Die Kriege der Zukunft [SE01 EP15]

Jacob Birken
29 min readJul 14, 2020

Was bisher geschah: Die Galaktische Patrouille hat die Strafkolonie auf Gliese Noctis befreit, während die Truppen der Morgenröte auf Dunhuang Siebzehn den letzten Widerstand der lokalen Garde niederschlagen. Nachdem Elvis Eric Late die Gewalt aus nächster Nähe miterlebt hat, beschließt er, die Stadt fürs Erste zu verlassen.

„Der Block“

Als sie nicht mehr das Gefühl hatte, gerade gebraucht zu werden und auch niemand sie vom Gegenteil überzeugte, suchte Lucia Lem den nächsten Notausgang und stieg auf das Dach der Kommandantur. Der Stern dieses Systems war bereits hinter dem Horizont oder zumindest der Wolkendecke von Gliese Noctis verschwunden, und sie konnte bestenfalls ein paar magere Sträucher im kalten Flutlicht um die Strafkolonie herum sehen, bevor die Steppe dahinter in der Dunkelheit verschwand. Sie hatte gehört, dass weit über ihnen eine Schlacht zwischen den Schiffen der Patrouille und der Befreiten Sektoren stattfand, aber davon war genauso wenig zu sehen wie von den Sternen, die irgendwo am Himmel sein mussten. Den neusten Informationen nach blieben nicht mehr viele gegnerische Schiffe übrig, die letzten, die den Rückzug der Flotte sichern sollten.

Dann haben wir wohl gewonnen, dachte Lucia. Einen Planeten, auf dem jetzt ein paar tausend Menschen leben, die nie hier sein wollten und nirgendwohin zurückkonnten; dazu noch die neuen Gefangenen der Patrouille, mit denen diese nichts weiter anzufangen wusste. Wahrscheinlich würde die Flotte der Res Publica alle von ihnen bald mit Transportern von diesem Planeten schaffen. Die einen würden in Siedlungen wie denjenigen landen, die Lucia vor Jahren auf Selene gesehen hatte; die anderen entweder in Haft oder auf Gliese Pacifica, wo sich nicht allzu lange her schließlich ein Großteil der Bevölkerung in den Dienst des Regimes gestellt hatte, dem sie seine Planeten nach und nach wieder zu entreißen schienen.

Vor ihr war die dunkelste Nacht, die Lucia je erlebt hatte, aber sie hatte davor weniger Angst als vor allem, was diese Kriege betraf. Sie hatte zu viele Stunden in den unteren Stockwerken der Kommandantur verbracht. Hinter dem kugelförmigen Helm des rätselhaften Psychokriegers war nur ein Mensch zum Vorschein gekommen, ein großer blonder Mann mit einem langen, scharfen Gesicht; als sie ihn weckten und verhören wollten, sagte er mit einem halben Grinsen nur „nein“ und starb innerhalb von Sekunden. Irgendeine äußere oder innere Einwirkung konnten sie bei der Obduktion nicht feststellen: Offenbar war sein Herz einfach auf Kommando stehengeblieben. Auf der Brust hatte er eine dubiose Kreatur eintätowiert, am ehesten eine gewundene Echse mit einem Affenkopf, doch weder das eine noch das andere einem wirklichen Tier ähnlich. Niemand erkannte das Motiv, aber alle waren davon angewidert; selbst aus der ohnehin unangenehmen Symbolik der Befreiten Sektoren schien es noch herauszufallen.

In den Datenbanken der Strafkolonie war außer einer Personalnummer nichts Weiteres über diesen Mann zu finden. Auch Anita Pastors Nodium blieb verschollen. Lucia konnte ihr die Frustration ansehen, aber letzten Endes war der Einsatz ein überwältigender Erfolg gewesen. Sie hatten den Befreiten Sektoren einen weiteren Planeten abgenommen und Tausende von Menschen gerettet; es würde jetzt nicht lange dauern, bis die Namen der Geretteten und die Aufzeichnungen über die Strafkolonie unter den Menschen auf Gliese Atlantica und den restlichen Gebieten des Regimes kursieren sollten. Für manche würde dies eine neue Hoffnung bedeuten, für andere wäre es endlich ein Anlass, sich dem Widerstand anzuschließen. Lucia wusste nicht, was ihre Rolle in dem Ganzen noch sein konnte. Vielleicht kann ich ja hier bleiben und herausfinden, was man mit diesem Planeten anfangen kann, dachte sie, aber wahrscheinlich würde sie sehr bald für wichtigere Aufgaben gerufen werden.

🌠

Was brauche ich mehr?, dachte Elvis, nachdem er oben auf dem Berg angekommen war, suchte dann aber doch lieber nicht weiter nach einer Antwort auf diese Frage. Was er hier hatte, war vor allem ein großes Stück Wald, in das sich auch sonst kaum jemand verirrte. Etwas unterhalb der Kuppe stand eine kleine Kabine mit einer winzigen Kammer und einer Bank, die zu kurz war, um sich darauf richtig auszustrecken. Hinter der Kammer lag eine noch winzigere Toilette, die aber erstaunlich unbeeindruckt von den bisherigen Ereignissen weiterhin in Betrieb war; nachts leuchtete dank irgendeiner Solaranlage sogar eine kleine Lampe und lockte allerlei Insekten vor die Kabine. In der ersten Nacht versuchte Elvis, sich auf der Bank zusammenzurollen, aber das war keine gute Lösung. Am Tag darauf richtete er auf der Bank lieber seinen Hausrat ein und machte aus der Tasche, in der er das alles hochgetragen hatte, ein notdürftiges Kissen; das war als Lösung gut genug, dass es ihm bereits in der Nacht darauf wie Routine vorkam, sich auf dem Boden der Kammer zum Schlafen hinzulegen, auch wenn seine Füße auf wahrscheinlich etwas alberne Weise durch die halbgeöffnete Tür ins Freie ragten. In den ersten Nächten beruhigte es ihn, auf den Schuhspitzen das Licht der kleinen Lampe draußen zu sehen, aber bald verhängte er sie notdürftig mit irgendeinem Tuch und fand den Sternenhimmel tatsächlich beruhigender.

Auch in die Tage kam bald eine gewisse Routine. Elvis kannte die Umgebung bereits, aber jetzt begann er, sie unter anderen Gesichtspunkten zu betrachten; wo er zuvor bei einem Spaziergang durch ein Feld vielleicht eine Getreideähre abgezwickt hatte, um müßig an den Körnern zu kauen, wurde die Selbstversorgung jetzt womöglich zu einer Frage um Leben und Tod. Nach einigen Tagen hatte er das Gefühl, einen Überblick über alles zu haben, was sich in der Nachbarschaft finden ließ, und sogar einen kleinen Vorrat in seiner Kammer angelegt. Die ersten Experimente über einem kleinen Feuer vor der Kabine wurden nicht so besonders, aber das hätte Elvis auch unter normalen Umständen nicht überrascht.

In einigen der Felder sah er noch Drohnen ihren Arbeiten nachgehen; wie die Kabine hatte der Puls sie wohl nie erreicht. Manchmal traf er Menschen, die aus der Stadt gekommen waren, aber sie sprachen nicht viel, während sie große Körbe oder Rucksäcke mit Getreide oder irgendwelchen Rüben füllten. Elvis half ihnen hin und wieder beim Tragen, bis sie den Rand der Stadt erreichten. Selbst dann war wenig aus ihnen herauszukriegen, und Elvis las am Ehesten eine Enttäuschung über diese neuen Umstände ab, denen sie aus einem unerfindlichen Grund ausgesetzt worden waren. Auch gingen sie im Gegensatz zu ihm auf diese Felder, weil sie noch für weitere Menschen Sorge trugen, ob für ihre Familie oder vielleicht die Nachbarschaft.

Auf seinen langen Ausflügen vor der Invasion hatte er gesehen, wie sich das Patchwork der Felder und Haine ins Endlose erstreckte, während man die Städte auf Dunhuang Siebzehn an ein paar Händen abzählen konnte. Es würde für alle reichen, selbst wenn die Morgenröte noch Tausende mehr ihrer gepanzerten Truppen auf diesen Planeten schicken sollte. So bediente sich Elvis recht frei an allem, was er hier finden konnte, und nahm noch eine weitere Portion an Essbarem für die zunehmend vielen Nagetiere um seine Kabine herum mit; nicht, dass sie sich nicht selbst im Wald versorgen konnten, doch jetzt waren sie nun einmal da. Menschlichen Gästen bieten wir schließlich auch etwas an, obwohl sie sich zuhause selbst was kochen könnten, dachte Elvis und stopfte eine weitere Ähre in seine Tasche.

Eines Tages besuchte eine Gruppe der Leute aus der goldenen Armee die Felder am Fuß seines Berges. Elvis beobachtete sie lieber aus der Ferne, wie sie von einem Feld zum anderen gingen und jeweils am Rande stehenblieben. Sie wirkten etwas hilflos, als würden Kinder erwachsene Menschen spielen, die etwas Wichtiges zu entscheiden hatten.

🌠🌠

Die Sagarmatha war sogar noch älter als er selbst, und im Vergleich zu den meisten menschlichen Zellen erneuerten sich die Bestandteile eines Raumschiffs nicht von alleine. Zenon Appiah hatte das Schlachtschiff und dessen Zwilling, die Elbrus, nur kurz gesehen, nachdem die Fähre das Portal dieser Flotte verlassen hatte: Zwei riesige graue Schachteln, bedeckt mit Geschütztürmen und Schildgeneratoren, die zuerst noch wie dekorativer Tand auf einem Fensterbrett wirkten und dann aus der Nähe vor den kleinen Fenstern der Fähre vorbeizogen wie die Gebäude einer Stadt, die für irgendwen, aber in keinem Fall für Menschen erbaut worden war. Wenig später konnte Appiah endlich das Visier seines Raumanzugs öffnen und die Luft der Sagarmatha einatmen. Sie hatte die spezifische Frische, die Appiah von vielen großen Schiffen kannte und die vor allem dadurch entstand, dass aus der Luft alles irgendwie Unfrische entfernt wurde; es war nicht unangenehm, aber auch nicht die Frische, die ihm die Winde von Trappist’s Merveille ins Gesicht bliesen, sobald er auf seine Terrasse trat. Appiah rief über sein Implantat den Weg zu seiner Kabine auf, entschied sich dann aber um und ließ den Bordcomputer das älteste erhaltene Teil des Raumschiffs heraussuchen. Es war nicht allzu weit entfernt, und nach einer Weile schwebte er vor der Wand eines nicht weiter wichtigen Korridors, hinter der sich irgendwo diese historische Verstrebung befinden musste. Na gut, dachte er und klopfte freundlich mit der Handfläche gegen die Wandverkleidung, bevor er sich auf den Weg zu seiner Unterkunft machte.

Servicedrohnen hatten bereits seine Unterlagen auf die Kabine gebracht. Appiah nahm die großen Blätter aus der Mappe und schaute zu, wie sie sich in der Schwerelosigkeit auffalteten, bis er sie mit ein paar Magneten an der Wand befestigte. Er kannte ohnehin jedes Detail, das auf diesen Blättern zu sehen war. Noch bevor er vor einigen Monaten beim Flottenkommando um diese Mission angefragt hatte, hatte er aus den spärlichen Informationen zur Morgenröte und den historischen Daten über das alte Kolonieschiff, dessen Reste sich wahrscheinlich hinter ihrer orangen Hülle verbargen, diese Skizzen angefertigt. Das Meiste daran waren Vermutungen, aus denen sich keine wesentlichen Schlüsse ziehen ließen; bestenfalls Hinweise auf die Manövrierfähigkeit oder die ungefähre Masse des Schiffes.

Appiah wechselte aus dem Raumanzug in die Uniform, die für ihn auf der Sagarmatha angefertigt und neben einem kleinen Packen maschinell gefalteter Wäsche hinterlegt worden war. Auf der Brücke warteten sie sicher bereits auf ihn, aber auch wenn die Kabine nicht besonders gemütlich war und Appiah hier kaum etwas Sinnvolles mit sich anzufangen wusste, verspürte er plötzlich einen gewissen Widerwillen, sie zu verlassen.

„Ich bin ein privater Mensch geworden“, sagte er zu niemandem insbesondere, als er schließlich auf der Brücke ankam und sich in seinen Sessel schnallte. Die Leute auf der Brücke salutierten von ihren Posten aus. Appiah war die Liste der Crewmitglieder vor seiner Anreise durchgegangen; da waren alte Menschen wie er selbst, die in den aktiven Dienst zurückgekehrt waren, um aus dem einen oder anderen Grund dem orangen Phantomschiff zu begegnen; da waren junge, für die dies der erste Einsatz nach der Akademie war. Einige hatten noch vor Kurzem an einer der Fronten im Krieg gegen die Befreiten Sektoren gekämpft; andere hatten Jahre oder sogar Jahrzehnte hinter einem Schreibtisch des Flottenkommandos gesessen oder an der Akademie gelehrt. Auch Appiah war kein Krieger. Seine vielen Dienstjahre hatte er in einer Zeit hinter sich gebracht, in der die Piraterie die einzige Sorge der Marine gewesen war: Erst als Kadett, später als Kapitän eines eigenen Schiffs und schließlich Kommandant einer kleinen Flotte, die die Routen zu den Rändern der Res Publica bewachte oder manchmal eine Basis aushob. Als dann diese Ränder der Res Publica gegen den planetaren Verbund rebellierten und die Sagarmatha und die anderen der uralten Schlachtschiffe für den Krieg gegen die Befreiten Sektoren reaktiviert wurden, war Appiah bereits seit einiger Zeit im Ruhestand.

„Was haben wir hier?“, fragte er die Kapitänin, die in einem der anderen Sessel auf der Tribüne der Brücke saß, eine stille, ebenso bereits ältere Frau, die Appiah eher in einer Schule oder einem Archiv erwartet hätte. Nicht, dass ich mich hier erwartet hätte, dachte er.

„Die Sagarmatha und Elbrus, mit voller Besatzung. Das Portal bei Dunhuang Elf ist unter unserer Kontrolle und aktiv. Unterstützung kommt von der Galaktischen Patrouille. Die Gandiva Zwei.

„Ist sie denn schon da“, sagte Appiah, „unsere Unterstützung.“

Die Kapitänin schien kurz in Gedanken verloren, während sie etwas über ihr Implantat abrief. „Gleich“, sagte sie. „Einige Minuten.“

„Dann warten wir noch einige Minuten“, sagte Appiah, „und ich schaue mir ein wenig diese Brücke an. So ein großes Schiff, das gab es zu meiner Zeit gar nicht.“

🌠🌠🌠

Elvis war sich nicht sicher, ob er lange oder überhaupt geschlafen hatte. Als er die Augen öffnete, war es noch Nacht. Er kroch aus seiner Kammer ins Freie, wo sich die Bäume schwarz gegen den Sternenhimmel abhoben, bis er im schwachen Licht der kleinen Monde Dunhuang Siebzehns langsam die einzelnen Äste und Blätter erkennen konnte. Weiter unten lag die Stadt. Nach der Invasion war sie auch nachts nicht länger die Alte. Sie war einfacher geworden, vielleicht nicht länger eine Stadt; wo zuvor die Laternen in den Straßen und Parks und die bunten Schilder der Kneipen sie wie ein grobes Netz in ihren ganzen Ausmaßen zu umfassen schienen, war jetzt alles auf die wenigen Orte reduziert, an denen die Menschen noch nicht schliefen und Kerzen oder andere kleine Feuer flackerten, winzige warme Punkte, als hätten sich in der künstlichen Hügellandschaft der Wohnblöcke erst ein paar wenige Menschen niedergelassen.

Dann waren da die anderen Lichter, sonderbar matt zwischen unterschiedlichen Farbtönen pulsierend. Elvis hatte irgendwann gelernt, sie den Leuten von der Morgenröte zuzuordnen. Das waren keine Feuer, sondern große Röhren, die die goldene Armee mitgebracht und zwischen ihren Zelten und in manchen Gebäuden aufgestellt hatte. Sie waren zu weit entfernt, um ihren Inhalt wirklich zu erkennen, aber es musste etwas Organisches sein, das hier leuchtete und den paar Blöcken nachts eine friedliche Tiefseeaura verlieh. Unlängst war allerdings inmitten der Stadt der gewohnte Schein von elektrischem Licht aufgetaucht; die Lampen und der Strom mussten mit den letzten der Transporter gekommen sein, die die Morgenröte aus dem Orbit geschickt hatte. Jetzt haben sie gewonnen, hatte Elvis gedacht, auch wenn mit einiger Regelmäßigkeit noch in anderen Teilen der Stadt der ominöse Glockenton erklang und schillernde Schwaden durch die Luft blies, wohl um die letzten möglicherweise bedrohlichen Reste städtischer Technologie auszumerzen. Nein, hatte Elvis dann gedacht, nachdem er sich an die hilflosen Militärs in den Feldern erinnert hatte, wahrscheinlich haben wir jetzt alle verloren.

Es musste noch früh in der Nacht sein, denn von den sonst oft lauten Vögeln war noch nichts zu hören. Vielleicht war es ein plötzliches Geräusch oder doch gerade diese Stille, die Elvis dazu brachte, sich von der Stadt abzuwenden und einen Blick über die Schulter zu werfen. Auch hier war jetzt ein Licht, irgendwo zwischen den Bäumen hinter seiner Kabine, ein bläulicher Schein, ein Ding wie ein leuchtendes Hirschgeweih oder doch etwas Formloses, gegen das sich nur die Äste der Bäume abhoben. Elvis kauerte instinktiv nieder, doch bei der ersten Bewegung verschwand sofort, was auch immer er gesehen hatte. Eine kleine, warme Windböe blies die üblichen Gerüche des Waldes herbei; danach blieb es still. Elvis saß eine Weile auf dem Boden, bis er beschloss, dass Schlaf jetzt die beste Antwort war.

🌠🌠🌠🌠

Carina war mit den Fortschritten nicht unzufrieden. Es waren Fortschritte, die sie selbst ganz unmittelbar erlebte, die sich im Alltag auswirkten und langsam, aber hoffentlich stetig ausbreiteten. Anstelle der fluoreszierenden Algen und Chemikalien sorgten in der Basis jetzt Generatoren für Licht und Hitze. Nachdem sie sich ausreichend sicher gewesen waren, dass der Gegenangriff nicht mehr kommen würde, hatten sie von der Morgenröte grundlegende elektrische Ausrüstung herbeigeschafft und aus der Basis einen ersten Vorposten in der Stadt gemacht, an dem die gewohnten Annehmlichkeiten wieder zur Verfügung standen. Und das ist erst der Anfang, dachte Carina; schließlich hatten die gewohnten Annehmlichkeiten sie selbst nicht auf ihrem eigenen Planeten halten können.

Um die Basis herum blieb ein breiter Gürtel, in dem sie regelmäßig den Puls zündeten. Sie hatten diesen Gürtel bereits einmal verschoben, um weitere Blöcke in die elektrifizierte Zone aufzunehmen. Noch wurden die Gebäude als Lagerstätten und für die Verwaltung verwendet, doch Carina hoffte, dass bald die ersten Menschen aus der Stadt innerhalb dieser Zone leben konnten. Viele von ihnen kooperierten bereits; sie halfen, die Getreideernte zu organisieren oder den Schrott zu sammeln, den der Puls hinterließ, damit daraus die Rohstoffe für neue Geräte in der Zone und selbst auf der Morgenröte gewonnen werden konnten. Ein großes Lazarett in einem der Blöcke wurde mittlerweile zum Großteil von Leuten aus der Stadt betrieben. In den Betten lagen zwar — abgesehen von einigen ihrer Leute, die sich eine Lebensmittelvergiftung oder ähnliches eingefangen hatten — fast ausschließlich Einheimische, aber Carina fand nicht, dass etwas dagegen sprach.

Natürlich ging es nicht darum, dass hier irgendwer jemandem zu Diensten war. Ganz andere Veränderungen wären vonnöten, bis sie mit den Menschen auf diesem Planeten eine gemeinsame Gesellschaft bilden konnten. Carina hatte bald angefangen, die kooperationsbereiten Stadtmenschen zur Teilnahme am morgendlichen Training ihres Platoons aufzufordern; mit Genugtuung stellte sie fest, dass viele von ihnen am nächsten Morgen nicht wiederkehrten. Eure Entscheidung, dachte sie. Mit größerer Genugtuung sah sie aber, wie das Kind von der Dachterrasse sich pünktlich jeden Morgen unter die Truppen mischte und im Schein der Flutlichter an den Übungen abmühte.

Heute hatte sie sich während der letzten Übung zu dem Kind gestellt; wie die meisten Menschen bemerkte das Kind Carina erst, wenn sie schon da war, und musste dann kurz den Schreck und danach ein Lachen unterdrücken.

„Du musst die Arme anders anwinkeln“, sagte Carina und machte es in der Luft vor. „Sonst geht es auf die falschen Muskeln.“ Keine Ahnung mehr, wie die Muskeln von Kindern funktionieren, dachte sie, aber das Kind probierte die Übung gleich nochmal. „Gut“, sagte Carina.

„Danke“, sagte das Kind.

„Wo lebst du gerade?“, fragte Carina. „Ihr hattet in diesem Block hier gewohnt, oder?“

„Bei meiner Tante“, sagte das Kind und deutete nach kurzer Überlegung in eine Richtung, in der jetzt die Zelte von Carinas Platoon, dahinter der von ihnen besetzte Wohnblock und schließlich die Hälfte der Stadt lagen.

„Wie ist es bei deiner Tante?“, fragte Carina, aber das Kind zuckte nur mit den Achseln. Die Morgenübung war jetzt vorbei, und die anderen aus ihrem Platoon reihten sich vor den Duschen auf. „Möchtest du einen Saft“, sagte Carina.

„Klar“, sagte das Kind und folgte ihr zum Küchenzelt. Der Saft kam zu einem kleinen Teil aus den Gärten auf der Morgenröte und zu einem großen Teil aus dem Molekularmischer, aber falls die Menschen hier Besseres gewohnt waren, ließ sich das Kind zumindest nichts anmerken. Carina musste über sich selbst lächeln. Jetzt will ich schon eine gute Gastgeberin sein, dachte sie. Als würde das gerade eine Rolle spielen. Sie tat sich schwer damit, das Alter von Kindern einzuschätzen, aber als sie selbst in etwa so groß gewesen war, war ihr zunehmend bewusst geworden, dass sie gemessen wurde; nicht nur als Person innerhalb ihrer eigenen Altersgruppe, sondern auch als Kind einer Familie, innerhalb der und für die sie sich behaupten musste. Der richtige Weg musste folglich über all dies hinausführen: Zu den Sternen. Carina hatte noch nicht versucht, den Stern, aus dessen System die Morgenröte gekommen war, am Nachthimmel von Dunhuang Siebzehn zu finden. Sie müsste dafür wahrscheinlich nur Mira fragen, die, wenn sie hin und wieder versonnen in die Höhe schaute, vielleicht zu ihrem alten Planeten zurückblickte.

„Wo willst du hin, wenn du erwachsen bist?“, fragte sie das Kind. „Hast du ein Ziel?“

„Wo ich hin will?“, fragte das Kind irritiert zurück. „Muss ich denn weg?“

„Hm“, sagte Carina, der selbst die Möglichkeit dieser Gegenfrage bisher nie in den Sinn gekommen war. „Wenn du nirgendwo hin willst, was für eine Zukunft stellst du dir für euren Planeten vor?“

„Zukunft“, fragte das Kind zurück, „du meinst, wenn ihr wieder weg seid?“

„Wenn wir wieder weg sind?“, sagte Carina und suchte jetzt etwas nervös den immer noch dunklen Himmel ab, wusste aber nicht einmal, in welchem Sternbild ihr System liegen konnte. „Das ist interessant. Soll ich dich nach Hause bringen? Ich habe etwas Zeit.“

„Okay“, sagte das Kind.

„Du musst mir den Weg zeigen.“

Ich sollte meinen Kampfanzug anhaben, dachte Carina, während sie das Lager verließen, aber der Kampfanzug lag oben im Zelt auf der Dachterrasse. Jetzt trug sie nur ihre beige Uniform, die sie nicht schützte, aber für alle erkennbar machte. Ich muss mir Kleidung machen lassen, wie sie die Menschen hier tragen, dachte sie; etwas Ziviles, auch, wenn es jetzt nur Tarnung wäre. Carina versuchte sich zu erinnern, wie die zivile Kleidung auf ihrem Planeten ausgesehen hatte, aber ihr kamen nur Abstraktionen in den Sinn: Eine Hose, ein Kleid, eine Jacke, Kleidung eben. Auch auf der Morgenröte gab es keine zivile Kleidung, bestenfalls die Overalls, die Leute für dreckigere Arbeiten anzogen. Wieder eine Aufgabe für später, dachte Carina.

„Warte“, sagte das Kind, nachdem sie um eine Ecke bogen, und sah sie eine ganze Weile lang streng an.

„Was ist?“

„Wir nehmen einen anderen Weg.“

Carina zuckte mit den Achseln. „Ich weiß auch so nicht, wo du wohnst.“

„Nee. Einen anderen Weg.“

Carina folgte dem Kind zu einer Garage und einem Treppenhaus hinter einem Lastenaufzug, der jetzt wie alles andere hier außer Betrieb war.

„Hast du etwas zum Leuchten?“, fragte das Kind, während sie in die Dunkelheit des Kellers hinabstiegen.

Ist das eine Falle, dachte Carina. Sie holte einen Leuchtstab aus einer Tasche und schüttelte ihn aus seinem Etui. Das Licht der fluoreszierenden Algen in der kleinen Röhre schien sanft auf die Treppen. Gerade war es grün, aber bald konnte es unmerklich langsam oder auch schnell zu einer anderen Farbe wechseln. Warum und wann die Algen den Farbton änderten und ob dies auf irgendeine Weise mit ihrer Umwelt und also auch den Menschen in ihrer Nähe zusammenhing, hatte noch niemand herausgefunden, aber in den langen, nur von solchen oder größeren Röhren erhellten Nächten auf diesem Planeten hatte Carina wohl schon jede erdenkliche Theorie dazu gehört.

Das Kind öffnete eine Tür am unteren Ende des Treppenhauses. Carina trat in die Dunkelheit. Zuerst sah sie nicht mehr als das Kind in ihrer Nähe und den betonierten Boden unter ihren Füßen; irgendwann meinte sie, eine gegenüberliegende Wand erkennen zu können. Das Kind wirkte nervös. Carina löste den Riemen um den Griff ihres Revolvers und hörte viel zu laut das Klacken des Druckknopfes.

„Okay“, sagte das Kind schließlich.

„Was ist das hier?“, fragte Carina und versuchte, die fehlenden Enden des Raumes auszumachen.

„Die großen Straßen unter der Erde“, sagte das Kind und lief los. „Komm.“

„Aber wozu sind sie da? Wo führen sie hin?“

„Für die großen Wagen, die von draußen kommen. Sie bringen die Sachen in die Stadt, von den Feldern. Glaube ich.“

Natürlich, dachte Carina. Aber warum wussten wir nicht davon? Gut, jetzt weiß ich davon. Die Beleuchtung war erwartungsgemäß defekt, aber bald hatte sich Carina den Rhythmus dieses Tunnels eingeprägt; für jeden Block ein eigener Aufzug, dazwischen eine Kreuzung, ein weiteres Raster, das diesmal unter dieser Stadt lag. Die Stille und das Dunkel um ihren kleinen Kreis aus grünlichem Licht schienen Andächtigkeit zu erzwingen, und so sprachen sie den Rest des Weges kein weiteres Wort.

„Kommt sonst niemand hierher?“, fragte Carina, als sie schließlich über ein anderes Treppenhaus wieder an die Oberfläche stiegen.

„Nee“, sagte das Kind und zuckte mit den Achseln, „wozu auch.“

„Interessant“, sagte Carina. „Danke, dass du mir das gezeigt hast.“

„Ich lerne von dir, und du lernst von mir“, sagte das Kind zufrieden. „Da vorne wohne ich.“

Es war immer noch dunkel, aber in den meisten Fenstern leuchtete irgendeine Kerze oder ein Feuerchen, über dem jemand Frühstück machte.

„Ich muss zurück“, sagte Carina. „Vielleicht besuche ich deine Familie irgendwann.“

„Hast du dir den Weg gemerkt?“

„Das werden wir ja sehen“, sagte Carina.

Sie hatte sich den Weg gemerkt. Wir müssen das sichern, dachte sie, als sie aus dem Treppenhaus in der Nähe der Basis stieg. Die wichtigen der Ausgänge. Sie würde sofort zwei ihrer Einheiten dazu abstellen, dann schnell die anderen Platoons informieren.

Aus den Schlangen vor den Duschen waren jetzt Schlangen vor der Küche geworden. Carina lief die Treppen zur Dachterrasse hoch. „Wir müssen die Karten ergänzen“, rief sie Mira zu, noch bevor sie die letzte Stufe erreichte. „Die ganze Stadt ist untertunnelt. Ich erkläre es dir gleich.“

„Ja, gut“, sagte Mira, die auf der Terrassenmauer sitzend in ihren Bohnen stocherte. Carina holte die Teile ihres Kampfanzugs aus dem Zelt und begann, sich umzuziehen. Ihr Frühstück konnte sie noch essen, wenn sie bereits für den Tag gerüstet war.

„Da“, sagte Mira nebenbei und deutete zum Himmel. „Morgenröte.“

Carina versuchte vergeblich, irgendwo die Formen ihres Schiffes auszumachen; es wäre zwar groß genug, um es vielleicht auch vom Boden aus im Orbit erkennen zu können, aber da war nichts. „Wo?“, fragte sie.

Mira schüttelte den Kopf. „Die Morgenröte. Der Himmel.“

Carina blinzelte. Der Stern des Systems erschien gerade erst als goldener Fleck am Horizont und ließ die Wolken rötlich gegen den Himmel aufglühen. Sehe ich das zum ersten Mal, dachte sie, oder habe ich es einfach nicht verstanden?

🌠🌠🌠🌠🌠

Das mussten die Pilze gewesen sein, dachte Elvis und kratzte mit dem größten der handgefertigten Löffel in der Pfanne mit den gestrigen Essensresten herum. Interessant, ich sollte sie wohl auf eine andere Weise zubereiten. Er spülte die Pfanne im Waschbecken der Kabine aus und ging wieder ins Freie. Es war kühl und etwas neblig, aber nicht mehr allzu früh; nach der seltsamen Episode in der Nacht war er bald in einen tiefen, traumlosen Schlaf gefallen und erst aufgewacht, nachdem es bereits hell geworden war. Über der Stadt stiegen noch die letzten Fäden von Rauch auf, wo Menschen ihr Frühstück über einem Feuer zubereitet hatten. Elvis spürte keinen Hunger, aber eine gewisse Unruhe. Ich nehme meine Arbeit nicht ernst, stellte er fest. Es war nicht so, dass jemand etwas von ihm erwartete. Während seiner Reisen auf der Erde hatte er noch regelmäßig irgendetwas aufgezeichnet; die Menschen auf der Erde lasen das dann gerne, weil es ihnen einen neuen Blick auf ihren Planeten gab, und die Leute auf Elvis’ Planeten blieben neugierig genug, von der Welt jenseits des Portals zu hören, auch wenn sie jetzt selbst ohne Weiteres einen Ausflug dorthin machen konnten. Nach seiner Ankunft auf Dunhuang Siebzehn hatte er nichts mehr geschrieben. Die Zeit war vergangen, während er auf das orange Schiff gewartet hatte; dann war es angekommen, und kurz danach begann die Zeit wieder zu vergehen.

Elvis packte in wenigen Minuten seine Sachen, entfernte wieder das Tuch von der kleinen Lampe vor der Kabine und machte sich auf den Weg hinab in die Stadt. Was auch immer hier passiert ist, dachte er, das ist irgendjemandes Geschichte. Es muss ja nicht meine sein. Das war ja nie der Punkt.

Die Stadt hatte sich erneut verändert. Das bestimmende Geräusch schien, wie Elvis nach einer Weile auffiel, das Kläffen der Hunde zu sein. Es waren sicherlich nicht mehr Hunde als zuvor, aber die Menschen — sofern sie überhaupt draußen waren — schienen nichts mehr zu sagen zu haben, und ihre vielen Geräte waren ohnehin lange verstummt. Elvis sah die Menschen hinter den Fenstern der Häuser oder manchmal vor der Tür, wo sie teilnahmslos ihre Gärtchen pflegten, als würden sie sich für die Nachbarn darum kümmern, während diese verreist waren. Als würden sie selbst gar nicht mehr hier wohnen, dachte Elvis und erinnerte sich an die Siedlungen auf Selene, wo die Menschen aus den Befreiten Sektoren darauf warteten, ob sie irgendwann auf ihre Planeten zurückkehren konnten oder anderswo ankommen mussten; wie beispielsweise Bayan auf Dunhuang Siebzehn angekommen war, Elvis’ Freund aus den Zeiten auf Selene, mit dem er in dessen Werkstatt in dieser Stadt oft genug mit einem Kräuterschnaps oder sonstwas angestoßen hatte.

Richtig, dachte Elvis, ich sollte Bayan besuchen. Obwohl er vermutlich jede dieser Straßen bereits entlanggelaufen war, musste er sich kurz neu orientieren; ohne Menschen und ihre Produkte war beispielsweise der große Markt hier im Süden eben nur eine öde Fläche voller leerer Gestelle. Stattdessen waren neue Markierungen erschienen, wie die Flaggen, die die goldene Armee hier und dort auf den Gebäuden wehen ließ: die Umrisse eines Vogels mit aufgespannten Flügeln vor einer grauen Raute, eine Sonne vor blauem Hintergrund. Die Leute von der Morgenröte hatten schnell gelernt, trotz ihrer wohl noch geringen Zahlen überall zu sein. Elvis sah sie zumeist auf den Dächern der Blöcke, von wo aus sie in die leeren Straßen und Parks hineinblicken konnten; in ihren glänzenden Rüstungen wirkten sie bereits wie Monumente ihrer selbst, nach der erfolgreichen Invasion in der Stadt verteilt.

Er ist nicht mehr hier, dachte Elvis, als er vor Bayans Werkstatt stand, und erschrak zum ersten Mal seit vielen Tagen. Die Schiebetüren der Werkstatt waren wie gewohnt weit geöffnet, doch drinnen war es leer. Die Tische, sonst bedeckt mit ganzen Hügeln aus Bauteilen und diversem Kram, den Bayan zur Reparatur verwendete oder der von anderen Reparaturen übrigblieb, waren jetzt leer, nutzlos im Raum verteilt wie in einem Möbellager und mit dem gleichen Grauschleier aus Staub bedeckt wie der Boden. Elvis trat dennoch hinein. Nachdem sich seine Augen an das Halbdunkel gewöhnt hatten, sah er, dass der Raum doch nicht ganz leer war; Bayan oder jemand anderes musste die nutzlos gewordenen Einzelteile und Gehäuse und Platinen und Werkzeuge irgendwann einfach auf den Boden gewischt und zu einem großen Haufen in einer Ecke zusammengeschoben haben. Elvis wollte bereits wieder gehen, als er in der anderen Ecke Bayan selbst sah, der dort still an einem der Tische saß.

„Bist du auf Wanderschaft“, sagte Bayan, während sich Elvis zwischen den leeren Tischen zu seiner Ecke durchzwängte. Dank seiner Abstecher in die Felder brachte er jetzt tatsächlich mehr in die Stadt mit, als er aus ihr hinausgetragen hatte, und hatte noch aus einem Hemd einen notdürftigen weiteren Beutel knoten müssen. Auf dem Weg hatte er ihn an einem Stock über der Schulter getragen, wie es Leute auf der einen oder anderen Illustration zu einem seiner eigenen Kinderbücher machten. Er legte den Kram auf einen der Tische und suchte einen zweiten Stuhl.

„Wie geht es dir, Bruder“, sagte er, nachdem Bayan und er eine Weile schweigend nebeneinander gesessen und aus der Werkstatt ins Freie gestarrt hatten. Auf dem Platz vor dem Block spielte wie immer jemand Fußball; diesmal waren es nicht nur die üblichen Jugendlichen, sondern auch zwei Erwachsene: Ein großer Athlet und eine vergleichsweise winzige Frau, er in einer beigen Uniform und sie oben nur mit einem Top bekleidet, unten aber noch mit der schweren Rüstung der goldenen Armee, als wäre auf massive Beine der falsche Oberkörper montiert worden. Der Mann stand auf einer Seite des Spielfelds, wo mit zwei Tonnen ein Tor markiert worden war — wohl der Fairness halber viel breiter als das gegenüberliegende Tor, das von einem der Jugendlichen gehütet wurde. Alle waren mit Ernst bei der Sache, aber Elvis war sich nicht sicher, ob die Jugendlichen und die Zwei von der Morgenröte das gleiche Spiel spielten.

„Ist das ein Erdhörnchen“, sagte Bayan, der auf Elvis’ Frage zuvor nur geschwiegen hatte.

„Streifenhörnchen, glaube ich“, sagte Elvis und suchte aus seinem Gepäck ein paar Körner für das Tier heraus, das zu seinen Füßen wartete. „Ich habe Pilze aus dem Wald! Hast du Hunger? Ich könnte etwas Kochen.“

Bayan zuckte nur mit den Schultern. Elvis schaute sich nach Feuerholz um, aber er war natürlich nicht im Wald, auch wenn jetzt die Streifenhörnchen hier waren. „Wie macht ihr hier Feuer?“, fragte er.

„Nebenan Kochen sie für alle“, sagte Bayan. „Später dann.“

„Später dann“, wiederholte Elvis. „Ich war die ganze Zeit oben auf dem Berg. Wisst ihr jetzt mehr? Darüber, was hier passiert ist?“

„Ich weiß gar nichts“, sagte Bayan. Vorher hatte er noch dem Fußballspiel zugeschaut, jetzt sah er mit leicht zugekniffenen Augen Elvis an; er wirkte beinahe verletzt.

Elvis setzte einige Male zu irgendeiner anderen Frage an. „Manchmal“, sagte er dann, „denke ich, dass sich meine Onkel etwas dabei gedacht haben, dass sie die Sache mit dem Portal einfach im Garten verbuddelt haben. Sicher haben sie sich dabei etwas gedacht. Aber jetzt bin ich hier.“

„Jetzt bist du hier, jetzt bin ich hier, jetzt sind diese Leute hier“, sagte Bayan und nickte zu dem Fußballspiel hinüber. „Wie oft soll ich noch vor irgendetwas fliehen müssen? Das hat alles keine Bedeutung mehr.“

„Auf Selene wolltest du nicht bleiben?“

„Bist du auf Selene geblieben?“

Er hat recht, dachte Elvis. Ich hätte bleiben können, im Sumpf, auf Selene, auf der Erde.

„Ich weiß, was du denkst“, sagte Bayan jetzt. „Du möchtest, dass das eine schlüssige Geschichte ergibt, irgendetwas, das man dann erzählen kann, weil das dein Job ist. Aber ich sage dir: Hier ist keine Geschichte mehr. Was soll hier die Geschichte sein? Dass mir überall und immer wieder irgendeine Scheiße passiert? Das ist keine Geschichte, das hat keine Bedeutung. Oder welche Bedeutung soll das für mich haben? Sag es mir.“

„Hm“, sagte Elvis.

Diese Leute“, sagte Bayan und nickte zu den Beiden von der Morgenröte hinüber, „für diese Leute scheint es irgendeinen Sinn zu ergeben, sonst wären sie nicht hier. Sprich doch mit ihnen darüber.“

Das Spiel schien vorbei zu sein; die Jugendlichen hingen nur noch inmitten des Spielfelds herum, wie sie wohl an jedem anderen Ort herumhängen würden, der Soldat machte ein paar Dehnübungen, und seine Kameradin ging den Rest ihrer Rüstung holen. Elvis nahm das Streifenhörnchen von seinem Schoß und setzte es auf dem Tisch ab, bevor er zu ihr hinüberschlenderte.

„Schwester“, sagte er, „kann ich dich was fragen?“

Die Soldatin war noch sehr jung, kaum älter als die ältesten der Jugendlichen, mit denen sie gerade gespielt hatte. Ihr Gesicht war gerötet vom Rennen und braun von der Sonne, mit den letzten Resten eines Sonnenbrands unter dem Haaransatz. Sie schaute eher neugierig zu Elvis hinauf, während sie eine Armschiene anlegte.

„Ich bin auch nicht von hier“, sagte er. „Also aus der alten Galaxis. Ich habe mich gefragt, ob ihr die Gruppe 462 seid? Meine Leute waren Gruppe 418, der Kepler-Exodus. Wir sind eine ganze Weile vor euch losgeflogen, also falls ihr die Gruppe 462 seid.“

„Ah“, sagte die Soldatin, „ich glaube, ich weiß, was du meinst. Aber ich bin auf der Morgenröte geboren, das ist alles so weit weg.“

„Ist das dann quasi dein erster Planet“, sagte Elvis.

„Genau.“

„Und, wie ist es?“

Die Soldatin schaute zwischen den Blöcken und den Menschen auf dem Platz hin und her und wedelte dann schließlich mit der Hand zum Himmel. „Das“, sagte sie, „das macht mich immer noch fertig. Du schaust nach oben und die meiste Zeit siehst du gar nicht, dass es noch weitergeht, das ganze Weltall, da ist einfach diese Farbe. Als wäre es da oben zu.“ Sie dachte eine Weile nach. „Ich möchte eigentlich nur noch nachts raus“, sagte sie und nickte bekräftigend. „So fühlt es sich nicht richtig an. Das geht aber vielen von uns so.“

„Möchtest du überhaupt auf dem Planeten bleiben?“, fragte Elvis.

„Das war ja der Plan“, sagte sie und runzelte die Augenbrauen, als hätte sie sich diese Frage selbst noch nie gestellt. Elvis war einen Moment irritiert. Vielleicht kommen sie gar nicht von einem anderen Planeten, dachte er. Vielleicht haben sie nie einen gefunden, und sind irgendwann wieder umgekehrt, nach all den Jahren. Kann ich sie das fragen?, überlegte er, aber währenddessen war einer der Jugendlichen zu ihnen herübergekommen.

„Entschuldige“, sagte der Jugendliche zu der Soldatin, „kannst du noch einen Schuss machen, mit der ganzen Rüstung? Wir wollen noch mal sehen.“

„Klar“, sagte die Soldatin und montierte das letzte fehlende Teil des Kampfanzugs an ihre Schulter.

„Mit der ganzen Rüstung?“, fragte Elvis.

„Ich hatte jetzt den Mechanismus ausgeschaltet“, sagte sie und klopfte gegen beide Schenkel. „Das ist gutes Training, so. Wie Gewichte an den Beinen.“

„Okay“, sagte Elvis, während die Soldatin in ihrer Rüstung bereits wieder auf das Spielfeld lief. Einer der Jugendlichen rollte ihr einen Ball hin. Der andere Soldat hatte sich in seinem Tor postiert; dann nahm die Frau in der glänzenden Rüstung kurz Anlauf und trat den Ball in seine Richtung. Die Bewegung war zu schnell, als dass Elvis ihr folgen konnte: Er sah nur, wie der Soldat im Tor den Ball mit Ellenbogen und Brust annahm und sich dabei seine Stiefelabsätze ein Stück weit in die Erde gruben. Dann lachten beide; „ziemlich geil“, sagte einer der Jugendlichen, und auch die anderen machten anerkennende Geräusche, aber Elvis ging bereits zu Bayans Werkstatt zurück und setzte sich wieder neben seinen Freund ins Halbdunkel.

„Weißt du, wo sie die Leute vom Militär hingebracht haben könnten?“, fragte er. „Sie hatten welche gefangen genommen, nach der Invasion.“

„Ich weiß nur, was die Nachbarschaft redet“, sagte Bayan.

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Die goldene Armee hatte einen ganzen Block geräumt, um ihre Gefangenen unterzubringen, und noch die acht Blöcke drumherum, in denen sie jetzt ihre eigenen Infrastrukturen unterbrachten. Das war einer der Orte, an denen bereits wieder Elektrizität herrschte: Flutlichter ragten an hohen Pfosten zwischen den Zelten der Armee auf, und in manchen der Zelte selbst sah Elvis Menschen vor irgendwelchen Displays oder Projektionen sitzen. Auf einem der benachbarten Plätze stand einer der großen Transporter, die in den letzten Tagen aus dem Orbit gekommen waren; ein unansehnliches, grobes Ding, das im gleichen Orange gestrichen war wie die Morgenröte selbst und in sonderbarem Widerspruch stand zu den aufwändig dekorierten Rüstungen der Armee. Elvis ging vorsichtshalber direkt auf die ersten Soldaten zu, die am Rande des Camps Wache standen.

„Hey“, sagte er, „habt ihr eine Minute?“ Wie die junge Frau beim Fußballspiel zeigten auch diese Soldaten kein Misstrauen, selbst wenn sie ihre Gewehre schussbereit hielten. „Ist das euer erster Planet?“, fragte er, nachdem sie nichts weiter gesagt hatten.

Einer der Soldaten lachte. „Warum fragst du?“

„Warum lachst du?“, fragte Elvis.

„Unser erster Planet“, sagte der zweite Soldat amüsiert, „unser erster richtiger Planet.“

„Ah“, sagte Elvis. „Seid ihr die Gruppe 462, das alte Kolonieschiff? Meine Leute waren die Gruppe 418, wir sind vor euch losgeflogen. Wir waren auch … isoliert, bis vor ein paar Jahren.“

„Ist das so“, sagte der erste Soldat. „Und wie ist euer Planet so geworden?“

Ich mache einen Fehler, dachte Elvis plötzlich, warum erzähle ich ihnen das überhaupt. „Anders“, sagte er. „Dunkler. Und nass.“

Die Soldaten nickten. „Anders“, wiederholte der Erste.

„Und was machst du jetzt hier?“, fragte der Zweite.

„Das klingt jetzt vielleicht etwas seltsam“, sagte Elvis und fand es tatsächlich seltsam, „aber es gab diese Vermutungen, dass euer Schiff hierherkommt. Berechnungen, von eurer Route. Das wollte ich sehen, passiert ja nicht so oft dass noch andere von den Kolonien zurückkehren.“

„Interessant“, sagte der erste Soldat. „Wirklich interessant.“

„Warst du schon mal auf der Erde?“, fragte der Zweite.

„Ich habe da ein paar Jahre gelebt“, sagte Elvis. „Nachdem ich meinen Planeten verlassen habe.“

„Und? Wie ist sie, die Erde?“

„Wie hier“, sagte Elvis und schaute in den blauen Himmel. „Nein, umgekehrt. Hier ist es wie auf der Erde, das war wohl die Idee.“

„Gut, gut“, sagte der erste Soldat, und wieder nickten beide, als hätten sie eine Aufgabe richtig gelöst.

„Wie war das für dich, als du zum ersten Mal auf die Erde gekommen bist?“, fragte der zweite Soldat.

Was will er jetzt hören, dachte Elvis. Was wollen diese Leute überhaupt? „Wie aus einer alten Geschichte“, sagte er, „nur, dass die Erde eben auch unabhängig davon existiert hat, wie wir uns sie die ganze Zeit aus der Ferne vorgestellt haben, wenn ihr wisst, was ich meine?“

Die Soldaten nickten jetzt auf eine Weise, die Elvis nicht länger besonders affirmativ vorkam. „Können wir dir noch irgendwie helfen“, sagte der Erste.

„Oh“, sagte Elvis, „vielleicht könnt ihr das wirklich. Ich habe gehört, dass ihr die Leute von der Armee hier untergebracht habt. Also von der Armee von diesem Planeten.“

„Was willst du von ihnen?“

„Nicht viel, nur reden. Das ist ein ungewöhnlicher Moment, nicht wahr, und ich möchte sehen, wie alle damit umgehen, nachdem ich hier schon hineingeraten bin.“

Die Soldaten lachten wieder. „Du bist wirklich anders“, sagte der Erste. „Wie dein nasser Planet. Den schauen wir uns aber auch noch an.“

Hoffentlich nicht, dachte Elvis und lächelte höflich.

„Komm mit“, sagte der zweite Soldat, „ich bringe dich hin. Kann aber nicht versprechen, ob du wieder rauskannst.“

Der Block mit den Gefangenen war der erste wirklich verwahrloste Ort, den Elvis seit der Invasion gesehen hatte. Anderswo lag zwar auch einiges in Trümmern, aber früher oder später hatten die Menschen das Ärgste weggeräumt oder irgendwie in ihren neuen Alltag integriert; unterwegs hatte er mehrfach die Gehäuse abgestürzter Drohnen gesehen, die zu Pflanzkübeln für Kräuter oder ähnliches umfunktioniert worden waren. Anderswo schienen die Leute von der Morgenröte selbst den Schrott aufzusammeln, um ihn vielleicht auf ihr eigenes Schiff zu bringen. Schrott war in diesem Block aber auch nicht das Problem; es waren viel eher die Gefangenen selbst, die hier alles verfallen wirken ließen. Elvis kam wieder die seltsame Apathie in den Sinn, die nach der Invasion viele der Militärs im Hauptquartier der Garde zu befallen haben schien. Jetzt war sie in einem Endstadium angelangt. Leute hockten vor den Gebäuden oder lehnten an den Mauern, als wären sie vor zwei Wochen kurz für eine Pause vor die Tür gegangen und hätten dann festgestellt, dass da nichts mehr war, zu dem sie zurückkehren konnten. Niemand sprach, und tatsächlich hatte Elvis sie zuerst nicht bemerkt, obwohl sie viele waren und keine Anstalten machten, sich zu verstecken. Es sagte bereits etwas aus, dass die Armee der Morgenröte zwischen ihrem Lager und diesem Block nicht einmal eine symbolische Absperrung gezogen hatte: So klar musste das Gefälle zwischen beiden Armeen sein, dass den Truppen dieses Planeten nicht einmal zugestanden wurde, irgendeine Bedrohung darzustellen. Die Gefangenen reagierten darauf, indem sie ihr Desinteresse an wirklich allem ausdrückten. Was soll ich hier, dachte Elvis jetzt. Aber ich sollte ihnen zumindest sagen, dass ihr General tot ist, oder wer dieser Mann gewesen war.

Die Leute vor den Gebäuden starrten an ihm vorbei oder durch ihn hindurch. Er suchte nach den Zweien, die ihn aus seiner Wohnung auf das Hauptquartier gebracht hatten, fand sie aber nicht und sprach schließlich den nächsten Soldaten an, der an einer Wand lehnte und müßig mit einer Wasserflasche gegen einen Schenkel klopfte. Er trug noch die Hose seiner Uniform, hatte sich aber — wie viele hier — obenrum bis auf das Unterhemd ausgezogen.

„Hey“, sagte Elvis. „Kann ich hier mit jemandem reden?“

„Kommando ist da hinten“, sagte der Mann und deutete mit seiner Flasche zur Mitte des Blocks.

„Danke“, sagte Elvis und musste auf dem Weg noch drei weitere Menschen fragen, bis jemand tatsächlich auf eine konkrete Tür wies. In der Halle dahinter passierte nicht mehr als draußen; an einem Tischen spielten uniformierte Leute irgendein Würfelspiel, während andere vor den Fenstern lehnten und auf den Platz hinausschauten. Vor einer Wand saß ein magerer Mann und wippte katatonisch vor und zurück. Auf den zweiten Blick erkannte Elvis ihn wieder: Das war der lächelnde Mann, den er bei seinem ersten Verhör im Hauptquartier gesehen hatte und der später den Konvoi befehligte, der in den Feldern dem Puls und den Waffen der goldenen Armee zum Opfer gefallen war.

„Aha“, sagte er, als Elvis auf ihn zukam. „Der Sternenreisende.“

„Bruder, hast du Schmerzen?“

„Ohne mein Implantat“, sagte der Mann und verzog das Gesicht, „bin ich leider nicht klar bei Verstand.“

„Was macht es denn, dein Implantat?“

„Es beschäftigt mich“, sagte der Mann.

„Kannst du dich nicht selbst beschäftigen?“

Der Mann neigte den Kopf und sah Elvis mit tiefer Trauer an.

„Ich weiß nicht“, sagte Elvis, „vielleicht die Fenster von dem Block gegenüber zählen?“

„Dreihundertfünfundsechzig.“

„Die Blumentöpfe?“

„Schon wieder?“

„Wenn’s hilft?“

Der Mann stand mühselig auf. Elvis begleitete ihn zum Fenster und beobachtete, wie seine Pupillen ruckartig die gegenüberliegende Fassade abarbeiteten. „Wie bist du von unserem Konvoi weggekommen?“, fragte der Mann. „Ich habe dich nicht unter den Gefangenen gesehen.“

„Ich bin weggelaufen“, sagte Elvis. „Oh.“ Er suchte aus seiner Hosentasche den Anhänger mit dem Aufzeichnungsplättchen heraus, den er vom Hals des toten Soldaten genommen hatte. „Vielleicht weißt du es schon, aber euer … Anführer ist tot. Ich war bei ihm.“

„Ich weiß“, sagte der Mann und nahm Elvis den Anhänger ab, um ihn sich selbst umzuhängen. „Ich heiße Park Thaeer. Ich bin ein Magister und der Garde zugeteilt.“

Elvis merkte, wie sich das Gesicht des Mannes anspannte. „Jetzt die Fenster nochmal, aber … nur die mit Vorhängen“, schlug er vor.

Der Mann zuckte mit den Schultern und begann erneut zu zählen. „Was passiert außerhalb dieser Blocks?“, fragte er.

„Nichts“, sagte Elvis. „Gar nichts, glaube ich.“

„Natürlich.“

„Der Ort, wo unser Konvoi hinwollte, was ist das?“

„Stützpunkt Acala“, sagte Park. „Eine Festung, tief in den Bergen. Vielleicht haben sie sie noch nicht gefunden.“

„Würde es helfen, wenn ich dich dort hinbegleite? Ist da etwas?“

„In Ordnung“, sagte Park, ohne lange nachzudenken. „Ich weiß vielleicht einen Weg aus diesem Block. Wir müssen zu der Tür rechts an der hinteren Wand.“

Elvis schaute sich hastig im Raum um. „Okay“, sagte er. „Zähl jetzt die Schatten der Stuhlbeine. Die einzelnen, von nur einem Stuhlbein.“

Park drehte sich vom Fenster weg und machte ein paar Schritte in den Raum. „Ist das ein Streifenhörnchen?“, fragte er. „Was macht ein Streifenhörnchen hier?“

„Nichts“, sagte Elvis. „Zähl einfach weiter.“

Vorschau: Im Orbit über Dunhuang Siebzehn findet sich eine neue Front zusammen. Elvis Eric Late und Park Thaeer machen sich auf den Weg nach Acala, und die junge Soldatin beobachtet interessiert, wie der Planet sie stärker verändert als sie ihn.

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Jacob Birken

Writer, researcher. Interested in ideas about history & historicity, and their mediation in arts & pop culture.