernden Partikeln und Schwaden, die in allen Farben strahlten wie ein Sternennebel, nur viel zu nahe; als Elvis aufschaute, schien sich irgendwo hinter den Wolken am Morgenhimmel ein feiner Dunst auszubreiten, aber vielleicht war das nur Einbildung. Zu dieser Zeit waren bereits zwischen den Gebäuden der Stadt Dutzende Drohnen aufgestiegen — klobige Maschinen in verschiedenen Größen, unregelmäßig in gedeckten Tönen gestrichen, als wäre beim Tarnmuster der größtmögliche Kompromiss zwischen den unterschiedlichen Landschaften geschlossen worden, in denen sie sich verbergen sollten.

Elvis schnitt sich eine zweite dicke Scheibe Brot ab und beschmierte sie mit Margarine. In den Nachrichten war es mittlerweile zu sehen: Das uralte Kolonieschiff, mit seinem sonderbaren orangenen Anstrich und zahllosen ins All speienden Waffenplattformen, offenbar gewappnet, um auch diesen Teil der Galaxis rückwirkend zu kolonisieren. Nichts konnte weniger mit Dunhuang Siebzehn zu tun haben als dieses Schiff, fand Elvis und biss in sein Brot, aber da war es nun, das Schiff. Es war ein Fehler gewesen, hierherzukommen, dachte er. Nein, falsch ist, dass dieses Schiff hierherkommt. Ist das beides der gleiche Fehler? Ich kann nicht mehr klar denken.

Weit über der Stadt quoll mit einem feierlichen Glockenton eine in Regenbogenfarben flirrende Wolke auf. Das war keine herkömmliche Explosion; da war kein Knall und kein Feuer und kein wirklicher Rauch, sondern nur sanft glitzernde Umrisse, als hätte die Luft selbst plötzlich Masse und Formen angenommen. Elvis sah zu, wie die letzten flimmernden Teilchen gegen den Morgenhimmel erloschen. In der Ferne heulten Sirenen auf und verstummten bald wieder. Es ist stiller als davor, dachte Elvis, oder bildet man sich das dann ein, nach einem Alarm? Am Himmel war noch etwas — winzige, zur Erde torkelnde schwarze Punkte. Elvis zoomte hinein, soweit es sein Implantat her gab und er dem Ding in seinem Fall folgen konnte. Eine Drohne, dachte er, dutzende Drohnen. Alle Drohnen. Die stürzenden Maschinen verschwanden irgendwo einige Blöcke weiter hinter den Häusern, doch Elvis meinte, ihren Einschlag zu hören; bald stieg hier und da Rauch auf. Dann kamen die nächsten Dinge von oben.

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Der Himmel ist blau, stellte Carina beunruhigt fest und stolperte fast auf der Rampe aus dem Landungsschiff. Natürlich kannte sie den blauen Himmel von Bildern von der Erde. Wohl aus Trotz hatte sie jedoch immer den Verdacht gehabt, dass es sich hier um ein übliches technisches Artefakt bei der Aufzeichnung handelte oder vielleicht um eine bewusste künstlerische Konvention, wie beispielsweise die Menschen auf frühen Bildwerken im Profil abgebildet wurden und dennoch ihre Augen wie von vorne zu sehen waren. Aber der Himmel war blau. Später, dachte Carina und sah, wie auch andere aus ihrem Platoon verunsichert nach oben blickten und sich zunehmend im Weg standen.

„Palmer, diesen Schuppen sichern“, rief sie dem Sergeanten zu, der am nächsten zu ihr beim Landungsschiff trödelte. Der Schuppen wirkte taktisch nicht weiter wichtig, aber sie mussten in Bewegung bleiben. Carina winkte die nächste Gruppe aus dem Landungsschiff, während Palmer und sein Team geduckt zu dem kleinen Gebäude rannten.

Vielleicht noch irritierender als der blaue Himmel war, dass hier unten kein Krieg herrschte. Sie hatten für die Landung einen größeren freien Platz inmitten der im Raster angeordneten Gebäude dieser Stadt ausgewählt; beim Anflug hatten sie durch die kleinen Fenster des Landungsschiffs Fragmente des Luftkampfs mitverfolgen können, den sich die Jagdflieger der Morgenröte mit gegnerischen Drohnen lieferten. Mindestens eines der anderen Landungsschiffe verglühte unter Beschuss, bevor ein Jagdflieger — bereits tief in der Atmosphäre des Planeten — eine Pulsbombe zündete und der Sache ein Ende setzte. Hier und da waren auf dem Platz reglose Drohnen verteilt, ihre Sensoren und Waffen irgendwo ins Nichts gerichtet. Eine musste aus großer Höhe gestürzt sein; sie war zur Hälfte im Boden vergraben, inmitten eines Kraters aus Rasenstücken und den Resten einer Parkbank. Ein größeres Fahrzeug, ein Transporter vielleicht, war durch den Puls außer Kontrolle geraten und hing schräg in der Fassade des nächsten Gebäudes. An den Fenstern standen Menschen und starrten zu ihnen hinab. Nicht nur an den Fenstern; einige standen vor den Häusern, und eine Gruppe war wohl gerade dabei gewesen, eine der Drohnen von einem Weg zu entfernen, bevor das Landungsschiff hier aufgesetzt hatte.

Ist das eine Falle, dachte Carina. Die Menschen schauten zu, als würden ihr Platoon hier gerade ein Übungsmanöver abhalten. Später, dachte sie wieder. Ihre Leute wussten genau, was sie nach der Landung zu tun hatten, und weitere Interaktion mit dem Umfeld war nur dann notwendig, wenn jemand oder etwas das zu verhindern versuchte. Vor dem Landungsschiff baute eines der Teams gerade einen Mörser auf, der eine Kette von Pulsgranaten in Richtung der nächsten Siedlung schicken würde. Carina betrachtete zufrieden, wie ihre Leute routiniert Handgriff um Handgriff die Waffe montierten, luden und mit ihren Instrumenten ausrichteten. Sie nickte nur knapp, bevor sie sie abschossen. Wenn ich noch Kommandos geben muss, dachte Carina, ist bereits etwas falsch gelaufen. Ob die Pulsgranaten nun viele Kilometer entfernt ihren Zweck taten, konnten sie jetzt noch nicht wissen. Das wäre der nächste Schritt: Strategische Positionen sichern, von denen aus sich erst ein Überblick verschaffen ließ. Die Dächer dieser Gebäude, dachte sie, wir müssen eins räumen. Aus der Flanke des Landungsschiffs faltete sich eines der zweibeinigen Erkundungsfahrzeuge wie eine eiserne Pflanze im Zeitraffer; die schweren Hufe sanken tief in den Rasen hinein, während eine Pilotin sich bereits ins Cockpit hinauf hangelte. Carina ertappte sich dabei, wie sie in das satte grüne Gras um die Hufe der Maschine starrte. So viel haben sie hier, dachte sie, dass sie einfach ihre Stadt mit Gras bedecken können; so viel, dass sie zeigen können, dass sie hier nicht einmal etwas anbauen müssen. Nein, halt. Neid ist nicht Teil dieses Plans.

Vorschau: Auf Dunhuang Siebzehn steht Elvis erneut unter Verdacht und kann sich einige Dinge selbst nicht erklären. Dieses System gehört jetzt mir, denkt Anita, während Schüsse durch die Gänge der Strafkolonie hallen. „Bist du eine Piratin?“, fragt das Kind.

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Jacob Birken
Jacob Birken

Written by Jacob Birken

Writer, researcher. Interested in ideas about history & historicity, and their mediation in arts & pop culture.

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