Die Kriege der Zukunft [SE01 EP05]
Was bisher geschah: Elvis und Charles erhalten Asyl bei den Selenen, während sich die Krise zwischen den Befreiten Sektoren und der Res Publica zuzuspitzen scheint. Anita Pastor hat sich auf Gliese Pacifica, einen der Planeten in den Sektoren, einschleusen lassen; sie sucht einen wichtigen Gegenstand, muss aber erst andere Probleme lösen.
„Selene“
Arbeiten in Zivil hatte seine Vor- und Nachteile. Lucia mochte an ihrer Uniform, dass sie ihr eine Autorität verlieh, die ihr Menschen ansonsten nicht zugestanden; sie legte sie aber gerade aus dem Grund auch gerne ab, da sie sich selbst nicht allzu autoritativ vorkam. Nach ein paar Jahren bei der Galaktischen Patrouille kam allerdings das unerwartete Problem dazu, dass sie nichts fand, was sie statt der Uniform anziehen konnte: In ihrem Kleiderschrank, sofern sie überhaupt einen besaß, fanden sich jeweils bis zu drei Exemplare ihrer schwarzen Uniform, bis zu drei Exemplare des schwarzen Sportanzugs der Patrouille und etwa zwei dieser Hosenanzüge aus schwarzem Leinen mit Stehkragen, die auch bei besten Willen nichts anderes waren als gemütliche Versionen ihrer Uniform ohne Abzeichen. Das war nicht immer so gewesen, aber Lucia hatte vergessen, warum, und sich vor der Abreise etwas ratlos zu den zwei Leinenanzügen noch zwei der Sportanzüge ausgeben lassen, von denen die Embleme der Patrouille entfernt worden waren.
Die Kleidung blieb dabei noch der oberflächlichste Umstand. Sie hätte sich Monate vorbereiten müssen, um zwischen den Selenen nicht mehr auf den ersten Blick als fremd aufzufallen. Aber dies war nicht der Punkt; auf dem Planeten waren auch andere Menschen als die Selenen, und ihretwegen war sie hier. Mehr konnte sie dazu nicht sagen, denn sie hatte nicht einmal eine konkrete Mission. Anita Pastor war wieder in den Befreiten Sektoren verschwunden, und Aleph schließlich mit den zwei Männern von der anderen Seite des Portals in ihr Raumschiff gestiegen. Bald darauf war er wieder zurück; von den zwei Fremden war der wütende wohl auf seinem Planeten geblieben, während der andere sein Recht auf Asyl auf Selene in Anspruch nahm. An diesem Punkt war freilich nicht mehr klar, aus welchem Anlass er Asyl suchte, da er schließlich ungehindert zu seinem Haus im Moor hätte zurückkehren können. Die Patrouille hielt es nach wie vor für keine gute Idee, ihn unbeaufsichtigt in der Galaxis reisen zu lassen; auch die Behörden der Res Publica beließen es dabei, „dazu noch zu einer Entscheidung kommen zu müssen.“ Nun war er also auf Selene, unter den hunderten von tausenden Menschen, die tatsächlich auf der Flucht waren: Selene war nicht nur einer der zu den Befreiten Sektoren am nächsten gelegenen bewohnten Planeten, sondern auch derjenige, auf den die Einreise am einfachsten war.
Die Selenen blieben den Menschenmengen gegenüber indifferent. Ihr Planet war spärlich besiedelt, und so bauten die Maschinen der Selenen stoisch immer neue Wohnwaben an die Siedlungen für die neu angekommenen Menschen an. Lucia hatte in den letzten Tagen mehrere solcher Siedlungen gesehen. Sie glichen sich nicht nur darin, wie ihre vieleckigen Systembauten jeweils den einen oder anderen Hügel überwuchsen, sondern auch darin, wie die Menschen darin selbst ihr Leben gestalteten: Mit einem frisch synthetisierten Tee oder Bier vor ihren Wohneinheiten sitzend oder kleine Gärten von meistens eher sentimentalem Wert beackernd wirkten sie, als hätten sie bereits zu lange an einer Haltestelle gewartet und würden sich nun darauf einrichten, dass ihre Weiterreise auf unabsehbare Zeit hinausgeschoben worden war; immerhin vielleicht nicht die schlechteste Option, angesichts dessen, dass viele von ihnen zuvor unter Lebensgefahr aus den Befreiten Sektoren hatten fliehen müssen.
Auf der Unabhängigen Sphäre hatte Lucia die langen Warteschlangen vor der Einrichtung gesehen, wo Menschen ihren aktuellen Zustand scannen und aufzeichnen konnten. Das hatte die Regierung der Befreiten Sektoren als erstes geändert: Wo es in der Res Publica noch den Angehörigen, Vertrauenspersonen oder den entsprechenden Verfügungen der Menschen selbst überlassen war, ob sie nach einem tödlichen Unfall oder anderen fatalen Geschicken rekonstruiert werden sollten, bestimmte in den Befreiten Sektoren darüber einzig und allein der Staat. Wer vor diesem Staat floh, konnte davon ausgehen, gegebenenfalls tot zu bleiben, und was auch immer die Menschen in den Siedlungen hatten zurücklassen müssen, diese Hoheit über ihr Leben hatten sie zumindest wiedererlangt.
Lucia war aus der Siedlung in die Hügel hinausgelaufen, doch jetzt drohte es draußen ungemütlich zu werden. Viele solcher Drohungen hatten sich bisher als leer erwiesen, und Lucia war weiterhin davon überfordert, aus dem Wetter auf Selene irgendwelche Regelmäßigkeiten abzuleiten. Die Sonnenstürme malten grüne Bögen über den Nachthimmel, während sich am Horizont dunkle Wolken türmten, hier und da von Innen durch Blitze erleuchtet. Es war warm, aber ein kühler Wind war aufgekommen; vielleicht würde er die Wolken in wenigen Minuten vertreiben. Wo nicht Wetterleuchten oder Aurora am Himmel flirrten, sah Lucia tief in das Weltall hinein, die Sterne auf unerklärliche Weise viel dreidimensionaler angeordnet, als es von der Erde aus wirkte. In den ersten Tagen ihres Aufenthalts war ihr schwindlig geworden, wenn sie länger auf diesen Himmel blickte, aber nach einer Weile hatte es sich gelegt. Vor einigen Jahren — noch zu Zeiten ihrer Ausbildung — war Lucia nach Trappist’s Merveille gereist, dem ersten Planeten, den Abe Butler und Harold Clausen wiedergefunden hatten. Auf Trappist’s Merveille glänzten Seen aus Quecksilber im Schein der drei Monde; tagsüber sprossen vielfache Regenbögen wie Fontänen aus hunderte Meter hohen Wasserfällen, die Kristallfelsen hinabrauschten und in unterirdischen, von fluoreszierenden Korallen belebten Meeren verschwanden. Lucia war nach wenigen Tagen abgereist, krank und benommen. Selene war dagegen nur gewöhnungsbedürftig.
So oder so war es kühl geworden. Lucia hatte bald verstanden, warum sich die Selenen gerne in unförmige Wollsäcke hüllten. Die Grau- und Beige-Töne sagten ihr nicht besonders zu, aber zu ihrem Glück ging es da den Menschen aus den Befreiten Sektoren nicht anders; in einer der neuen Siedlungen hatte sie schließlich eines dieser Kleidungsstücke in einem breiten Zickzack-Muster in warmen Farben gefunden und es gegen ein paar Geschichten von der Erde eingetauscht. Sie machte sich auf den Weg zurück. Über die Patrouille hatte sie einen Gleiter organisieren können, auf dessen Rücksitz sie soweit die Nächte verbracht hatte, aber noch war an Schlaf nicht zu denken. In der Siedlung brannten bereits Lichter, die die Systembauten noch viel eher wie ein friedliches Höhlensystem wirken ließen als tagsüber. Lucia wusste nicht, ob sie die industriellen Betonformen der Selenen mehr aufregten als die Tatsache, dass sie letztendlich alles andere als industriell wirkten. In weiter Ferne, aber dennoch alles überragend hob sich hinter der Siedlung und den Hügeln einer der gigantischen Abwehrtürme der Selenen gegen den Abendhimmel ab, jetzt fast wie ein Schatten, der auf die irren Sternenkonstellationen und Polarlichter dahinter zu fallen schien. Von jedem Punkt auf diesem Planeten aus waren mindestens zwei dieser Türme zu sehen; die Selenen hatten mit dem Bau begonnen, als das Terraforming noch nicht einmal abgeschlossen war. In ihrer Gesamtheit spannten sie ein undurchdringbares Abwehrsystem auf; Magnetfelder, präzise Sensoren und Strahlenwaffen, die noch hunderte Meilen vom Planeten entfernt jedes kleinste Objekt registrieren und atomisieren konnten. Auf Selene war immer Ruhe vor dem Sturm, dachte Lucia, nicht nur, was das Wetter anbelangte.
Ruhe blieb es dennoch; sie schien sich von den Selenen auch schnell auf die Menschen in den neuen Siedlungen übertragen zu haben. „Bierchen?“, rief ihr jemand aus einer Gruppe junger Leute zu, die vor einer der Betonwaben saßen. Sie hatten sich wohl zum Kartenspiel verabredet, aber weiter als zum Austeilen waren sie nicht gekommen; einige betrachteten die Lichteffekte am Himmel, andere hatten sich unter Decken zusammengekauert und schauten gemeinsam Hologrammvideos.
„Vielleicht später“, sagte Lucia im Vorübergehen.
„Alles klar“, rief ihr jemand hinterher, „wir sind dann noch hier.“
Lucia winkte, ohne sich umzudrehen. Auf einer Anhöhe fand sie eine der größeren Waben, die als eine Art Allzweckraum aufgezogen worden war; die Baumaschinen der Selenen folgten hier wohl einem Algorithmus, der bei einer gewissen Anzahl von Wohneinheiten auch für gemeinschaftliche Einrichtungen sorgte. Ob nun aufgrund einer kommunalen Entscheidung oder aus privater Initiative war in dieser Wabe eine Bar entstanden; hier herrschte weder mehr noch weniger Leben als anderswo in der Siedlung, aber der Mann hinter der Theke schien sich in seiner Rolle wohlzufühlen und hatte in den Regalen hinter sich immerhin eine stattliche Menge an unterschiedlichen Spirituosen angesammelt. Die meisten Tische waren von zumindest einer Person besetzt, die über ihrem Getränk und einem Buch oder Video saß. Lucia setzte sich direkt an die Bar.
„Hast du vielleicht eine Limo für mich?“, fragte sie den Barkeeper, nachdem er ihre Anwesenheit mit einem freundlichen Nicken registriert hatte.
„Du hast Glück. Sie haben mir gestern ein paar von ihren Säften gebracht. Was davon, oder lieber etwas Synthetisiertes?“
„Ich probier’ mal von dem Saft“, sagte Lucia. Der Barkeeper reihte ein paar Flaschen auf der Theke auf. Lucia überflog die Etiketten; sie verzeichneten nur Ortsangaben und zum Glück recht aktuelle Daten, obwohl das meiste in den Flaschen irgendwelchen Gärprozessen ausgeliefert zu sein schien. Sie tippte auf eine der Flaschen, deren Inhalt weitgehend klar und von einem intensiven Rot war. „Aber vielleicht nicht pur“, sagte sie.
„Sie sind ja nicht schlecht“, sagte der Barkeeper, während er etwas Saft mit Sprudel aufgoss. Es stimmte, fand Lucia nach einem vorsichtigen Schluck.
„Bist du schon länger hier?“, fragte sie.
„Drei Jahre“, sagte er. „Drei unserer Jahre. Keine Ahnung, was hier für ein Jahr ist. Was hier ein Jahr ist.“
„Wo kommst du her?“
„Atlantica“, sagte der Barkeeper. „War du mal dort?“
„Als Kind“, sagte Lucia. Ihre intensivste Erinnerung an Gliese Atlantica war nachgelagert: der Moment, an dem sie mit den anderen Rekrutinnen und Rekruten der Patrouille über einen großen Bildschirm mitverfolgte, wie die Befreiten Sektoren sich zu ebendiesen erklärten und Lucia plötzlich bewusst wurde, dass sie einst auf dem Planeten in den Nachrichten gewesen war und dies, wie vieles aus ihrer Kindheit, ganz vergessen hatte. Wie damals rief sie sich ein paar der Schnappschüsse dieser Reise vor Augen. Es war fast wie in den Städten der Erde, nur die Gebäude schienen größer — weniger in ihren Ausmaßen als in ihrer Anmutung, massive Blöcke mit riesigen Pilastern vor den Fassaden und unmöglich hohen Geschossen. Als Kind hatte sie nicht verstanden, dass dies vielleicht von Bedeutung war; aber als Kind hatte sie alles Große eben groß gefunden. „Vermisst du die Städte?“, fragte sie.
„Natürlich“, sagte der Barkeeper. „Aber auch nicht. Ich möchte eine Weile lang keine Städte sehen. Es ist gut hier.“
„Hm“, machte Lucia und trank ihre Limo aus.
„Nur diese Dinger“, sagte der Barkeeper und deutete mit einem Geschirrtuch in die Richtung, in der hinter den Betonwaben der Nachbarhäuser einer der Abwehrtürme hinaufragte. „Das kann doch nicht gesund sein.“
„Was meinst du?“
„Alleine schon das Brummen, die ganze Zeit.“
„Da ist nichts“, sagte Lucia, nachdem sie ihr Implantat vorsichtshalber noch eine Frequenzanalyse hatte durchführen lassen.
„Hm“, sagte der Barkeeper. „Noch ein Glas?“
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Der Kampfanzug war bereits so nicht allzu schwer zu tragen, aber ausgeklügelte Hydraulik, Kugellager und andere mechanische Tricks ließen ihn gewissermaßen die Bewegungen begleiten, die man darin machte. Manche Bewegungen förderte der Anzug sogar, und übertrug die Kraft aus dem einen oder anderen Schwung in ein Manöver, das der menschliche Körper selbst nicht ganz so schnell und ganz so stark hätte ausführen können; und auf dieses noch so kleine Übermaß konnte es schließlich ankommen. Carina Debro fuhr mit den Fingern über die Buchstaben, die im Halsschutz ihres Anzugs eingraviert waren, bevor sie den Handschuh anzog und ihren Helm schloss. Sie hatte einen ähnlichen Anzug in der Militärakademie getragen, aber dieser war nun schließlich ihrer. Wenn sie sich nicht bewegte, konnte sie das leise Ticken der Mechanismen hören, die im Inneren für die Sauerstoffzufuhr sorgten. Sie mochte, wie der Anzug diese minimalen Lebenszeichen von sich gab; schließlich hatte sie sich ihm ebenso anvertraut wie den anderen Menschen, die mit ihr gerade das Landungsschiff betreten hatten — und nicht zuletzt dem Landungsschiff selbst, das sie in Kürze von der Morgenröte auf die Mondoberfläche bringen würde. Carina streckte sich kurz, bevor sie sich in ihren Sitz schnallte. Das war der Augenblick; nicht wie die Einsätze auf den toten Schiffen der Flotte, die sie angegriffen hatte. Sie wussten nicht, wer oder was sie auf dem Mond erwarten würde, aber sich auf etwas einzurichten war niemals der Plan gewesen. Endlich, dachte Carina. Endlich.
Abelia beobachtete durch das große Fenster der Schiffsbrücke, wie sich die Landungsschiffe von der Morgenröte entfernten. Das ist also ein Planet, dachte sie, während die Landungsschiffe immer winziger wurden und vor dem großen grauen Rund draußen im All verschwanden. Das ist ein Mond, kein Planet, hatte Carina gesagt und gelacht, und natürlich war die noch größere gelbliche Kugel des Gasriesen dahinter der eigentliche Planet, doch Abelia ging es nicht um die korrekte Bezeichnung von Himmelskörpern, sondern um die Vorstellung von Orten im All, auf denen Menschen leben, siedeln oder zumindest einen Fuß setzen konnte. Sie trat ein paar Schritte vom Fenster zurück, um auf der Projektion über der Brücke die Vergrößerung der Planetenoberfläche und der hinabsinkenden Landungsschiffe zu betrachten (Mondoberfläche, natürlich). Abelia war sich nicht sicher, ob sie den Drang der Menschen verstand, auf einer Oberfläche leben zu wollen; entsprechend unsicher war sie sich, ob sie gerade enttäuscht sein musste, nicht auf einem der Landungsschiffe zu sein. Sie stellte fest, dass das Ziel ihrer Reise immer gewesen war, mit der Morgenröte Phase Zwei zu erreichen, aber dort waren sie nun angelangt. Die Debros waren aus einer Zeit, die für Abelia eine ferne Vergangenheit war, in ihrer Gegenwart angekommen und hatten eigene Ziele mitgebracht. Dass Abelia keine Vorstellung mehr davon hatte, wohin ihre Reise gehen sollte, war langfristig nicht akzeptabel.
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Elvis musste bereits seit einigen Stunden unterwegs sein. Er war von der Siedlung aus in Richtung des nächstgelegenen Turms losgelaufen, hatte auf halber Strecke dann doch einen anderen Turm am Horizont interessanter gefunden und danach zum Beispiel diesen Hügel mit den drei schroffen Felsen. Der Junge von der Butler-Stiftung hatte recht gehabt: Natürlich gefiel ihm dieser Planet. Auf einer kleinen Anhöhe blieb er kurz stehen, um wieder zu Atem zu kommen. Die Luft war hier frischer; frischer als im Moor allemal, und auch frischer als in der Unabhängigen Sphäre, in der sie den Eindruck erweckt hatte, durch irgendwelche Zusatzstoffe frisch gehalten zu werden. Die Menschen in der Siedlung mochten sich über die Eintönigkeit der Hügellandschaft beschweren, aber Elvis hatte keine Bedenken, auch nach einem längeren Ausflug umstandslos wieder in die Siedlung zu finden: Hier fand sich alle paar Meter eine originelle Steinformation, ein kleiner See oder eine mit leuchtend roten Beeren bewachsene Böschung; ganz zu schweigen von den riesigen Türmen, aus deren Kronen die unterschiedlichsten Aggregate oder ganze Wälder aus Antennen sprossen. Nur zwei Dinge irritierten Elvis. Zum einen das unlesbare Wetter, bei dem weder dunkle Wolkenmassen Regen bedeuteten noch ein strahlend klarer Himmel die Gewissheit, nicht zwei Minuten später vor Platzregen oder gleich Hagel flüchten zu müssen; zum anderen die Stille, wenn sie nicht gerade von einem fernen Donnergrollen oder einem Blitzeinschlag in den See hinter dem nächsten Hügel unterbrochen wurde.
Ganz unbelebt waren diese Landschaften nicht. Elvis hatte mehrere Arten kleiner Vögel gezählt, aber auch große Kraniche, die an den Rändern der Seen nach Insekten oder Würmern suchten und sich elegant davonschwangen, sobald man auf etwa zehn Meter an sie herankam; auch zwischen einer Spezies von Erdhörnchen und Elvis herrschte bislang ein Verhältnis respektvoller Distanz.
Die Selenen selbst lebten in schlichten Bungalows aus Stein und Holz und viel Glas. Elvis war einigen von ihnen begegnet; meistens saßen sie einfach auf einem Fels oder einer Böschung und schauten in die Landschaft; manchmal machten sie irgendeine gymnastische Übung. Er erinnerte sich indes nicht, sie ihrerseits unterwegs gesehen zu haben, ob zu Fuß oder in einem Fahrzeug; es kam vor, dass ihm jemand höflich zunickte, aber weit und breit nicht mehr zu sehen war, wenn sich Elvis nicht allzu viele Schritte weiter wieder umdrehte.
Von der Anhöhe aus konnte er in der Ferne noch die Siedlung erkennen, wenn auch nur daran, wie sich die Umrisse der Landschaft in die geraden Linien der Waben und nicht diejenigen der Hügel darunter auflösten. Weiter im Norden glitzerte einer der größeren Seen dieser Region. Abseits vom Ufer stand einer der Türme im Wasser wie ein Relikt aus der Zeit vor einer Flut; viel weiter in den See hinein zeichneten sich die Formen des nächsten ab. Am Seeufer bewegte sich etwas: Eine Person winkte. Aus dieser Entfernung konnte Elvis nicht einmal raten, ob das Winken ihm galt, aber es war schließlich nicht weniger interessant als der nächste Turm oder der nächste ungewöhnlich geformte Felsen.
Ach so, dachte er, als sein Implantat das Gesicht der Person am See stark genug vergrößern konnte, um sie zu erkennen. Das war Rachel Anderson, die Selene, die Charles und ihm auf der Unabhängigen Sphäre Asyl angeboten und sie auf diesen Planeten gebracht hatte. Elvis wusste, dass sie in der Gegend der Siedlung wohnte; sie hatte Charles und ihn zu der freien Wohnwabe gebracht und dann noch kurz mit einigen der anderen Menschen in der Nachbarschaft Smalltalk gehalten. Über Rachel Anderson selbst wusste er hingegen nicht viel, und nicht einmal ihre Funktion in dieser Gesellschaft.
„Hallo“, sagte sie, als Elvis am See angekommen war, „gehst du spazieren?“
„Ja“, sagte Elvis. „An diesem See war ich auch noch gar nicht. Ich war sonst eher in der Gegend, wo dieser kleinere See ist: länglich und etwas gebogen, und an einem Ende ist ein großer, sehr runder Stein, auf der anderen Seite ganz mit Moos bewachsen?“
„Hmmm“, machte Rachel, bevor Elvis weiter ausholen konnte. „Magst du unseren Planeten? Sonst würdest du wahrscheinlich nicht mehr hier sein.“
„Ich bin ja noch nicht lange hier“, sagte Elvis. Rachel war sitzen geblieben, und so setzte er sich neben sie. Die Selene war wieder barfuß; im Abendlicht schimmerten ihr Gesicht, die Hände und Füße auf die leicht metallische Weise, die Elvis an allen dieser Menschen aufgefallen war. „Warst du schon auf vielen anderen Planeten?“, fragte er.
„Natürlich“, sagte Rachel.
„Ich habe von diesen Kriegen gehört. Was ist damit? Seid ihr auch im Krieg?“ Elvis nahm einen Stein vom Boden und warf ihn ins Wasser. Neben dem entfernteren Turm schlug ein Blitz in den See ein, doch die Wolken schienen sich bereits wieder zu verflüchtigen. „Bei uns gab es noch nie Krieg. Ich weiß auch gar nicht, ob das möglich wäre, dafür müsste man erst genug Menschen zusammenbekommen? Das geht bei uns nicht. Glaube ich.“
„Bei uns vielleicht auch nicht“, sagte Rachel und reichte Elvis einen weiteren Stein.
„Danke“, sagte er und warf auch diesen in den See.
„Niemand hier möchte, dass wir in diesen Krieg hineingezogen werden“, sagte Rachel. „Das war doch überhaupt der Punkt, oder? Diese alte Zivilisation und ihre Kriege zu verlassen, das alles brauchten wir nicht mehr.“ Sie gab Elvis einen dritten Stein. Er erinnerte ihn an etwas; an die ersten beiden Steine. Er schaute aus dem Augenwinkel zu Boden, aber die übrigen Steine um sie herum waren nicht auffällig ähnlich. Auch fiel ihm auf, dass er sich nicht erinnern konnte, die Steine auf dem Wasser aufschlagen zu sehen oder zu hören. Elvis holte aus und warf.
„Warum hat man das überhaupt jemals gebraucht“, sagte er, während ihm Rachel den vierten Stein reichte. Er drehte den Stein ein paar mal zwischen den Fingern. Dieser Stein war der dritte Stein, und vermutlich auch der zweite und derjenige, den er selbst vom Boden aufgehoben hatte. „Was“, sagte Elvis.
Rachel zuckte mit den Schultern. „Nicht schnell genug“, sagte sie.
„Aber wie“, sagte Elvis.
„Übung“, sagte Rachel und lächelte nachsichtig.
So hübsch, dachte Elvis, auch wenn er sich nicht sicher war, nach welchen Kriterien; angefangen von dem metallischen Glanz der Haut bis hin zu der seltsam stumpfen, bleiernen Iris ihrer Augen.
Rachel streckte die Arme aus und spreizte ihre Finger. „Als unsere Leute hier ankamen“, sagte sie, „ging es mit dem Terraforming erst nicht gut. Die Strahlen von unserem Stern haben uns krank gemacht, und wir haben uns entsprechend verändert. Um uns vor den Strahlen zu schützen. Heute spielt das keine Rolle mehr. Ich habe aber gehört, dass die Leute, vor denen die anderen Leute hierher geflohen sind, auf ihren Planeten ein neues Gesetz haben. Das regelt jetzt, dass wir keine Menschen mehr sind, sondern eine eigene Spezies. Vielleicht sollten wir doch Krieg führen, was denkst du?“
Elvis versuchte ein weiteres Mal, den Stein in den See zu werfen, und hatte tatsächlich den Eindruck, sehr flüchtig Rachels Arm in der Luft vor sich zu sehen. Er verstaute den Stein lieber in seiner Jackentasche, nachdem die Selene ihn in seine Hand hatte fallen lassen.
„Diese Türme“, sagte er, „leben darin auch Menschen?“
„Da lebt niemand. Als sie gebaut wurden, gab es noch nicht mal diesen See.“ Rachels Armband machte ein Glockengeräusch. Sie hielt es sich eine Weile ans Ohr und faltete dann die Arme vor den Bauch, als wäre es noch viel kälter geworden, als es schon ohnehin war. „Jetzt ist er doch da“, sagte sie schließlich.
„Wer?“
„Na der Krieg“, sagte Rachel.
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Mette war sofort als ein Risiko erkennbar. Den Kontakt zu ihr hatte Rufus vermittelt, und Rufus wiederum war ein Kontakt des Schmugglers, der Anita Pastor auf Gliese Pacifica gebracht hatte. Im Untergrund hatte sich Mette um Sicherheitsaufgaben gekümmert, das hieß: staatliche oder auch andere Sicherheitssysteme ausgehebelt, wenn diese irgendeiner aktuellen Operation im Wege standen. Der Untergrund war, wie Anita recht schnell feststellte, keine wirkliche Widerstandsbewegung; im Konflikt zum Regime stand er vielmehr, wenn sich der Staatsapparat als widerständig gegenüber den Operationen des Untergrunds verhielt, ob nun irgendwelche Dinge auf den Planeten gebracht oder, was zunehmend seltener wurde, von ihm weggeschafft werden sollten. Dass Mettes Arbeit in letzter Zeit weniger gefragt war, lag nicht an fehlenden Aufgaben. Vielen, darunter auch Rufus, schien unausweichlich, dass Mette bei der nächsten, spätestens der übernächsten Aktion dafür sorgen würde, dass diese noch bis zur Erde hin Wellen schlagen würde, ob nun elektromagnetische oder andere; daran hatten die meisten im Untergrund wiederum wenig Interesse.
Sie trafen Mette in einem stillen Park am Stadtrand; sie saß auf einer kleinen Mauer auf einer Anhöhe, von der sich die ganze Stadt überblicken ließ, bis sie sich irgendwo vor dem Horizont in Vororten und den endlosen Getreidefeldern verlor. Mette überblickte die Stadt weniger, als dass sie über sie hinwegblickte. Sie registrierte kurz, dass Rufus und die ihr fremde Frau sich zu ihr gestellt hatten, und wandte sich wieder dem Horizont zu, während Rufus ihr erst Anita vorstellte und Anita ihr danach ihr Anliegen vortrug. „Ich möchte die automatischen DNA-Proben auf diesem Planeten sabotieren“, sagte Anita, „eigentlich spielt es keine Rolle, auf welche Weise.“
„Das machen wir“, sagte Mette mit einem Ton resignativer Überzeugung, als hätten Anita und Rufus ihr zuvor stundenlang die unpraktikabelsten Vorschläge gemacht.
„Sehr gut“, sagte Anita und reichte ihr die Hand. In Mettes Augen war überraschend viel Leben, stellte sie fest.
Wie alle systemrelevanten Strukturen in den Befreiten Sektoren hatte die DNA-Überwachung keinen konkreten Ort. Hinter allem stand, selbstverständlich, die Datenbank mit den DNA-Informationen, von der Regierung kontinuierlich aufgefüllt. Dieser Prozess hatte aus zwei entgegengesetzten Richtungen begonnen: Da waren zum einen die Menschen, die für den Staat arbeiteten und dafür ihr Erbgut hinterlegten; da waren zum anderen diejenigen, die der Staat selbst aus dem einen oder anderen Grund aufgegriffen hatte. Zumindest das erste war ein radikaler Bruch mit allem gewesen, was selbst in ihren unseligsten Jahren das Verhältnis der Res Publica zu ihren Bevölkerungen bestimmt hatte. Als die autonome Regierung von Gliese Atlantica die noch freiwillige Übergabe von DNA-Informationen für Staatsbedienstete einführte, musste Anita die Nachricht mehrfach lesen, weil sie sie zuerst schlichtweg nicht verstand. Danach kontaktierte sie die anderen von der Patrouille und begann, für einen längeren Aufenthalt zu planen.
Was Anita noch als Tabubruch erschienen war, sahen die Menschen auf Gliese Atlantica in einem ganz anderen Licht. „Jetzt wissen wir wieder, wer wir sind“, sagten sie, wenn sie beiläufig das Thema ansprach; sie wollte dann nicht weiter danach fragen, wann sie dies jemals vergessen hatten. Der Prozess hatte sich danach unnachgiebig fortgesetzt. Bald ging es nicht mehr nur um die Menschen, die für den Staat arbeiteten, sondern auch um die, die seine Dienste in Anspruch nahmen, um beispielsweise ein Gewerbe anzumelden oder ein Haus zu bauen. War auf der anderen Seite die Erfassung der DNA-Informationen noch Teil der Verbrechensbekämpfung gewesen, wurde es — und darauf war es von Beginn an hinausgelaufen — schließlich zum Verbrechen, diese Informationen nicht erfassen zu lassen. Als die Systeme dazu an die biometrische Überwachung in den Städten gekoppelt wurden und die Regierung die Sicherung des individuellen Zustands verstaatlichte, fragte sich Anita, an welchem Moment eingegriffen hätte werden müssen. Die Galaktische Patrouille hatte sich zuvor durchaus gegen Staatsapparate gestellt, aber da ging es um den Machtmissbrauch der Herrschenden oder die Vertuschung von Verbrechen, und nicht um ein System, das von den Menschen begeistert mitgetragen wurde. Jetzt wissen wir wieder, wer wir sind.
Wie die übrigen Informationen war die DNA der Menschen in den Befreiten Sektoren in einem verteilten Datenbanksystem gespeichert. Darauf zugegriffen wurde überall, es zu manipulieren war vermutlich die anspruchsvollste kryptokriminelle Aufgabe in der bekannten Galaxis. Das konnte entsprechend nicht der Plan sein.
„Wir gehen über die Staubsauger ran“, sagte Mette.
„Staubsauger“, wiederholte Anita, die sich neben sie auf die Mauer gesetzt hatte, während Rufus unweit auf einer Parkbank ein Buch zu lesen vorgab. Anita hatte sich bei der Ankunft auf Gliese Pacifica schnell eine gebückte Haltung angeeignet, um nicht allzu aufzufallen, aber neben Mette wirkte sie immer noch wie eine Athletin: Die Frau war auf der Mauer zusammengesunken, als hätte jemand mit möglichst wenig Mühe versucht, eine alte Marionette in sitzender Position zu arrangieren.
„Die Endgeräte, die deine Schuppen einsaugen“, sagte Mette. „Sie gleichen die Informationen mit der Datenbank ab. Da müssen wir ansetzen. Auf allen dieser Dinger läuft die gleiche Software, die müssen wir umschreiben.“
„Gut“, sagte Anita. „Wie?“
„Es gibt eine beschränkte Gruppe von Leuten, die darauf Zugriff haben. Wir suchen uns das schwächste Glied in der Kette und hacken uns durch ihn in die Software.“
Anita überlegte eine Weile. „Nein“, sagte sie dann, „nicht das schwächste Glied. Wer auch immer am wenigsten angreifbar ist.“
Mette lachte heiser. „Interessant“, sagte sie.
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Die Tür zur Zeitenkammer war wohl die einzige auf der Morgenröte mit Türflügeln, die tatsächlich aufschwangen und nicht einfach vollautomatisch in die Wand glitten. Carina Debro merkte, dass ihre Hand leicht zitterte, drückte die Tür aber dennoch auf und trat ein. Sie war alleine; Lichter gingen an, aber sie blieben schwach, ein warmes Glühen über den Mosaiken an den langen Wänden der Kammer. Die Tür hinter ihr fiel ins Schloss, und Carina lehnte sich das polierte Holz des Flügels. Ihr Herz raste immer noch. Sie waren, natürlich, erfolgreich gewesen. Wieder an Bord hatte Carina einige Minuten den Kopf unter die Dusche gehalten und war in ihre Uniform gewechselt. In der Bar, wo sie dann alle diesen ersten Einsatz feierten, trugen einige noch ihre Kampfanzüge; die Helme hatten sie auf der Theke aufgereiht. Das war alles gut oder sogar sehr gut, aber sie war zu unruhig gewesen, um angemessen feiern zu können.
In der Mitte der Kammer stand ein Sockel. Hier ist, woran wir uns messen müssen, dachte Carina, aber auf welche Weise sollten wir das können? Sie wagte nur flüchtige Blicke auf die Mosaike. Sechs ganzfigurige Portraits auf jeder Seite: da war Carson Milia; da ihr eigener Großvater, Yehan Debro. Auf dem Sockel stand eine Holzkiste. Carina klappte den Deckel auf und fast sofort wieder vorsichtig zu. Das ist noch nicht die Zeit, dachte sie. Das war noch nicht genug gewesen. Aber wie werden wir wissen, was genug ist; erst, wenn es zu viel für uns ist? Aber wie sollte das dann noch gut sein?
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Es war ein dunkler und stürmischer Morgen gewesen, wie in gewisser Weise jeder Morgen auf Selene dunkel und stürmisch und auch alles andere zugleich war. Lucia Lem war früh aufgestanden und hatte die Memos der Patrouille durchgearbeitet. Selene hatte den Kontakt zu einer seiner Kolonien verloren; aus den letzten Übertragungen der dortigen Portalstation wurde Lucia nicht weiter schlau. Mit Unterlichtgeschwindigkeit brauchte es mehrere Wochen zur Kolonie, und Aleph hatte mittlerweile das Kommando über die Gandiva übernommen. Für Lucia blieb nichts weiter zu tun, als auf diesem Planeten zu bleiben, komme, was wolle. Als der Regen aufhörte, kletterte sie aus ihrem Gleiter und machte ihre Morgengymnastik; dann putzte sie sich die Zähne und sah zu, wie die Sonne über den Hügeln und Seen aufging, bevor sie die Flugroute zur größten Siedlung auf dieser Hemisphäre einprogrammierte.
Die Betonwaben wucherten, so weit das Auge reichte, doch das hieß nicht, dass die Siedlung nicht an jedem ihrer Punkte einen eher dörflichen Charakter behalten hatte. Lucia hatte den Gleiter am Rand abgestellt und war den nächsten Hügel hochgelaufen; bald fand sie eine der kommunalen Waben, die mit einer großen Aufschrift „ALLES WAS DU BRAUCHST“ versprach.
Eine kräftige Frau war gerade mit einem kleinen Gemüsegarten neben dem Eingang beschäftigt, hatte Lucia aber bereits aus der Ferne als Kundschaft erkannt. „So ein schöner Pullover“, sagte sie und wischte die Erde an ihren Hosenbeinen ab.
„Danke“, sagte Lucia. „Aus einer der anderen Siedlungen. Könnte ich vielleicht einen frischen Kaffee haben? Naja, und eine Dusche wäre auch gut.“
„Kaffee mache ich dir. Die Dusche ist hinten.“
„Alles, was ich brauche“, sagte Lucia.
Sie bekam dann noch einen Salat. „Bist du nicht das Mädchen von der Patrouille?“, fragte die Siedlerin. „Ich habe die Übertragung geschaut.“
„Hm“, machte Lucia.
„Werdet ihr unsere Planeten befreien?“
„Wenn wir das können“, sagte Lucia. „Hast du noch Familie dort?“
„Das wird sich dann klären, ob ich da noch Familie habe“, sagte die Frau. „Ist auch schon eine Ansage, dort bleiben zu wollen. Oder zu können.“
„Und hier? Willst du hier bleiben?
„Vielleicht. Vielleicht nicht. Aber warum nicht.“
„Alles, was du brauchst“, sagte Lucia und lachte.
„Es bleibt schon anders, hier“, sagte die Frau. „Alleine diese Türme? Auf Dauer kann das doch nicht gesund sein. Dieses Brummen, die ganze Zeit.“
Oh nein, dachte Lucia.
Vorschau: Anita Pastor und ihre widerwillige revolutionäre Zelle stiften Aufruhr. Viele Sternensysteme weiter führt die Morgenröte einen Krieg, den sie nicht begonnen hat: Operation „Neue Ernte“ ist bereits angelaufen, doch niemand weiß, wer hier wo operiert.