Die Kriege der Zukunft [SE01 EP13/14]

Jacob Birken
35 min readMay 16, 2020

Was bisher geschah: Die ersten Truppen der Morgenröte besetzen die Städte auf Dunhuang Siebzehn. Elvis Eric Late wird derweil auf unbestimmten Verdacht hin vom Nachrichtendienst der planetaren Garde abgeholt, und in einem ganz anderen Sternensystem bricht die Galaktische Patrouille in die Strafkolonie auf Gliese Noctis ein.

„Der Konvoi“

Die Panzerglasscheibe klatschte mitten auf dem Boden des Innenhofes auf. Jin Dahl hatte das ganze Paneel einfach aus seiner Verankerung getreten, nachdem er die Gefangenen unten im Hof zu den Seiten gewinkt hatte, und jetzt lag es da, ein großes dunkles Rechteck mit einem feinen Spinnwebmuster. Anita Pastor spürte sofort, wie die schale Luft des Gefängnisses in den Turm strömte. Auch an diesen Geruch erinnerte sich; endlos ein- und ausgeatmet durch die hier eingepferchten Menschen und von irgendwelchen Maschinen gefiltert, die die eine oder andere Bazille entfernten und stattdessen was weiß wer für andere Mittel hinzufügten. Das will ich gar nicht wissen, dachte Anita, obwohl sie nun selbst auf die Belüftungsanlagen der Strafkolonie hätte zugreifen können. Das war eines der Details, die sich mit der Auflösung dieser Anlage erübrigen würden; etwas, das im Nachhinein die medizinische Abteilung der Patrouille untersuchen sollte, um mögliche Folgeschäden bei den Gefangenen zu behandeln.

Jetzt war nicht die Zeit für Details. Nachdem Dahls Nodium ihnen den Zugang auf die gesamten Systeme der Strafkolonie verschafft hatte, sperrten sie zuerst alle anderen davon aus; dann begannen sie, nach und nach die Überwachungs- und Abwehranlagen unter ihre zu Kontrolle zu bringen. Das ging nicht reibungslos, denn wie alles in den Befreiten Sektoren war die Strafkolonie ein Teil oder vielleicht eine Unterfunktion der Integrierten Zivilen Auswertung. Als die Res Publica und die Patrouille auf Gliese Pacifica das Regime abgesetzt hatten und die Kernprozesse der Integrierten Zivilen Auswertung ausschalteten, fiel so gut wie alles von der Verkehrskontrolle auf den Straßen über die Krankenversorgung bis hin zu den digitalen Bibliotheken in den Implantaten der Leute aus; schließlich war es Aufgabe der Integrierten Zivilen Auswertung gewesen, wirklich alle Möglichkeiten der Steuerung und Überwachung menschlichen Verhaltens zusammenzuführen. In der Strafkolonie hatte Dahls Nodium sofort begonnen, die Integrierte Zivile Auswertung aus dem System zu drängen und die Lücken mit eigenen Programmroutinen zu füllen, bis sogar auf den Kontrollpaneelen statt der martialischen Symbole und Wortkürzel des Regimes die sonderbar vieleckigen, schillernden Bedienungselemente auftauchten, die wohl zum Betriebssystem der magischen Scheibe an Dahls Handgelenk gehörten.

„Kannst du nach den Programmen für die Drohnen suchen“, sagte Anita zu einem ihrer Leute, bevor sie sich an das Loch stellte, wo gerade noch die Glasscheibe gewesen war. „Ich bin Anita Pastor von der Galaktischen Patrouille“, rief sie zu den Gefangenen hinunter. „Wir werden diese Einrichtung jetzt auflösen.“

Im Hof versammelte sich zumindest potenziell eine revolutionäre Armee, die dem Wachpersonal in der Strafkolonie zahlenmäßig um ein Vielfaches überlegen war. Wir müssen sie nur mobilisieren, dachte Anita. Als Erstes hatten sie ausgeschaltet, was sich an Waffensystemen und Drohnen ausschalten ließ; dann hatten sie die Türen zu den Zellen geöffnet, die in diesem Gebäude noch verschlossen gewesen waren. Als Nächstes mussten sie in die zentralen Anlagen der Kolonie gelangen, die Gefangenen bewaffnen und die anderen Gefängnisgebäude einnehmen; sie mussten die Drohnen und die Waffen wieder aktivieren, aber so, dass sie diesmal ihnen zu Diensten waren. Und alles davon musste möglichst gleichzeitig geschehen. Zwölf Leute, dachte Anita und schaute über die Schulter in den Kontrollraum, und einer davon ist bereits verwundet. Der angeschossene Agent hing fahl in einem der Sessel, das verletze Bein ausgestreckt; sie hatten die Wunde desinfiziert und dann ein künstliches Fleisch aufgesprüht, das das zerstörte Gewebe notdürftig rekonstruierte, aber die Projektile der Drohnen verbrannten und verstrahlen mehr, als sich mit ihrer Ausrüstung jetzt heilen ließ.

„Ich hab’s“, sagte der Agent am Kontrollpaneel.

„Gut“, sagte Anita. „Womit können wir arbeiten?“

„Die Flugdrohnen. Diese Kisten. Artillerie. Instandhaltung. Die ganze Palette.“

„Die Flugdrohnen. Kannst du das gesamte Personal der Kolonie für sie als Ziele markieren?“, sagte Anita. „Nicht tödlich“, fügte sie nach einem Blick auf den verwundeten Agenten hinzu, der mit zusammengekniffenen Augen ins Nichts starrte.

„Kann ich“, sagte der Agent am Kontrollpaneel grinsend.

„Mach mal“, sagte Anita. „Danach brauchen wir vollen Zugriff auf zwei von den Mobilen Massenbeaufsichtigungseinheiten. Den Kisten. Individuelle Steuerung.“

Der Innenraum des Gebäudes war durch zwei Tunnel mit dem Rest der Anlage verbunden: Einer, durch den die Gefangenen das Gebäude betraten, und einer, durch den sie es verließen. Die Tunnel waren breit und hoch, aber es ging hier nicht um die Bewegungsfreiheit der Gefangenen: Sie waren schlichtweg exakt auf die Größe der Mobilen Massenbeaufsichtigungseinheiten angepasst. Wenn sich beispielsweise zur Essenszeit die massiven Türen des Ausgangstunnels auseinander schoben, war dahinter zuerst nichts mehr zu sehen als eine weitere Wand mit dem Wappen des Regimes, bis sich eine der klobigen Maschinen auf ihren Krabbenbeinen in Bewegung setzte und aus dem Tunnel in den Hof stakste. Einmal macht ihr das noch, dachte Anita, dann habt ihr ausgedient.

Sie drehte sich wieder zu den Gefangenen um. „Wir brauchen zwanzig Leute, die kämpfen können“, rief sie hinunter. „Und wollen.“

🌠

Immer größere Teile der Stadtkarte waren zu unbekannten Gebieten geworden. Der Globus von Dunhuang Siebzehn, der über Seth Reinalds Schreibtisch kreiste, hatte schon seit einiger Zeit jeden strategischen Nutzen verloren: Das Satellitensystem lieferte seit gestern nur fragmentarische Daten, und aus den benachbarten Städten kamen vereinzelte Notrufe, auf die die Garde mit nichts Hilfreichem antworten konnte. Wir haben die Drohnen verschwendet, dachte Reinald. Wir hätten uns aus den Städten zurückziehen und dann aus der Ferne angreifen sollen. Und jetzt haben wir nichts mehr, mit dem wir angreifen könnten. Selbst wenn irgendwo noch Langstreckenwaffen stationiert waren, blieben sie ohne ein funktionierendes Netz unbrauchbar. Machen wir uns nichts vor, dachte er dann. Wer weiß, was diese Pulswaffen wirklich können. So eine Waffe setzt man nicht ein, wenn man nicht mit einem strategischen Rückzug des Gegners rechnet.

Natürlich hatten sie bereits einiges daraus ableiten können, wie die Karten nach und nach blind wurden: welche Reichweite die Pulse hatten und mit welcher Geschwindigkeit sie sich durch die Elektronik fraßen, erst schlagartig und danach schleichend, wenn sie sich über die Netze selbst verbreiteten. Aber wem hilft das, dachte Reinald. In den blinden Flecken auf den Karten waren nicht nur seine Drohnen vom Himmel gefallen; wahrscheinlich starben hier Menschen, und nicht unbedingt — wenn überhaupt — durch die Armee der Morgenröte, sondern bereits dadurch, dass lebenswichtige Implantate oder irgendwelche anderen Systeme ausfielen. Wozu sind wir überhaupt hier, dachte er wütend und schaute schließlich von den verblassenden Karten auf, aber auch von den Gesichtern der anderen Leute in seinem Büro konnte er bestenfalls Ratlosigkeit ablesen.

„Wir gehen da jetzt rein“, sagte er und deutete in die Mitte des größten blinden Flecks. „Die mechanisierte Infanterie. Der Rest bildet einen zweiten Zug.“ Niemand sagte etwas, aber Reinald spürte eine Erleichterung im ganzen Raum; gerade bei den Menschen, die mit dem ersten Zug in eine wohl aussichtslose Schlacht ziehen würden. Dabei wisst ihr es alle besser, dachte Reinald.

„Der zweite Zug?“, fragte Park Thaeer höflich.

„Der zweite Zug“, wiederholte Reinald und verkleinerte den Maßstab der Karte, bis sie die ganze Region zeigte und die lahmgelegten Städte nur noch graue Raster an den Rändern waren. Er suchte mit dem Finger eine Markierung in den Hügeln. „Stützpunkt Acala. Der zweite Zug zieht sich zu Stützpunkt Acala zurück und arbeitet an einer Strategie.“

🌠🌠

Kaffee hatte keine Wirkung auf Carina, und so war sie jetzt vor allem müde. Sie hatten bis tief in die Nacht hinein mit den anderen Platoons in der Stadt kommuniziert, eine endlose Folge von Lichtsignalen über Häuserdächern. Nach ein paar Stunden waren schließlich die großen Landungsschiffe von der Morgenröte gekommen, auf jedem ein gesamtes Bataillon; neben der riesigen Maschine wirkte die Basis, die sie am Abend hier aufgebaut hatten, nur noch wie ein kleines Zeltlager am Fuße eines Felsmassivs. Mit dem Major des Bataillons hatten sie danach lange über den Plänen gestanden, die Mira an ihren Instrumenten erarbeitet und danach mit den Informationen der anderen Platoons abgeglichen hatte. Carina hatte eine Weile in der Dunkelheit zugesehen, wie ihre Kameradin die komplexen Lichtfolgen von einem fernen Dach zu einem neuen Plan übertrug, den auf einem Brett an allerlei Skalen und Gelenken befestigten Stift über fein gerastertes Papier ziehend; später lagen die Pläne ausgebreitet auf einem Tisch im Licht der fluoreszierenden Algen, die sie in großen Glasröhren von der Morgenröte mitgebracht hatten.

Der regelmäßige Aufbau aus kreuzförmigen Blöcken schien es ihnen fast zu einfach zu machen, einen eigenen strategischen Plan über denjenigen der Stadt zu legen. Umso mehr hinterfragten sie jede ihrer Entscheidungen, um nicht an irgendeinem Detail zu scheitern, an etwas, das viel zu offensichtlich war, um gebührend beachtet zu werden. Carina verließ das Kommandozelt erst, als es bereits wieder hell war.

Auf dem Weg zu dem Block kamen ihr ein paar Späher aus dem anderen Platoon entgegen, die die Nacht über irgendwo versteckt Wache gehalten hatten. Carina deutete einen Salut an, und die Späher nickten zurück. Hinter den Visieren konnte sie nicht sehen, ob auch sie so müde waren. Sie stieg die vielen Stufen zu der Terrasse hinauf. Hier war niemand. Carina legte sich auf ihr Feldbett und verbarg die Augen in der Armbeuge. Es blieb trotzdem hell, und warm und still; sie hörte Vögel und Hunde und dazwischen manchmal die Kommandos aus der Basis unten, wo immer noch Ausrüstung aus dem großen Landungsschiff ausgepackt wurde und immer neue Zelte sich an die anderen reihten. Von dem Rasen, der sie nach der Landung gestern so irritiert hatte, war heute nichts mehr übrig geblieben, nur noch Erde und Stiefelabdrücke zwischen den Kisten und Zelten. Schade eigentlich, dachte Carina, das hatte ich noch gar nicht richtig verstanden, aber nach ein paar Sekunden war sie eingeschlafen.

🌠🌠🌠

Der Truppentransporter war eng und langsam und roch nach Lack, als wäre das Fahrzeug zum ersten Mal geöffnet worden. Neu sah er trotzdem nicht aus. Elvis hatte den Nachmittag und den Abend und die Nacht in dem kleinen fensterlosen Raum im Hauptquartier der Garde verbracht; am Morgen war er ein paar Runden um den Tisch gejoggt und danach ein paar Runden in die entgegengesetzte Richtung. Dann hatte er sich gefragt, ob er nicht schon längst einen Aufstand hätte machen sollen und ihn diese Leute einfach hier vergessen hatten, nachdem er gestern immerhin noch eine warme Mahlzeit aus der Kantine gebracht bekommen hatte und irgendwann sogar zu den Sanitäranlagen eskortiert worden war.

Etwas später war doch noch die Soldatin vom Vortag erschienen und hatte ihm, peinlich berührt, ein Tablett mit Frühstück hingestellt, das wohl nicht mehr aus der Kantine, sondern aus irgendeinem Automaten kam. „Reichen dir zehn Minuten zum Duschen“, hatte sie gefragt, bevor er dann viel länger als zehn Minuten auf die Eskorte zu den Duschen wartete. Jetzt saß er mit ihr und ihrem Kameraden und noch einigen Dutzend weiterer Leute in dem Truppentransporter. Aufgereiht auf zwei Sitzbänken vor den langen Wänden der Maschine starrten alle stumm in die Gesichter auf der anderen Seite: Elvis in den Klamotten vom gestrigen Morgen und alle anderen in ihren Uniformen, zwischen ihnen an den Boden des Transporters geschnallt Ausrüstung und graue Taschen mit dem, was die Leute noch an Persönlichem aus dem Hauptquartier mitnehmen konnten.

Der Soldat ihm gegenüber war sehr jung, aber ohne die leicht manische oder zumindest nervöse Energie der ebenso jungen Menschen, die Elvis von der Galaktischen Patrouille kannte. Genaugenommen hatte er nichts mit den Vorstellungen zu tun, die Elvis von einem Soldaten hatte, sondern eher mit jemandem, der nachts irgendwelche virtuellen Realitäten optimierte. Einer von den Drohnenpiloten, wahrscheinlich, dachte er. Tatsächlich wirkte niemand auf diesem Transporter ausgesprochen militärisch, und selbst die Uniformen saßen, als wären sie für jemanden anderen geschneidert. Auf dem großen Hof des Hauptquartiers hatte Elvis den lächelnden Mann gesehen, der bei seiner ersten Befragung durch die Garde mit im Raum gewesen war; jetzt schien er hier die Abreise der Transporter zu beaufsichtigen.

Der andere Teil der Garde versammelte sich weiter hinten im Hof. Hier standen schwer bewaffnete Leute zwischen ihren Fahrzeugen, die Uniformen unter Schichten von Schutzpolstern und Taschen verborgen, ihre Helme eine Masse an Linsen wie der Kopf einer Spinne. Mit den Leuten in diesem Truppentransporter schienen sie so wenig zu tun zu haben wie der bauchige Truppentransporter selbst mit ihren Panzerwägen, grau gestrichenen Keilen zwischen drei riesigen Radpaaren. Dennoch war sich Elvis nicht sicher, ob dieser Unterschied nicht doch nur ein gradueller war, wenn man die Garde ins Verhältnis zu der goldenen Armee von der Morgenröte setzte. Das ist alles ein Fehler, dachte er. Dann hob der Truppentransporter ab und verließ die Anlage. Niemand hatte Elvis gesagt, wohin die Reise ging und weswegen er an ihr teilnehmen musste, aber die Felder, zwischen denen sich der Konvoi aus Transportern und Begleitdrohnen auf sein unbekanntes Ziel zubewegte, hatte er bei seinen Ausflügen oft genug von oben gesehen. Er hatte die Felder gemocht: ein friedlicher Flickenteppich in gedeckten Tönen, der sich zwischen den Städten erstreckte und hier und da wie selbstverständlich Raum für kleine Hügel und Wäldchen ließ. Jetzt fühlte Elvis sich plötzlich schutzlos, als draußen eines der Felder nach dem anderen vorbeizog, mal gelb, mal braun oder golden, aber ohne Aussicht auf etwas, wohin man sich zurückziehen konnte. Er wandte sich wieder von dem runden Fenster ab und merkte, dass ihn der Soldat gegenüber nicht aus den Augen gelassen hatte, oder vielleicht einfach nur noch durch ihn hindurch starrte. Elvis verstand seinen Gesichtsausdruck nicht. Irgendetwas ist mit diesen Leuten, dachte er.

Plötzlich erfasste eine Unruhe die Menschen im Transporter. Jemand deutete zu einem Fenster auf Elvis’ Seite; andere drehten sich um und versuchten, einen Blick auf was auch immer dort war zu erhaschen. Elvis meinte, durch das Fenster gegenüber kurz eine eckige Form zu sehen, die sich gegen den blauen Himmel abhob, aber es ging viel zu schnell. Sekunden später flimmerten vor den Fenstern die Energieschilde des Transporters auf, und Rückstöße und dumpfe metallische Geräusche vibrierten durch das Fahrzeug, als das Geschütz auf seinem Dach irgendwelche Strahlen in den Himmel pumpte. Über den Feldern draußen woben die Abwehrleser der Drohnen ein Netz aus fransigen scharlachroten Linien.

„Sie haben einen erwischt“, rief jemand, „die Drohnen!“, und andere an den Fenstern jubelten und schlugen mit den Händen gegen die Innenwand des Transporters, bis das Kreischen des abstürzenden Fliegers den Krach in der Kabine und selbst den Waffenlärm draußen übertönte; dann schlug die Maschine in der Nähe auf, und erneut füllten Jubel und Klatschen das Fahrzeug. Elvis schaute zu den Zweien vom Nachrichtendienst herüber, die als einzige fast reglos auf ihren Sitzen geblieben waren und müde vor sich starrten. Irgendwann blickte der Mann tatsächlich zu Elvis herüber; sie waren zu weit voneinander entfernt, um im Durcheinander reden zu können, aber wahrscheinlich brauchte zwischen ihnen auch nichts gesagt zu werden.

Aus dem Lärm heraus hörte Elvis einen feierlichen, dumpfen Klang, wie von einer fernen Glocke. Draußen bewegte sich sachte das Getreide. Vielleicht war es nur eine Windböe, doch gleich darauf schwappte Licht durch die Kabine, als wären sie gerade von einer Seifenblase verschluckt worden.

🌠🌠🌠🌠

Lucia fragte sich schon seit ihrer Jugend, welches Hormon ihre Persönlichkeit am ehesten bestimmte. Adrenalin war es nicht. Auf dem Visier ihres Kampfanzugs konnte sie abrufen, was sich allgemein in ihrem Blutkreislauf abspielte; wenn sie wollte, konnte sie über das kleine medizinische Implantat irgendwo in ihrem Körper auch ein wenig daran justieren, aber das ließ sie meistens: Zum einen, weil sie ihrem Körper vertraute, und zum anderen, weil sie ihm misstraute und sich sicher war, dass ihr dann ohnehin die Hormone dabei reinreden und sie sich so nur weiter zum Spielball ihrer Intrigen machen würde („Fatalistin“, hatte eine Freundin auf der Militärakademie dazu gesagt). Jedenfalls konnte Lucia dem vielen Adrenalin des Moments keinen Mehrwert abgewinnen, auch wenn diese Mission ohne es vermutlich kaum zu bewältigen wäre.

Seit sie den Kontrollraum in dem ersten Gefängnisgebäude verlassen hatten, war alles einer strengen Logistik von Handlungsspielräumen unterworfen. Jeder Erfolg ermöglichte eine neue Aktion, alles baute aufeinander auf: Die bereits befreiten Gefangenen mussten bewaffnet werden, um weitere Gefangene zu befreien; erst dann konnten bestimmte Stellungen in der Strafkolonie gehalten werden, damit die Teams der Patrouille weiter in ihre Tiefen vordringen konnten. Nachdem sie eine Krankenstation gesichert hatten, begannen sie, den individuellen Zustand der befreiten Menschen aufzuzeichnen. Das Regime hatte natürlich keine neuen Aufzeichnungen seiner Gefangenen angelegt und alte beschlagnahmt oder sogar vernichtet; die Patrouille konnte es aber kaum verantworten, Menschen in den Kampf zu schicken, die einfach tot bleiben würden, während Lucia, Anita und die anderen in einer etwas veralteten Version wieder auf Callisto aufwachen würden, sobald sie offiziell für tot erklärt werden konnten. Auf der Krankenstation standen allerdings nur ein paar Scanner. Es würde entsprechend Tage dauern, alle der Gefangenen aufzuzeichnen, daher kamen zuerst diejenigen dran, die akut gefährdet oder umgekehrt bereit waren, hier an der Seite der Patrouille zu kämpfen. Viele ließen sich eine Waffe geben, ohne sich aufzeichnen zu lassen. Die Patrouille konnte es ihnen nicht verbieten, und nach einer Weile versuchten sie nicht länger, es ihnen auszureden.

Alle schienen zugleich mitten im Geschehen zu sein und ungeduldig die Fortschritte der anderen zu erwarten. Über allem schwebte die Ungewissheit, was es tatsächlich bedeutete, die Strafkolonie zu befreien, eine Anlage mit Tausenden von Gefangenen auf einem ansonsten so gut wie unbewohnten Planeten. Hoch über Gliese Noctis kreiste derweil eine Flotte der Befreiten Sektoren; es war nicht einmal auszuschließen, dass sie die Strafkolonie einfach aus dem Orbit zu Asche bombardieren würden, falls sie sich als für sie verloren erweisen sollte. Das war nicht wie bei Lucias bisherigen Einsätzen, die vorbei waren, wenn sie eine Spionagezelle ausgehoben oder ein Piratenschiff geentert hatten; hier musste erst ein Krieg gewonnen werden.

Eines nach dem anderen, dachte sie, während sie einer der unheimlichen Maschinen durch den Tunnel aus einem Gefängnisgebäude folgte, hinter ihr die drei Leute aus ihrem Team und zwanzig der Gefangenen, die sie provisorisch mit den Waffen einer überwältigten Wachmannschaft ausgestattet hatten. Das war das letzte der Zellengebäude. Eines der anderen hatte Anita Pastor vollständig geräumt, nachdem sie eines der Außentore der Anlage gestürmt und die Gefangenen einfach ins Freie gelassen hatten; in das leere Gebäude sperrten sie jetzt das Personal.

Die Mobile Massenbeaufsichtigungseinheit war endlich am Ende des Tunnels angekommen und krabbelte in den breiten Korridor dahinter. Hier warteten nur einige der zuvor befreiten Gefangenen und mehrere Drohnen, aber Lucia war gerade keine Vorsichtsmaßnahme zu viel. Sie ließ die Mobilen Massenbeaufsichtigungseinheiten aus beiden Tunneln einen Wall inmitten des Korridors bilden und postierte darum zehn Leute aus ihrer neuen Armee, bevor sie sich mit ihrem Team und dem Rest der bewaffneten Gefangenen auf den Weg zurück ins Zentrum der Anlage machte. „Wir sind soweit“, gab sie per Funk an Anita Pastor durch.

„Gut“, sagte Anita. Lucia sah auf dem kleinen Bild in ihrem Visier, wie die ältere Agentin eine Weile überlegte. „Jetzt werden wir die Kommandantur einnehmen“, sagte Anita schließlich.

Die Kommandantur war schon von Weitem zu erkennen, selbst wenn die monolithische Architektur es auch bei diesem Gebäude schwer machte, die tatsächliche Entfernung oder seine Dimensionen einzuschätzen: Ein Block aus grauem Beton, in der oberen Hälfte durch vertikale Glasstreifen zerteilt, hinter denen sich genauso gut vier oder vierzehn Stockwerke verbergen konnten; in der Mitte als Relief das Wappen des Regimes, Faust und Schwert und Schild.

Lucia war nicht überrascht, als sich das Gebäude aus der Nähe tatsächlich als riesig erwies. Die beiden anderen Teams standen bereits auf dem Platz vor der Kommandantur, hinter ihnen eine Schar von Gefangenen; eine handvoll Figuren in den glatten schwarzen Anzügen der Patrouille zwischen den ausgemergelten Opfern des Regimes in ihren staubigen grauen Uniformen. Anita und Jin Dahl starrten den Betonblock hoch, als Lucia mit ihren Leuten zu ihnen trat.

„Wir verhaften den Kommandanten und besetzen die zentralen Büros“, sagte Anita. „Alles andere kommt später.“ Natürlich war sie selbst wegen allem anderen hier, aber Anita hatte zunehmend die Hoffnung verloren, ihr Nodium in der Strafkolonie wiederzufinden; das war vermutlich von Anbeginn eine Unwahrscheinlichkeit gewesen, unterbewusst vorgeschoben, um diesem Ort ein Ende zu bereiten.

„Was ist der Plan“, fragte jemand von den Gefangenen.

„Für Pläne haben wir keine Zeit mehr“, sagte Anita. „Wir gehen durch die Tür.“

Jin Dahl war als erster am Gebäude. Die ätherischen Tentakel seines Nodiums tasteten nach der Schließanlage, und die großen Flügel der Tür schwangen bereits auf, bevor Dahl die oberste Stufe erreicht hatte.

„Hoch“, sagte Anita, „ganz hoch.“ Sie kannte nur die untere Hälfte des Gebäudes, die ohne Fenster auskam; hier waren die Verhörräume, die Labore, alles, das sich auf höheren Stufen der Geheimhaltung abspielte als die übliche Misshandlung der Gefangenen. Anita hatte mehrere Male bis zum ersten Absatz der monumentalen Treppe hinter dieser Tür steigen müssen, von dem aus grau gekachelte Gänge in diese unteren Abteilungen führten. Diesmal würde sie nicht an dieser Stelle abbiegen.

Die Anzeige in ihrem Helm warnte vor hohen Ozonwerten und anderen atmosphärischen Anomalien. Das Personal der Kommandantur musste sich Gefechte mit den umprogrammierten Drohnen geliefert haben; auch im Treppenhaus waren Einschusslöcher und Brandflecken über die Wände verteilt, und Staub und feine Rauchschwaden hingen in der Luft. Die Leute von der Patrouille aktivierten instinktiv ihre Schilde, als von oben irgendwelche Projektile und Energiebolzen auf sie herab prasselten; offenbar hatte das Personal in diesem Gebäude noch genug Waffen zur Hand, die sich nicht über das zentrale System hatten deaktivieren lassen. Lasst es doch einfach, dachte Anita, während die schimmernde Wand aus Energie sich unaufhaltsam die Treppe hinaufbewegte und alles abprallen ließ, was ihr entgegengeschleudert wurde. Ihr könnt jetzt nicht mehr gewinnen.

„Legt die Waffen nieder“, rief sie noch auf den letzten Treppenstufen. Dann waren sie oben angekommen. In der zentralen Halle hatten sich die verbliebenen Wachleute hinter umgekippten Tischen verschanzt, die sie wohl aus den Büros herausgetragen hatten. Es waren nicht viele, vielleicht zwei Dutzend; durch die halboffenen Türen zu den Büros sah Anita das zivile Personal und irgendwelche Schergen des Regimes hinter provisorischen Barrikaden aus anderen Möbeln kauern. Die Teams der Patrouille suchten routiniert Deckung hinter Säulen, während die Gefangenen sich auf der Treppe einrichteten wie in einem Schützengraben. Lasst es doch einfach, dachte sie wieder, bevor etwas dazwischenkam. Was ist das?, dachte sie. Das ist kein Stress, ich kenne mich gut genug. Etwas geschah, und es geschah nicht nur mit ihr; Anita sah bereits an den Bewegungen von Lucia und den anderen, dass auch sie gerade mit etwas zu kämpfen hatten. Irritiert suchte sie nach einer offenen Flanke zwischen den Tischen, blieb aber mit Gedanken an der Pistole eines der Wachleute hängen. Es waren nicht einmal Gedanken: Die Waffe verlangte nach Aufmerksamkeit. Warum, dachte Anita, was ist daran besonders? Warum fällt sie mir gerade jetzt auf? Sie konnte erst davon ablassen, als die Mündung der Pistole tatsächlich auf sie gerichtet wurde und die Instinkte übernahmen. Anita aktivierte ihren Schild, bevor der Wachmann abdrückte. Jemand aus Dahls Team fiel, von einem anderen Schuss getroffen. Das kleine Symbol mit seinem Namen in Anitas Display wurde rot. Sie starrte eine Weile auf die Buchstaben, bis sie die riesige Pranke von Dahl auf ihrer Schulter bemerkte. „Anita“, sagte er nur über Funk. Seine Stimme klang nicht so präsent wie üblich, ferner, vielleicht: abgelenkt?

„Zurück“, rief Anita. „Zurück, zur Treppe!“ Dann sah sie den Mann, der vielleicht schon die ganze Zeit tiefer in der Halle gestanden hatte; ein Hüne in einer dunklen Uniform und mit einem wunderlich kugeligem Helm aus glänzendem Metall. Er hatte keine Deckung gesucht, sondern stand einfach reglos da, den ganzen Körper leicht nach vorne gekippt und die ausgestreckten Arme nach hinten angewinkelt wie die Galionsfigur eines antiken Schiffs.

Ich weiß es wieder, dachte Anita. Sie kannte diesen Zustand, die irrende, pathologische Konzentration auf irgendwas; da war eine undeutliche Erinnerung an diesen Ort selbst, an die Kammern in den unteren Stockwerken der Kommandantur und endlose Verhöre bei halbem Bewusstsein. Sie war sich zuvor sicher gewesen, dass das die Wirkung oder Nebenwirkung irgendeines Mittels gewesen war, das sie ihnen für die Verhöre verabreichten, aber jetzt war hier dieser Mann mit dem runden Helm und so musste er es auch damals gewesen sein, oder zumindest eine Technik, wie er sie jetzt einsetzte. Neben ihr fielen zwei weitere Leute der Patrouille. Anita sah zu, wie Blut auf den Granitboden lief; dann kauerte Dahl neben dem Verwundeten, den Energieschild zu einer Halbkugel aufgespannt. Die Wachleute schlichen hinter ihren Tischen an bessere Positionen, doch Dahl rührte sich nicht weiter, die Augen hinter seinem Visier vielleicht auf ein unwesentliches Detail fixiert. Jetzt reiß dich zusammen, Jin, dachte Anita, aber starrte selbst nur nutzlos auf den wabernden blauen Energieschild ihres Kameraden. Nein, dachte sie dann, ich bin in Gefahr. Wir sind in Gefahr. Ich muss die Situation verstehen und handeln. Sie riss den Blick von Dahls Schild weg. Der Mann mit dem runden Helm hatte sich nicht bewegt. Anita bemerkte, dass er neben den üblichen Abzeichen auf seiner Uniform noch einen kleinen Schädel angesteckt hatte. Der Schädel war silbern mit stumpfen, bräunlichen Knöpfen als Augen, polierte Steine oder eine bestimmte Legierung. Vielleicht haben wir uns geirrt, dachte Anita. Wir meinten, dass das Nodium zu uns gekommen ist, weil wir auf der richtigen Seite stehen. Aber wer denkt schon, nicht auf der richtigen Seite zu stehen, und wer weiß, was das Nodium denkt. Aus dem Augenwinkel sah sie, wie eine weitere Agentin getroffen zu Boden sank. Dann zuckte der Mann mit dem runden Helm einige Male, fiel zu Seite und blieb nach ein paar weiteren Zuckungen reglos liegen. Neben Anita schwenkte Dahl sein Schild herum und machte einen Satz zu der nächsten der improvisierten Barrikaden. Es dauerte keine zwei Minuten, bis alle der Wachleute überwältigt waren.

Lucia Lem kniete nicht weit von dem Mann mit dem runden Helm. Er atmete noch, aber offenbar hatte ein Schockbolzen aus Lucias Gewehr ausgereicht, ihn fürs Erste außer Gefecht zu setzen. Anita schob nervös die Ärmel seiner Uniform hoch, aber da war kein Nodium.

„Wir müssen ihn fesseln“, sagte sie. „Noch ein Betäubungsmittel, besser.“

„Ja“, sagte Lucia, blieb aber einfach weiter sitzen. Sie hatte die Verspiegelung ihres Visiers ausgeschaltet und wirkte, als hätte sie geweint. „Ich hatte solche Angst“, sagte sie.

„Du hast uns alle gerettet“, sagte Anita. „Wie? Wie konntest du etwas machen? Ich konnte nichts machen.“

„Ich weiß nicht. Ich werde manchmal so nervös, dann mache ich Atemübungen. Also habe ich Atemübungen gemacht. Weil ich solche Angst hatte.“

„Schon gut“, sagte Anita. „Danke.“

🌠🌠🌠🌠🌠

Elvis hatte abgewartet, bis ihn der Menschenstrom schließlich mit aus dem Transporter trug. Die Leute der Garde stolperten ins Freie, desorientiert, nachdem der Puls ihre Implantate lahmgelegt hatte, aber zugleich begierig, draußen in die Kampfhandlungen zu geraten. Elvis hatte keinen solchen Anspruch.

Die klobigen Truppentransporter lagen hintereinander im Acker wie unterwegs verendete Tiere. Sie waren weder besonders schnell noch besonders hoch geflogen, und so hatten sich die Menschen drinnen bestenfalls ein paar Prellungen geholt, als die Maschinen zu Boden stürzten. Elvis suchte den Himmel ab, konnte aber weder weitere der Flieger noch die Drohnen des Konvois sehen. Die Leute von der Garde riefen sich irgendwelche Kommandos zu und organisierten sich zu kleinen Gruppen, die noch unschlüssig und mit ihren wahrscheinlich unbrauchbar gewordenen Gewehren um die Transporter herumstanden.

„Da“, rief jemand. Aus einem Getreidefeld ragte eine eckige Form: Der Flügel der Maschine, die die Drohnen zuvor abgeschossen hatten, plötzlich in seiner ganzen enormen Spannweite erkennbar und nicht länger nur eine Raute am Himmel. Neue Bewegung kam in die Menge; ein Offizier machte hastige Gesten, und mehrere der Gruppen bewegten sich erst voneinander weg und dann in Richtung der abgestürzten Flugmaschine. Das ist es, dachte Elvis, als er den geduckt vorrückenden Leuten hinterherschaute, das stimmt mit denen nicht. Sie glauben, dass sie das gewinnen können, und es ihnen noch Spaß machen wird.

Dann erfüllte ein mechanisches Jaulen die Luft, als hätte jemand in der Nähe einen gewaltigen Bohrer in Gang gesetzt. Am Rande des Felds explodierte das Getreide zu einer gelben Wolke, und im gleichen Augenblick fielen die ersten Reihen der Gardetruppen, nach hinten auf den Ackerboden geschleudert wie von unsichtbaren Fausthieben. Inmitten des Nebels aus Pflanzenfasern sah Elvis eine große Figur, gepanzert wie die Truppen der goldenen Armee, deren Parade er gestern aus der Ferne gesehen hatte; massive Kabel verschwanden hinter ihr im Getreide, während sie in beiden Händen eine schwere Waffe trug, ein Bündel rotierender Röhren, aus deren Mündungen ein unablässiger Strom von Projektilen blitzte. „Gute Güte“, sagte Elvis und rannte hinter das nächste Transporterwrack. Sein Implantat hatte automatisch das Jaulen der Waffe heruntergepegelt; so blieben nur die Rufe der Gardetruppen und das rhythmische Scheppern der Projektile, die gegen die Wände der Transporter schlugen. Ich kann hier nicht bleiben, dachte er. Am Horizont waren noch die regelmäßigen grau-grünen Formen der Wohnblöcke zu sehen. Elvis lief los, dem nächstgelegenen Maisfeld entgegen. Er drehte sich nur einmal kurz um. Hinter einem der Transporter kauerten die Zwei, die ihn gestern abgeholt hatten. Sie schauten ihm hinterher, während auf der anderen Seite der goldene Pilot weitere Gardetruppen niedermähte. Am Himmel waren bereits einige der rautenförmigen Flugmaschinen zu sehen, und aus der Richtung der Stadt stakste eines der sonderbaren zweibeinigen Fahrzeuge durch das Getreide.

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Die Gestaltung der Kommandantur war von außen monumental, von innen aber vor allem unerträglich. Die wandhohen vertikalen Fenster hätten möglicherweise elegant gewirkt, wenn nicht jede der Wände dazwischen mit einem Banner verhängt wäre, oben irgendwelche goldenen Fransen und darunter das allgegenwärtige Wappen des Regimes. Selbst die Kommunikationszentrale wirkte eher bieder als funktional, mit wuchtigen Drehsesseln aus dunklem Holz, die eher vor einen Kamin gehört hätten als vor Kontrollpaneele für interplanetare Übertragungen. Fehlt nur noch der Pelz irgendeines toten Raubtieres, dachte Anita Pastor. Aber vielleicht sollte die muffige Wohnzimmeratmosphäre in den Räumen der Kommandantur eine Alltäglichkeit vortäuschen, die die Strafkolonie für die Verantwortlichen zu etwas Normalem machte. Anita hasste jedes einzelne Detail, von den geschnitzten Schwertern an den Vorderseiten der Sessel über die Borten des Wandbehangs hin zu der unerklärlichen Minibar in einer Ecke der Kommunikationszentrale. Widerwillig nahm sie dennoch in einem der Sessel Platz.

In den letzten Minuten war alles sehr schnell gegangen. Das Personal der Kommandantur hatte sich umstandslos ergeben; die meisten hatten sie zum Rest der Belegschaft in das Gefängnisgebäude gebracht und die wichtigeren mitsamt des Mannes mit dem runden Helm in die Verhörzellen in den unteren Stockwerken der Kommandantur gesperrt. Anita hatte erst einmal keine weiteren Fragen an sie. Jin Dahls Nodium ermöglichte es der Patrouille, über die Sendeanlagen der Strafkolonie Kontakt zu der Denali weit vor Gliese Noctis und über die Relaisstation des Schlachtschiffes auch mit der Basis auf Callisto aufzunehmen. Jetzt war der Moment, um die Befreiung der Strafkolonie auf eine planetare Ebene zu bringen, aber Anita fühlte sich selbst kaum in der Lage dazu, irgendwann überhaupt aus diesem schrecklichen Sessel aufzustehen.

Dahl hatte mit einem zufriedenen Seufzen den Kranz aus roten Haaren und Bart aus seinem Helm entlassen; jetzt deaktivierte er das Exoskelett, und die Stäbe fielen einfach klappernd um ihn herum zu Boden. Er sammelte sie auf wie ein Bündel Reisig und setzte sich im Schneidersitz auf den Boden hinter dem Stapel. Lucia Lem war wie Anita in einen der Sessel gesunken. Dort saß sie, erst beide Hände in die schwarzen Locken vergraben, dann mit geschlossenen Augen den Kopf zurückgelegt, bis sie schließlich noch weiter in sich zusammensank und still zu den beiden anderen schaute. Anita spürte immer noch, wie ihr das Blut in den Ohren pochte. „Wir haben keine Zeit“, sagte sie.

„Was möchtest du jetzt tun, Anita“, sagte Dahl.

Was möchte ich tun, dachte Anita. „Ich möchte jedes Schiff der Patrouille da oben. Wir haben diese Kolonie geholt, wir müssen jetzt diesen Planeten holen, das muss jetzt passieren.“

„Da bin ich ganz einverstanden“, sagte Dahl, auch wenn er anstelle des üblichen lauten Lachens jetzt nur noch ein schmales Grinsen hinbekam.

„Ich mache den Kanal auf“, sagte Lucia und drehte ihren Sessel zu den Kontrollpaneelen.

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Zenon Appiah pflegte gerade einen Bonsai, als er den Anruf vom Flottenkommando verpasste. Appiahs Bonsais standen in dem kleinen Wintergarten vor seinem Haus, und durch die weit geöffnete Tür zur Terrasse kam auch der Lärm des Wasserfalls, unter dem er wohnte. Die Scheiben im Haus und auch im Wintergarten waren gut genug isoliert, um den Krach abzuhalten, aber Appiah mochte es, wenn der Wind die Gischt durch die Tür wehte und sich die Tröpfchen auf dem Holzboden und den Pflanzen verteilten. Um dem Lärm trotzdem zu entkommen, hatte er sein Implantat auf eine schöne Oper eingestellt und merkte also erst etwas später, dass auf dem Display seiner Nachrichtenanlage ein unbeantworteter Anruf gemeldet wurde; die Anzeige von Nachrichten über sein Implantat hatte er abgestellt und sein Datenarmband irgendwo in der Küche verlegt. Appiah hatte diesen Anruf selbst veranlasst und erwartet, aber nicht unbedingt herbeigesehnt. So setzte er sich zuerst einen Tee auf, schloss wieder alle Fenster und wischte mit einem Lappen die feuchten Fußspuren weg, die er selbst im Wohnzimmer gemacht hatte; dann erst aktivierte er die Paneele der Nachrichtenanlage und drückte beinahe schon auf den Rückrufknopf, bis er sich eines besseren besann und zuerst leise im Hintergrund die schöne Oper laufen ließ.

„Danke für deinen Anruf“, sagte er als erstes, nachdem die Projektion des Vizeadmirals in seinem Büro vor ihm erschien.

„Commodore Appiah“, sagte der Vizeadmiral.

„Ich bin es“, sagte Appiah und lächelte freundlich. Der Vizeadmiral trug natürlich die passende Uniform für sein Büro, während Appiah die passende Robe trug, um an einem milden Morgen seine Bonsais zu pflegen. Seine eigene Uniform hing in einem Wandschrank; es gab bestimmte Regeln, auf welche Weise er sie auch in seinem Ruhestand tragen durfte, aber er hatte diese Regeln sofort vergessen, nachdem er die Uniform in den Schrank gehängt hatte.

„Commodore Appiah“, wiederholte der Vizeadmiral sachlich. „Es wurde entschieden, ihnen das Kommando über die Sagarmatha und Elbrus zu übertragen. Die Übergabe wird voraussichtlich in fünfzehn Tagen erfolgen, wenn die Flotte im System Dunhuang die Lichtgeschwindigkeit verlässt.“

Appiah nickte und ging in die Küche, um das voraussichtliche Datum in seinen Kalender einzutragen. Als er zurückkam, war der Vizeadmiral noch da. Appiah setzte sich und goss sich eine Schale Tee ein. „Was sind die Neuigkeiten“, sagte er.

„Wir haben jeden Kontakt mit Dunhuang Siebzehn verloren“, sagte der Vizeadmiral. „Keines der Portale ist erreichbar.“

„Dann wissen wir in fünfzehn Tagen vielleicht, was passiert ist“, sagte Appiah. Er hatte die wenigen Aufnahmen gesehen, die vor der Invasion gesendet worden waren: Nichtssagende Lichteffekte und ein paar Ansichten des gewaltigen orangen Schiffs, dass ganz auf sich gestellt alles ausschaltete, was sich im Orbit um den Planeten befand. Vor ein paar Jahren hatte dieses Schiff eine kleine Kolonie überfallen und menschenleer zurückgelassen; was sie mit einem ganzen Planeten machen würden, war nicht abzusehen. Noch fünfzehn Tage, in denen ich mich nicht damit zu beschäftigen brauche, dachte Appiah.

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Eigentlich haben wir das gewusst, dachte Lucia. Alle wussten um das Zeitfenster, in dem das gespenstische Schiff vor Dunhuang Siebzehn auftauchen konnte. In den ganzen Jahren seit Selene hatte die Galaktische Patrouille ein paar Leute in ihren Laboren an die von der Gandiva geborgenen Geräte gesetzt, um die rätselhafte Waffe der Morgenröte zu entschlüsseln; dass das nirgendwohin führte, hätte ein Anlass für eine andere Strategie, für andere Vorkehrungen sein müssen. Aber die Morgenröte war viel zu lange ein Phantom geblieben, und es gab genug andere, offensichtliche Probleme. Als sie vor einer Weile mit Duncan gesprochen hatte, war ihr ein Angriff auf Dunhuang Siebzehn ungleich illusorischer vorgekommen als ihre eigene Mission auf Gliese Noctis. Jetzt saß sie in der Kommandozentrale der Strafkolonie und Duncan war — wie der gesamte Planet — nicht mehr zu erreichen. Dabei ist doch der Punkt der Patrouille, die Menschen nicht im Stich zu lassen, dachte Lucia. Sie drehte den Sessel wieder zu den beiden anderen. Jin Dahl sah über sie hinweg durch das große Fenster der Kommandozentrale; selbst auf dem Boden sitzend war er noch einen halben Kopf größer als sie im Sessel. Lucia konnte nichts aus seinem Gesicht ablesen. Er ist einfach weg, dachte sie.

Anita Pastor saß mit ihrem Helm auf dem Schoß im Sessel und starrte auf die eigenen Fußspitzen. „Und wir können nichts tun“, sagte sie, „gar nichts.“

Mittlerweile waren einige der anderen Leute der Patrouille in den Raum gekommen und flüsterten einander die Neuigkeiten weiter. Anita schob sich eine Haarsträhne hinter das Ohr und legte dann beide Hände wieder auf ihren Helm. „Spricht etwas dagegen, die gesamte Flotte unserer Patrouille an diese Front hier zu holen“, sagte sie. „Bitte sagt es mir.“

Lucia überschlug kurz, wie weit Dunhuang Siebzehn vom nächsten Portal entfernt war. Es half nichts. Alle Portale im selben Sternensystem waren auf die Station im Orbit des Planeten ausgerichtet und entsprechend selbst nicht erreichbar; Sicherheitsmechanismen, die sonst davor schützen sollten, dass ein Portal von anderswo angesteuert und gewissermaßen gekapert werden könnte, trugen jetzt nur dazu bei, Dunhuang Siebzehn aus der interplanetaren Gemeinschaft auszusperren. Das nächste besiedelte Sternensystem war Lichtjahre entfernt, die nächste Flotte der Res Publica zumindest noch Wochen. Und selbst wenn diese Flotte ihr eigenes Portal vor Dunhuang Siebzehn eröffnen und der Vijaya und den übrigen, ohnehin nicht allzu vielen Schiffen der Patrouille einen Weg bereiten konnte wie hier vor Gliese Noctis, sagte dies noch nichts über ihre Chancen angesichts der Wunderwaffe der Morgenröte aus. Heute konnte niemand Dunhuang Siebzehn helfen. Lucia schüttelte den Kopf und sah, dass auch Dahl seinen fast unmerklich gesenkt hatte, genug, um seine Resignation in dieser Sache zu signalisieren.

„Also gut“, sagte Anita in Richtung des Kontrollpults, über dem die ganze Weile geduldig das Hologramm eines der Nachrichtenoffiziere der Patrouille auf Callisto schwebte. „Ich möchte eine Mobilisierung der gesamten verfügbaren kampftauglichen Schiffe der Patrouille beantragen, für einen sofortigen Angriff auf die Flotte der sogenannten Befreiten Sektoren über Gliese Noctis.“

„Ich unterstütze diesen Antrag“, sagte Dahl, jetzt wieder mit der gewohnt lauten Stimme.

Anita spürte wieder ihren Zorn auf die Strafkolonie aufwallen. Alles Übel verschwor sich miteinander, selbst wenn nur dadurch, dass es Aufmerksamkeit auf sich zog, die anderswo genauso dringend gebraucht wurde. Erst Gliese Noctis, dann Dunhuang Siebzehn, dachte sie. Erst das, wo wir eine Chance haben. Es war nie anders gewesen.

„Ich werde den Antrag sofort weitergeben“, sagte der Offizier.

„Danke“, sagte Anita. „Wir warten hier auf die Entscheidung.“ Natürlich war die Entscheidung schon längst getroffen; Aleph würde sicherlich kein Veto einlegen, und niemand mit einem Kommando über eines der Schiffe der Patrouille ihren Hilferuf verweigern.

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Die Rauchsäule schraubte sich in einem ungesunden Gelbton in den Himmel. Elvis lief ihr einfach entgegen, wie er in gewöhnlichen Zeiten auf einem Spaziergang einem interessanten Baum oder einem Hügel entgegenlaufen würde, von dem aus vielleicht etwas Neues zu sehen gewesen wäre. Die Stadt war über Nacht stiller geworden, oder vielleicht sogar lebloser. Schäden an Gebäuden und Anlagen, die sonst sicher schnell behoben oder zumindest irgendwie markiert worden wären, blieben jetzt unangerührt: einmal lag eine Drohne mitten auf einem Parkweg, anderswo war ein Gleiter in eine Fassade gestürzt; hier und da waren Wohnungen oder Kneipen ausgebrannt, vielleicht nicht einmal als Gewaltakt, sondern weil die Löschanlagen nicht mehr angegangen waren. Auch die goldene Armee hatte Spuren hinterlassen; die Abdrücke der Reifen ihrer Fahrzeuge, die Hufe der zweibeinigen Maschinen und die neuen Pfade, die ihre Truppen durch die Grünanlagen gezogen hatten, als sie zu Dutzenden über die Rasenflächen marschierten. Auf seinem Weg durch die Straßen hatte Elvis bisher niemanden von ihnen gesehen, aber verlassen war die Stadt nicht. Leute saßen auf Balkonen oder Dächern und schauten teilnahmslos hinab oder in die Ferne, als wäre das nicht länger ihr Wohnort, oder als ließen sich die Straßen und unteren Stockwerke nicht länger nutzen, vielleicht durch eine Flut oder ein anderes Desaster unbrauchbar gemacht.

Die Quelle der Rauchsäule musste jetzt hinter dem nächsten Block sein. Einige Menschen auf einem Hausdach gaben Elvis mit Gesten zu verstehen, dass er sich fernhalten sollte, aber zuckten nur mit den Schultern, als er einfach weiterging. Vorhin bin ich noch weggelaufen, dachte er. Wahrscheinlich sollte ich wieder weglaufen. Aber vielleicht sollte ich erst sehen, wovor ich weglaufen muss.

Zwischen den Häuserblocks öffnete sich hier ein weiterer der vielen Parks dieser Stadt. Dies war einer der gewöhnlich etwas aufgeräumteren; gewundene Kieswege verbanden niedrige Pavillons mit allerlei Geschäften, zwischen ihnen kleine Inseln aus hohem Bambusgras. Elvis hatte hier einmal einen Kuchen gegessen und ein andermal länger in einem Sortiment handgefertigter Löffel gestöbert, nachdem ihm eingefallen war, dass er Charles und Maria und Stella irgendwas von dieser Reise mitbringen sollte. Wie alles in diesem Sinne auf Dunhuang Siebzehn Hergestellte waren diese Löffel aber für den Planeten am ehesten dadurch repräsentativ, dass sie auf jedem anderen Planeten in originellerer Version zu finden waren. Elvis hatte dann einige für den eigenen Gebrauch geholt und beschlossen, sich später und länger Gedanken über ein Mitbringsel zu machen.

Jetzt war der Stand mit den Löffeln verlassen wie alle der übrigen Pavillons. Aus einem der Gebäude quoll der scheußliche gelbe Rauch, doch bei genauerer Betrachtung erkannte Elvis darin die Formen eines der Militärfahrzeuge, die nicht in seinem Konvoi mitgefahren waren. Auch weitere der Maschinen waren in dieser Hälfte des Parks verteilt; um sie herum kauerten die Leute von der Garde in ihren wuchtigen Kampfmonturen. Es waren nicht mehr viele.

Wann haben wir den größten Fehler begangen, dachte Seth Reinald, den wichtigen, der sie in diese Situation gebracht hatte. Wahrscheinlich vor Wochen, oder vor Monaten. Im Augenblick schienen sie ein Patt erreicht zu haben, aber Reinald und wahrscheinlich allen übrigen war bewusst, dass die Gegenseite dem Ganzen schnell ein anderes Ende bereiten konnte. Der Puls hatte ihre Fahrzeuge und die meisten der Waffen und Ausrüstung unbrauchbar gemacht; jetzt blieben ihnen nur noch ein paar der robusten Flinten, die ohne Elektronik auskamen. Sie waren allerdings eher für den Häuserkampf gedacht und nicht für ein weitgehend offenes Feld wie diesen Park.

Auf der Gegenseite schien es nicht anders auszusehen. Reinald hatte bereits viele seiner Leute an die Nagelgewehre der feindlichen Truppen verloren, aber auch das schienen keine Präzisionswaffen zu sein. So bleiben jetzt beide Seiten in Deckung und warteten, ob sich die anderen zu einem waghalsigen und wahrscheinlich selbstmörderischen Angriff ins Freie trauten. Reinald war sich jedoch sicher, dass das Warten für die Gegenseite etwas ganz anderes bedeutete als die für die Überlebenden seiner Einheiten.

Das ist es jetzt, dachte er, als sich zwischen den Häuserblocks zu seiner Rechten etwas bewegte. Das war nur eine Frage der Zeit gewesen, bis sie eingekreist werden würden. Reinald hatte seinen Helm abnehmen müssen, nachdem die komplexe Optik des Visiers ihn blind zurückgelassen hatte; eines der Objektive hatte er abgeschraubt und mit Klebeband an seiner Flinte befestigt. Sorgfältig suchte er die Fassaden und Vorgärten nach dem verräterischen Glänzen der feindlichen Kampfanzüge ab, bis er schließlich zwischen ein paar Stauden eine Figur entdeckte. Der Mann war ein Zivilist und auch nicht wirklich versteckt.

„Nein“, sagte Reinald laut, als er ihn durch das Objektiv erkannte.

„Was?“, fragte ein Offizier, der neben ihm hinter dem Kampfwagen kauerte.

Reinald konnte nur einen halben Fluch in seinen Kragen murmeln. Er hob einen Arm, um den Mann in der Ferne auf sich aufmerksam zu machen. „Der zweite Konvoi“, rief er, „wo ist er?“

Der Mann schüttelte nur den Kopf.

„Das war’s“, sagte Reinald und ließ sich mit dem Rücken gegen den großen Reifen seines nutzlosen Kampfwagens sinken.

Elvis stand noch eine Weile an der Ecke, aber dass er dort bisher nicht erschossen worden war hieß nicht, dass das nicht jeden Moment passieren konnte. Er ging wieder auf die andere Seite des Blocks und suchte ein Treppenhaus.

„Kann ich vorne bei euch auf den Balkon“, rief er durch ein Fenster, nachdem er in einem der oberen Stockwerke ein paar Menschen in einem Wohnzimmer gesehen hatte.

„Ist ja deine Sache, ob du erschossen werden willst“, rief jemand zurück.

„Und wir haben dann eine Leiche auf dem Balkon“, sagte jemand anderes.

„Also“, sagte Elvis nach einer Weile, „kann ich jetzt?“

„Dann räume ich ihn halt später weg“, sagte jemand, und nachdem alle bitter gelacht hatten stieg Elvis schließlich die Treppe zum Balkon hinauf und ließ sich durch eine kleine Gittertür selbst hinein. Von hier aus sah er nicht nur die Leute von der Garde, die sich hinter ihren Fahrzeugen verschanzt hatten, sondern auch hinter den Fenstern und Ecken der Pavillons manchmal die Rüstungen der goldenen Armee aufblitzen; aus dieser Perspektive wirkte die Situation noch absurder, als wären die Menschen unten vorsätzlich auf einem Spielfeld verteilt worden. Die übrigen Leute in den Blocks hatten sich wohl in die Tiefen ihrer Wohnungen zurückgezogen, doch nach einer Weile sah Elvis auf einem der gegenüberliegenden Dächer etwas funkeln. Als er mit seinem Implantat hineinzoomte, entdeckte er einen der Soldaten von der Morgenröte, der sich in der Ecke eines Dachs positioniert hatte, eher nachlässig hinter ein paar Farnen verborgen. Sein langes Gewehr hielt er gesenkt vor sich und hatte seinen Helm neben sich auf dem Boden abgelegt; kurz hatte Elvis das Gefühl, dass der Mann ihn aus der Ferne gesehen hatte und ihm knapp zunickte. Offenbar fand er es nicht nötig, in das Geschehen unten einzugreifen, aber der Ausgang dieses Kampfes war wohl bereits entschieden.

Irgendwann kam ein älterer Mann aus der Wohnung, um sich neben Elvis auf den Balkon zu stellen. Soll ich ihn warnen?, dachte Elvis, entschied sich aber dagegen; vermutlich hatte die goldene Armee weitere der Dächer besetzt, und alles, was er jetzt noch tat, würde ihn und andere in Gefahr bringen.

„Geht das da unten schon länger“, fragte er schließlich, nachdem der Alte und er eine Weile schweigend in den Park hinab geschaut hatten.

„Stunden“, sagte der Mann. „Oder so.“ Elvis nickte.

„Wo kommst du her?“, fragte der Mann nach ein paar Minuten.

„Acht, neun Blocks weiter im Süden“, sagte Elvis, obwohl er sich nicht sicher war, ob die Frage so gemeint war. „Wir haben unten diesen Springbrunnen, aus den großen Halbkugeln, in der Mitte vom Park.“

Der Mann kniff die Augen zusammen. „Ja“, sagte er und nickte.

„Ich war bei einem anderen Konvoi vom Militär dabei“, sagte Elvis eine Weile später. „Aber wir wurden auch überfallen.“

„Und da sind wir jetzt“, sagte der Mann.

Irgendwann erschien eine der zweibeinigen Maschinen zwischen den Häuserblöcken auf der anderen Seite. Zielstrebig stakste sie die Pfade entlang, die Beine immer etwas zu weit auseinander, um auf dem Kies zu bleiben. Sie blieb in der Nähe des qualmenden Fahrzeugwracks stehen; falls sich eine imaginäre Linie zwischen den beiden Parteien auf dem Feld hätte ziehen lassen, hatte die Maschine exakt vor ihr halt gemacht.

„Wie wäre es“, rief jemand aus einem der Pavillons, „wenn wir das hier jetzt beenden? Vielleicht möchte das jemand von euch mit jemandem von uns ausmachen. Oder ihr legt gleich die Waffen nieder.“

Die Leute von der Garde schienen alle nur noch kleiner geworden zu sein, doch schließlich stand einer von ihnen auf und lief langsam auf die andere Seite zu. Erst jetzt erkannte Elvis den Mann, der ihm vorher etwas zugerufen hatte; das war der Offizier der Garde, der ihn vor ein paar Tagen verhört und gestern noch hinter seinem Schreibtisch im Hauptquartier gesessen hatte.

„Ich gehe wieder rein“, sagte der Alte leise und verschwand vom Balkon.

Auch auf der anderen Seite machte sich ein Soldat auf den Weg. Der Offizier der Garde und sein Gegenüber trafen sich irgendwo in der Mitte mit wenigen Metern Abstand. Jetzt wirkte der Offizier nicht mehr klein, auch wenn die beiden weiterhin unvereinbar erschienen: Hier der Militär in seinem graubraunen Kampfanzug, dort der Krieger in der wunderlich verzierten Rüstung, der aus den Untiefen der Galaxis kommend ausgerechnet auf diesem Planeten gelandet war. Warum schaue ich mir das an, dachte Elvis, während die Männer unten ihre Kampfmesser zogen, doch es war vorbei, bevor er überhaupt eine Antwort auf diese Frage suchen konnte; die zwei Widersacher hatten nur ein paar Finten ausgetauscht, bevor der Soldat der Morgenröte einen überraschenden Ausfall machte und den Gardeoffizier niederschnitt. „Noch jemand?“, rief der Soldat, während sein Gegner erst auf die Knie sank und dann zur Seite fiel. Niemand antwortete, doch nach und nach kamen die Menschen auf beiden Seiten aus ihrer Deckung. Es dauerte nicht lange, bis sie alle den Park verlassen hatten: Die Leute von der Garde mit den Händen hinter dem Kopf, hinter ihnen die Truppen der goldenen Armee und ihre langbeinige Maschine. Als Elvis wieder zu dem gegenüberliegenden Dach hochschaute, war auch der Scharfschütze verschwunden. Der alte Mann stand hinter der Glastür zum Balkon im Dunkel seiner Wohnung. „Ich muss runter“, sagte Elvis.

Die Uniform des Offiziers glänzte vom ganzen Blut, mit dem sich der Stoff vollgesogen hatte. Er lebt noch, dachte Elvis, als er sich neben ihn hinkniete, aber als der Mann nach seinen Schultern griff und versuchte, sich aufzurichten, kam aus dem breiten Schnitt über seinen gesamten Torso nur ein neuer Schwall Blut. Elvis half ihm trotzdem zur nächsten Parkbank hinüber. Der Mann schaute ihn verständnislos an, während Elvis versuchte, die Wunde zusammenzuhalten und gleichzeitig irgendeinen Sprühverband in den unzähligen Taschen seiner Uniform zu finden. „Was machst du hier“, sagte der Offizier, aber dann hörte er auf zu atmen.

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„Was ist mit dir?“, fragte Mira, nachdem Carina länger nicht auf eine nebensächliche Frage geantwortet hatte.

„Wann hast du zuletzt geschlafen?“, fragte Carina.

„In der Nacht“, sagte Mira sachlich. Carina erinnerte sich, dass ihre Kameradin tatsächlich nur kurz bei der gestrigen Besprechung gewesen war, um ihr Kartenmaterial vorzustellen; danach war sie wohl auf das Zelt auf der Dachterrasse verschwunden und dort eingeschlafen, weil das schließlich das war, was man nachts machte. Carina selbst hatte normalerweise kein Problem damit, mehrere Tage und Nächte durchzumachen, aber die aktuelle Situation brachte schließlich viel mehr durcheinander als nur ihre Schlafzyklen. Das meiste an dieser Invasion schien mittlerweile Logistik zu sein. Sie hatten anhand der Pläne ausgearbeitet, welche der Blöcke vollständig besetzt werden mussten, und anderswo nur Teile der Gebäude geräumt und Einheiten auf Dächern oder an wichtigen Kreuzungen positioniert. Die Stadt war riesig, um ein Vielfaches größer als jede Siedlung, die Carina von ihrem Planeten kannte, aber ihr Aufbau schien es einfach zu machen, sie mit einem einzigen Regiment unter Kontrolle zu bringen.

Die Menschen hatten sich ohne Widerstand aus ihren Häusern vertreiben lassen, aber Carina verstand langsam, dass sie wohl ein anderes Verhältnis zu Autoritäten hatten: Nachdem sie sie als eine der Verantwortlichen erkannt hatten, kamen die Leute immer wieder zu ihr, um irgendeine Verantwortung auch einzufordern. Der Puls hatte vieles an der städtischen Infrastruktur lahmgelegt, das den Alltag erst ermöglichte; wann würde dies und jenes wieder funktionieren, wann gäbe es überhaupt wieder Elektrizität, und wer kümmerte sich überhaupt? Anfangs hatte dies Carina außerordentlich irritiert. Sie hatte die Menschen dann mit einer knappen Bemerkung abgebürstet, dass das jetzt eben so sei. Als sie zum zehnten Mal jemand fragte, wo man denn bitteschön Wasser kochen könne, wurde ihr schließlich klar, dass sich solche Probleme nicht von alleine lösen und die Menschen in der Stadt nicht von heute auf morgen einige Tausend Jahre industrieller Entwicklung nachvollziehen würden, um ohne jegliches funktionierende Werkzeug wieder auf den Stand der Gegenwart zu kommen. Das ist jetzt ein gemeinsamer Prozess, sagte sie ab diesem Moment und kassierte später von den Balkons und Terrassen aus ironische Blicke von den Leuten, die dort über den Resten ihrer Holzmöbel oder irgendwelcher Bäume Wasser aufkochten, um sich überhaupt eine warme Mahlzeit oder ein Bad bereiten zu können. Aber es stimmt ja, dachte sie. Die Menschen aus dieser Stadt hatten gutes Recht, Forderungen an sie und ihre Leute zu stellen. Es ging jetzt nur darum, geeignete Formate für diese Forderungen zu entwickeln. Wir sind ja nicht die Nothilfe, dachte sie, aber wir können das hier gemeinsam neu anfangen. Zuerst nach unseren Regeln, aber gemeinsam.

„Wir können hier eine neue Zivilisation entwickeln“, sagte sie zu Mira, nachdem sie eine Weile in das künstliche Tal aus begrünten Betonschachteln hinab geschaut hatte.

„Was ist eine Zivilisation?“, fragte das Kind. Carina schrak etwas zusammen. Mira und sie hatten sich mit ihren abendlichen Rationen auf die Terrasse vor ihrem Zelt gesetzt, mit dem Rücken zum Treppenhaus; aber auch alle anderen in dem Gebäude mussten das Kind schon wieder übersehen oder bewusst ignoriert haben. Interessant, dachte Carina.

„Eine Zivilisation ist, wenn sehr viele Menschen nach guten Regeln zusammenleben“, sagte sie. „Und wenn sie immer weiter an den Regeln arbeiten, damit das Zusammenleben besser wird. Damit es für alle Bedeutung hat.“

„Okay“, sagte das Kind, das schon irgendwo in der Hälfte des zweiten Satzes ungeduldig geworden war. „Und was macht ihr daran jetzt neu?

Carina musste lächeln. „Ich denke, ihr habt hier ein gutes Leben gehabt. Aber wahrscheinlich ging es euch schon so lange gut, dass ihr vergessen habt, dass es nicht immer so sein muss, dass ihr bereit sein müsst, für euer gutes Leben zu kämpfen.“

„Ihr hättet ja nicht herkommen müssen“, sagte das Kind, „Dann wäre alles gut geblieben.“

„Vielleicht sind wir gerade deswegen hier. Damit wir von euch lernen, wie man ein gutes Leben lebt, und damit ihr von uns lernt, wie man dafür kämpft.“

„Meinst du“, sagte das Kind, noch nicht ganz sicher.

„Möchtest du einen Keks“, sagte Mira, die die ganze Zeit weiter in den Park unter ihnen geschaut hatte, und jetzt dem Kind das geöffnete Päckchen mit dem Nachtisch aus ihrer Ration hinhielt.

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In seinem Block war es nun still. In den Fenstern waren weitere Barrikaden hinzugekommen, und manchmal sah Elvis, wie sich irgendwer im Inneren der Häuser rührte, aber auf dem Weg hatte er keine der Rufe zwischen den Stockwerken mehr gehört, wie sie am Morgen zuvor alle anderen Kommunikationsformen ersetzt zu haben schienen. Vielleicht wissen die Menschen jetzt genug, um sich einfach nur verstecken zu wollen, dachte er. In seiner Wohnung war alles genau so, wie er es zurückgelassen hatte. Ich stinke, dachte Elvis, ich stinke nach Tod. Der Geruch vom Blut und Eingeweiden hatte ihn bis hierher begleitet, aber erst in der Wohnung wurde ihm klar, dass er selbst ihn die ganze Zeit mit sich trug, dass das alles noch an seinen Händen klebte und über seine Kleidung verschmiert war. Der Stern stand nicht mehr hoch genug, um die Wohnung ausreichend zu beleuchten, und Elvis stolperte im Halbdunkel in das Bad und unter die Dusche. Die Armatur war mechanisch, und er ließ das Wasser über sich strömen, bevor er noch die Kleidung ausgezogen hatte. Hoffentlich reicht es, dachte er. Hoffentlich ist das nicht auch schon kaputt. Aber das Wasser lief weiter. Elvis schrubbte eine Ewigkeit seine Hände, nachdem er die nasse Kleidung auf den Boden der Duschwanne geworfen und dann mit dem Fuß in ihre äußerste Ecke geschoben hatte, aber im Dunkeln wusste er schließlich nicht mehr, ob seine Hände noch rot vom Blut oder bereits vom Schrubben waren.

Er suchte etwas saubere Wäsche und Kleidung aus seinem Koffer, zog sich an und packte den Rest in eine Tasche; dann stopfte er noch in die Tasche, was er an Nahrung in der Küche fand. Danach packte er die Hälfte wieder aus, füllte mit den kleineren Dingen zwei Töpfe und stopfte schließlich die Töpfe und den Rest in die Tasche, und zuletzt noch Besteck und die handgefertigten Löffel und ein Feuerzeug und was noch auf Anhieb sinnvoll erschien. Ich kann hier nicht bleiben, dachte er und blickte ein letztes Mal durch die Fenster. An den Städten der Res Publica war ihm immer ein Rest rätselhaft geblieben; die okkupierte Stadt verstand er überhaupt nicht mehr. Er ließ die Tür ins Treppenhaus einen Spalt offen, aber eher aus Höflichkeit, falls jemand anderes hinein musste, nachdem er weg war.

Vorschau: Die Städte auf Dunhuang Siebzehn verändern sich, und Carina Debro sieht zum ersten Mal, was sie immer nur für einen Namen gehalten hatte. Elvis steigt auf einen Berg, während anderswo ein alter Kapitän einen verlorenen Posten einnehmen darf.

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Jacob Birken

Writer, researcher. Interested in ideas about history & historicity, and their mediation in arts & pop culture.