Die Kriege der Zukunft [SE01 EP18 & 19]
Was bisher geschah: Über Dunhuang Siebzehn hat die Besatzung der Sagarmatha in einer aussichtslosen Lage die Morgenröte schließlich in eine Falle gelockt. Unten auf der Planetenoberfläche sind Elvis Eric Late und Park Thaeer unterwegs zur Bergfestung Acala, zu der sich die Garde im Notfall zurückziehen sollte — oder was von der Garde geblieben ist.
„Acala“
Auf der Brücke der Morgenröte waren sämtliche Alarmsignale angegangen. Aus Drillübungen wusste Abelia, vor was jedes einzelne warnen würde, aber aus dieser Kakophonie konnte sie kein einziges heraushören. In ihrer unmittelbaren Nähe schien nichts zu Schaden gekommen zu sein. Die meisten der Menschen starrten zu den Fenstern, als seien sie immer noch von der Explosion draußen geblendet. Niemand sagte etwas; auf dem Podium stützte sich Matei auf Eran Debros Schulter, auch wenn dies in der Schwerelosigkeit nur symbolisch sein konnte. Der Alarm, dachte Abelia, das Schiff. Jedes einzelne Alarmsignal könnte irgendeinen Teil der Morgenröte betreffen, dessen Fehlfunktion sie in wenigen Minuten oder sogar den nächsten Sekunden alle töten konnte. Warum tragen wir keine Raumanzüge?, dachte sie; haben wir genug Raumanzüge? Sie überschlug kurz die Zahlen, obwohl sie die Antwort schon wusste. Nein, dachte sie, die falsche Frage. Wen müssen wir retten, und wie können wir sie retten. Abelia schob den technischen Offizier beiseite, neben dessen Pult sie gerade schwebte. „Lass mich mal ran“, sagte sie und rief auf dem Pult die Übersicht der Schiffsfunktionen auf.
„Schadensbericht“, sagte Matei schließlich vom Podium hinab.
„Schilde vollständig ausgefallen“, sagte jemand, „Fahre auf minimale Leistung hoch. Fehlermeldungen der Schildgeneratoren, Backbord. Wir haben … die Hälfte verloren. Die Hälfte der Schildgeneratoren ist nicht länger einsatzbereit.“
Abelia schaute kurz von dem Pult auf. Über der linken Seite des Schiffes spannten sich Dreiecke aus blauem Licht auf, nur um immer aufs neue zu verschwinden; unten flimmerte kränklich einer der Generatoren, bis er schließlich ganz dunkel wurde. Erst jetzt sah Abelia das Ausmaß des Schadens; über große Flächen hinweg hatte die Explosion des Schlachtschiffs den Lack von der Hülle der Morgenröte wegbrannt, das blanke Metall freigelegt und die Verteidigungsanlagen verkohlt und verbeult zurückgelassen. Wo zuvor noch Sensoren oder Geschütze gewesen waren, wanden sich jetzt ziellos Schläuche und Kabelstränge, um Funken oder irgendwelche Flüssigkeiten ins All zu entlassen. Weiter vorne rotierte langsam das große Modul, in dem bei künstlicher Schwerkraft die Wohneinheiten, medizinischen Einrichtungen und vor allem die großen Gewächshäuser der Morgenröte untergebracht waren — ein Relikt aus dem ersten Lebensabschnitt dieses Schiffes, in dem es noch von der Erde weg zu irgendeinem fernen Sternsystem aufgebrochen war, um dort für einige tausend Menschen und ihre Nachkommen einen friedlicheren Ort zu finden (zumindest hatte das Abelia so gehört). Es ist noch ganz, dachte sie, doch dann drehte sich das Modul weiter, und auch hier war alles zerstoßen und versengt.
Abelia tippte sich durch die Menüs. „Fehlermeldungen von mehreren Waffensystemen“, sagte eine andere Offizierin unweit von ihr. „Vielleicht ein Drittel noch einsatzbereit.“
„Nur leichte Schäden an der Außenhülle“, sagte Abelia, als sich sonst niemand mehr zu Wort meldete und sie die Informationen endlich vor sich auf dem Display hatte. „Kleine Sauerstofflecks an zwei Segmenten des zentralen Moduls.“ Auf der schematischen Ansicht des rotierenden Zylinders in der Mitte der Morgenröte blitzen rote Punkte auf. Abelia ließ eine Simulation laufen; blaue Partikel füllten die einzelnen Segmente des Moduls, nur um durch die roten Punkte wieder ins Nichts zu strömen.
„Repariert, was ihr könnt“, sagte Matei. „Haben wir ein Bild, draußen?“
Jemand schickte eine Drohne um das Schiff, aber sie zeigte nur die Leere im All; von dem Schlachtschiff war nichts mehr übrig, zumindest nichts, was sich von dem übrigen Schrott hier draußen unterscheiden ließ.
Ich bringe das in Ordnung, dachte Abelia. Der technische Offizier machte keine Anstalten, wieder sein Pult zu übernehmen. Repariert, was ihr könnt, hatte Matei gesagt; damit war jetzt also auch sie angesprochen. Sie schaute über das Display hinweg auf das lädierte Modul, das sich hinter dem Fenster stoisch weiterdrehte. Abelias Generation hatte diesen Teil der Morgenröte nie ganz verstanden (zumindest diejenigen, die auf diesem Schiff geboren waren; gehörte nicht schließlich auch Carina zu ihrer Generation?); sie ließen sich dann immer wieder erklären, dass die Menschheit sich nun mal unter Schwerkraft entwickelt hatte, aber überzeugend klang das nie.
Prioritäten, dachte Abelia, während auf dem Hologramm vor ihr weiterhin die blauen Partikel ins Nichts strömten. Das Sicherheitssystem der Morgenröte hatte die Türen zu den beschädigten Segmenten automatisch geschlossen, als es die Sauerstofflecks festgestellt hatte. Abelia brauchte nur einmal mit dem Finger auf ein kleines Symbol zu tippen, um die Türen zwischen einem der beschädigten Segmente und einem der drei Gewächshäuser des Moduls so zu verriegeln, dass sie sich vor Ort nicht wieder öffnen ließen. Prioritäten, dachte sie wieder. Menschen ließen sich rekonstruieren; dafür gab es einen standardisierten Vorgang. Es gab keinen standardisierten Vorgang, um ein vollständiges Biotop wieder herzustellen. Ihr Finger schwebte schon über dem nächsten Symbol, um das beschädigte Segment auch auf der anderen Seite abzuriegeln, aber dann schaute Abelia doch noch auf die Zahlen in der Simulation. Zwei Minuten, erinnerte sie sich aus Sicherheitsübungen, zwei Minuten höchstens, um in einem der Segmente die nächste Tür zu erreichen. Sie öffnete einen Kanal zur Lautsprecheranlage im Modul und machte eine Durchsage, um die Menschen zu den richtigen Ausgängen zu leiten.
Mehr und mehr der Alarmsignale waren mittlerweile verstummt, nachdem die Leute an ihren Stationen vielleicht nicht die Gefahren beseitigt, aber zumindest die Fehlermeldungen durchgearbeitet hatten. Abelia wiederholte ihre Durchsage, bevor sie schließlich die Türen verriegelte; wer es in dieser Zeit nicht aus dem Segment geschafft hatte, musste selbst ohnehin irgendeinen Fehler begangen haben, über den dann später diskutiert werden könnte. Zufrieden las sie die Benachrichtigung, dass bereits die ersten Drohnen des Reparatursystems der Morgenröte die Lecks von außen mit irgendeinem Schaum versiegelten, und noch zufriedener hörte sie auch das zu diesem Problem gehörige Alarmsignal verstummen, nachdem endlich die entsprechende Option auf dem Display aufgeleuchtet war. Wahrscheinlich musste hier nicht einmal jemand sterben.
Das Lächeln gefror auf ihren Lippen, als Abelia sofort wieder das viel dringlichere Problem in den Sinn kam. Dieses Problem war, dass sie ausgerechnet hier unzureichend geschützt blieben: Nur ein einziges Projektil musste die Wände oder Fenster der Brücke durchschlagen, um im schlimmsten Fall die gesamte Kommandostruktur der Morgenröte zu kappen. Plötzliche Angst wallte in ihr auf, als hätten sie bereits so lange Glück gehabt, dass ihr weiteres Überleben mit jeder Sekunde nur noch ungeheuerlicher wirkte, und dass der Kapitän des gegnerischen Schlachtschiffes während seines kurzen Gesprächs mit Basil Matei den Helm abgenommen hatte, erschien ihr jetzt als ein vielleicht höfliches, vielleicht auch spöttisches Entgegenkommen gegenüber einer Besatzung, die nicht ganz den Ernst der Lage begriffen hatte. Ihre eigene Zufriedenheit, die kleine Krise im zentralen Modul abgewickelt zu haben, kam ihr nun nur noch frivol vor.
Sie prüfte nochmals die Reserven, aber tatsächlich waren die einzigen Raumanzüge der Morgenröte direkt bei den Luftschleusen und Hangars gelagert, selten benutzte Arbeitsbekleidung für irgendwelche Reparaturen außerhalb des Schiffs. Dafür bin ich Quartiermeisterin, dachte Abelia, um solche Probleme zu lösen. Die Raumanzüge mussten verlagert, besser noch, neue angefertigt werden. Wahrscheinlich hatte ich das schon irgendwie geahnt, dachte sie und erinnerte sich an die Diskussionen um die blauen und roten Uniformen zurück; die Uniform selbst war einfach immer die falsche Wahl gewesen, nicht die eine oder die andere Farbe.
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„Vorhin ist etwas passiert“, sagte Park. „Am Himmel.“
Elvis gähnte und setzte sich auf. Es war noch dunkel und das Moos um ihn feucht vom Tau; sie hatten am gestrigen Abend schließlich noch einige Haine links liegen lassen und erst an der Ruine einer der Terraforming-Maschinen Rast gemacht, wie sie hier immer wieder die Landschaft markierten: riesige zylindrische Formen, deren wetterfeste Beschichtung sich vor Generationen plangemäß aufgelöst hatte und die Strukturen der Maschine einer Umwelt preisgab, die sie auf diesem zuvor toten Planeten selbst gestaltet hatte. Woraus die Konstruktion bestanden haben mochte, jetzt war es zu der morschen schwarzbraunen Masse verwittert, in die sich die meisten Dinge zu verwandeln schienen, wenn ihre Zeit abgelaufen war. Als Elvis an eine der Wände gefasst hatte, war gleich ein Stück davon abgebrochen und zwischen seinen Fingern zerbröselt, aber die Gefahr hier war sicher nicht größer als die, unter einem Baum im Schlaf von einem fallenden Ast erschlagen zu werden, und in den Winkeln der Ruine hatte sich weiches Moos angesammelt. Tatsächlich war Elvis schnell in tiefen Schlaf gesunken und gerade zum ersten Vogelgezwitscher aufgewacht.
„Was denn“, sagte Elvis. „Guten Morgen.“
„Ich weiß nicht“, sagte Park. „Ein großes Licht.“ Er deutete in eine Richtung, in der jetzt nur der Sternenhimmel war.
„Ein großes Licht“, wiederholte Elvis und stand auf. „Ich mache mal Frühstück, ja?“
„Gut“, sagte Park. „Wir müssen bald los.“
Der Morgen brach an, als sie gerade ihren Kaffee tranken. Von diesem kleinen Hügel aus war jetzt langsam die ganze Weite des Landstrichs zu sehen. Elvis suchte die Stadt, aber sie war entweder hinter anderen Hügeln versteckt oder bereits so weit entfernt, dass ihre begrünten Blöcke einfach in der Landschaft aufgingen. In der anderen Richtung zeichneten sich hinter den sonst so unendlich erscheinenden Feldern die dunklen Formen einer kleinen Bergkette ab. Das war keines der gewaltigen Gebirge, die Elvis auf der Erde bestaunt hatte, aber auf eine eigene Weise ganz imposant, mit fünf großen Zacken wie die liegengebliebene Krone irgendeines monströsen Monarchengeschlechts.
„Oh“, sagte Park. „Die Berge. Da müssen wir hin.“
„Diese Berge“, sagte Elvis.
„Hatte ich ja gesagt: Wir werden ein paar Tage laufen“, sagte Park.
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Als die Nachrichten von der Morgenröte Carina schließlich erreichten, war bereits bekannt, dass die Schäden beträchtlich, aber nicht fatal waren. Es ist gut, dachte sie. So wissen wir, dass wir verwundbar sind. Vielleicht war gerade dies notwendig gewesen, um diesem ganzen Unterfangen die fehlende Demut beizubringen. Zu viel an dieser Invasion wirkte noch wie eine Übung, sogar Routine. Vielleicht würde es auch dem Dialog mit den Menschen auf diesem Planeten helfen, dachte sie dann; nicht, dass wir verletzlich sind, sondern dass wir damit umgehen können. Menschlich, eben. Nicht: schwach. Ja, dachte sie wieder, es ist gut.
Auch war jetzt vieles konkreter geworden. Die Schäden an der Hülle der Morgenröte ließen sich reparieren, aber die Explosion hatte viele der sensibleren Apparaturen wie die Schildgeneratoren schlichtweg vaporisiert; um sie vollständig zu ersetzen, fehlte an Bord des Schiffes das nötige Material. Dieser Planet war nun nicht länger der immer noch irgendwie fremde, nicht ganz fassbare Ort, der ihre Sehnsüchte nach einem angemessenen Lebensraum beantworten sollte: Es war auch ein Planet, der über wichtige Rohstoffe verfügen konnte, und es lag jetzt an ihnen, diese zu finden.
„Warum sind die Reifen von eurem Bus so riesig“, sagte das Kind. Es hatte sich vor einem der Truppentransporter aufgebaut und starrte auf den schlammverkrusteten Reifen, der ihm tatsächlich gut bis zu den Schultern reichte. „Nein“, sagte es, „warum haben eure Busse überhaupt Reifen. Warum habt ihr keine Gleiter?“
„Für den Antrieb von Gleitern brauchen wir elektronische Computer. Die würden ausfallen, wenn wir unseren Puls benutzen.“
„Natürlich“, sagte das Kind und klatschte sich mit der Hand an die Stirn. „Und warum sind die Reifen so riesig.“
„Auf dem Planeten, auf dem wir vorher gelebt haben, ist der Boden oft … schwierig. Die großen Reifen greifen dann besser. Die Transporter sind sehr schwer, weißt du.“
„Wie schwer.“
„Zehn Tonnen, glaube ich.“
„Zehn Tonnen“, wiederholte das Kind und riss die Augen ungläubig auf; dann runzelte es die Stirn und starrte zu Boden, stumm die Lippen zu irgendwelchen Kalkulationen bewegend. Carina musste lächeln. Ob ich in dem Alter irgendeine Vorstellung von zehn Tonnen hatte, dachte sie.
„Was macht eigentlich deine Familie?“, fragte sie, als ihr wieder die Reparaturen an der Morgenröte in den Sinn kamen. Irgendwer hier musste Informationen über die Ressourcen auf diesem Planeten haben. Es musste eine Akademie geben, Archive oder Labore.
„Nichts“, sagte Kind etwas gereizt. „Sie sind zu Hause.“
„Nein“, sagte Carina. „Was haben sie vorher gemacht, haben sie an etwas gearbeitet?“
„Ich glaube, sie haben Bäume gepflanzt“, sagte das Kind. „Und sie haben einen neuen Apfel ausgedacht!“
„Einen neuen Apfel ausgedacht“, wiederholte Carina gelangweilt. Auf der Morgenröte warfen die knorrigen alten Bäumchen in den Gewächshäusern hin und wieder solche harten und zugleich wässrigen Knollen ab, die dann in der Kantine dem Essen beigelegt wurden. Irgendwann hatte jemand herausgefunden, dass sie sich wesentlich besser zum Schnapsbrennen eigneten, aber vielleicht war das auch ein Hinweis darauf, dass da grundsätzlich noch Spielraum für Entwicklungen war.
„Ja“, sagte das Kind. „Weil die Äpfel von der Erde kommen und nicht ganz gepasst haben. Aber jetzt haben wir ja eigene Äpfel für unseren Planeten.“
„Gut für euch“, sagte Carina und musste wieder lächeln. Vielleicht ist das sogar ein gutes Ziel, dachte sie. Die passenden Äpfel für jeden Ort. Sie konnte nächstes Mal welche mitbringen, von der Morgenröte, und die Eltern des Kinds könnten sich etwas Passendes ausdenken. Aber zuerst musste die Morgenröte wieder repariert werden.
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Nach ein paar Stunden Marsch hatte Zenon Appiah festgestellt, dass er längere Strecken nicht gewohnt war. Tatsächlich war die längste Strecke, die er in seinem Haus zurücklegte, diejenige zwischen der Terrasse und dem Badezimmer. Auch wenn er am Ende der Terrasse in seinen Gleiter stieg und einen Ausflug machte, war die einzige ihm bekannte größere Ebene auf Trappist’s Merveille ein Talkessel voller trügerischer, vielfarbig glitzernder Treibsalze, den man besser vom Rand aus bestaunte.
„Ich bewege mich sonst zu wenig“, sagte er, nachdem er während einer kurzen Pause wieder Atem holen konnte.
„Du könntest Yoga machen“, schlug Yato vor.
„Ich mache Yoga“, sagte Appiah, der regelmäßig im Schneidersitz mit geschlossenen Augen versuchte, aus dem Krach des Wasserfalls draußen das Tropfen der Kondensation in seinem Wintergarten herauszuhören. Manchmal legte er sich auch auf den Rücken und zog erst das eine, dann das andere Bein an. Aber es stimmt, dachte er. Vielleicht konnte er jeden Morgen noch im Schlafanzug auf die Terrasse beim Wintergarten gehen, und nicht erst unter die Dusche und danach zum Tee in die Küche; dann würde er immerhin die längste Strecke am Stück zurücklegen, die ihm sein Haus bot.
Yato ließ sich das Licht des Sterns über ihnen ins Gesicht scheinen. Leuchtend gelb wie die Sonne auf Bildern in Kinderbüchern stand er über den Feldern, durch die sie gerade marschiert waren. Appiah seufzte und setzte sich ins Moos vor einem großen Baum. Mühsam zog er die Stiefel aus und massierte die schmerzenden Füße. Ihre Raumanzüge hielten extremen Temperaturen und dem Vakuum stand, aber für lange Wanderungen waren sie nicht gedacht, die komplexen Lebenserhaltungssysteme jetzt nur Ballast, der bei Schwerelosigkeit kaum auffiel.
Die Rettungskapseln hatten sie sicher zur Planetenoberfläche gebracht, aber sie waren eher glücklich gefallen als strategisch gezielt gelandet. Yato hatte noch auf der Sagarmatha die Koordinaten einer Bergfestung der Garde im stärker besiedelten Teil des Planeten gefunden, und jetzt schienen sie immerhin in der gleichen Region und dennoch nicht inmitten einer besetzten Stadt gelandet zu sein. Bislang war wohl niemandem ihre Anwesenheit aufgefallen. Wahrscheinlich verfügte die Armee der Morgenröte über kein weitreichendes Luftüberwachungssystem, und wenn ihre Vermutung richtig war, auch nicht über die üblichen elektronischen Kommunikationsmittel. Einige von den Sonden, die die Sagarmatha und die Elbrus losgeschickt hatten, kreisten noch über dem Planeten, und mit ihrem tragbaren Empfangsgerät konnten sie hier unten immerhin noch ihre Bilder abrufen. In den meisten Städten hatten sie Anlagen der Invasionsarmee sehen können, Landungsschiffe und ganze Zeltstädte in den Parks. Als die Sonden Bilder von der Nachtseite des Planeten schickten, dachten sie zuerst, dass hier alles zerstört worden war; bei genauerer Auswertung fanden sie die Städte, aber sie blieben nachts einfach dunkel; sie waren nicht länger elektrifiziert.
Appiah schaute sich in dem Wäldchen um, in dem sie gerade kurz Rast machten. Die paar dutzend Leute, die gerade wie er unter einem Baum die Füße ausstreckten oder Schatten suchten, hatten als letzte die Sagarmatha verlassen: Die Kapitänin, Yato und wer noch auf der Brücke gewesen war; die Crew aus dem Maschinenraum. Viele andere waren schon in Transporter und Landungsschiffe zur Planetenoberfläche gestiegen, noch bevor sie auf der Brücke den Kurs gesetzt und die Selbstzerstörungssequenz eingeleitet hatten. Von diesen anderen Gruppen hatten sie noch nichts gehört, aber Appiah machte sich über Stärke in Zahlen vorerst keine Gedanken: Sie waren ohnehin keine Armee, die hier irgendetwas ausrichten konnte, sondern zuallererst Schiffbrüchige. Zufrieden beobachtete er, wie einen Baum weiter jemand den Weg zu der Bergfestung aus seinem Implantat in eines der unverwüstlichen Notizhefte übertrug, die sich angeblich selbst im Vakuum und unter Wasser beschreiben ließen, aber zum Glück auch an einem schönen Sommernachmittag, oder welche Jahreszeit hier gerade herrschen sollte. Gute Idee, dachte Appiah: Sie wussten schließlich nie, wann sie die Pulswaffe auch hier auf dem Planeten treffen konnte. Er lehnte sich zurück, schloss die Augen und suchte ein angenehmes Musikstück auf seinem Implantat heraus.
„Zieh die Stiefel an, Commodore“, sagte Yato über ihm, „wir müssen weiter.“
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Die Gebirgskette wirkte auch aus der Nähe nicht weniger beeindruckend als an dem Morgen vor einigen Tagen, als Elvis sie zum ersten Mal in der Ferne gesehen hatte. Nachdem sie von dem Hügel mit der Ruine herabgestiegen waren, gerieten die Berge für lange Zeit außer Sicht, immer wieder hinter irgendeinem weiteren Hügel verborgen; doch als sie heute eine Anhöhe hinaufstiegen, waren sie nicht nur plötzlich wieder da, sondern schienen endlich erreichbar.
Es musste das morgendliche Licht gewesen sein, dass die Bergspitzen zu Kronenzacken hatte werden lassen. Jetzt vor ihnen erhob sich das Gebirge sonderbar kompakt aus der Landschaft, ohne dass sich einzelne Gipfel überhaupt ausmachen ließen — vielleicht eine Caldera oder die Spuren eines urzeitlichen Meteoriteneinschlags. Elvis war aufgefallen, dass Park zunehmend weniger bestimmt den Weg wies, je näher sie dem Gebirge kamen. Zuerst dachte er, dass die baldige Ankunft seinen Weggefährten gleichmütiger gemacht hatte, aber das passte nicht.
„Du weißt nicht, wo wir hin müssen“, sagte Elvis, als sie schon kurz vor dem kleinen Waldstreifen am Fuße des Gebirges waren und Park immer langsamer wurde.
„Es ist eine ja verborgene Festung“, sagte Park. Sie schauten eine Weile die zerklüfteten Felswände hoch. „Ich hatte die Koordinaten für den Eingang gespeichert“, sagte Park schließlich. „In meinem Implantat.“
„Bruder“, sagte Elvis, „wenn du auf einen Blick alle Getreidekörner in einem Feld zählen kannst, dann findest du da oben auch einen versteckten Eingang. Irgendetwas muss anders sein, ein Schatten, ich weiß es nicht.“
„Schwierig“, sagte Park. „Die Tarnung ist so gut, sie hebelt alle Bilderkennungsalgorithmen aus.“
„Ja“, sagte Elvis, „aber du bist kein Bilderkennungsalgorithmus. Jetzt erst recht nicht.“
„Okay“, sagte Park. „Da“, sagte er nicht viel später und deutete den Berg hoch.
Der kleine Wald wuchs ein paar hundert Meter zum Fuß der Felswände hinauf. Er war dicht und dunkel, aber Elvis bereits jetzt auf eine Weise vertraut, dass er kurz irritiert war, warum er den anderen Wald über der Stadt überhaupt verlassen hatte. Park stapfte mit neuer Energie durch das Unterholz voran. Für einen Moment überlegte Elvis, ob er selbst hier nicht einfach irgendwo verlorengehen konnte, ein paar Schritte weiter in das Dickicht hinein, aber das war unsinnig und unfair.
„Was mache ich hier“, sagte er unbeabsichtigt laut.
„Siehst du“, sagte Park, der gerade über einem moosigen Baumstamm balancierte, „das hat Seth auch so beschäftigt, was du hier machst. Aber es wird schon seine Richtigkeit haben.“
Er blieb stehen und schaute sich eine Weile um. „Da entlang“, sagte er dann zwischen zwei schweren Atemzügen.
Elvis hatte vorhin nicht erkennen können, was sein Weggefährte oben in den Felsen ausgemacht hatte, aber bald fielen auch ihm Details ins Auge, die im Wald nicht ganz am Platz waren; hier ein zu ebener Hang, dort tatsächlich die schmale Schießscharte eines Bunkers, verborgen in etwas, was wie ein überwachsener Felsen zwischen ein paar alten Bäumen wirkte, aber wohl die passend dekorierte Außenwand der Festung sein musste.
Sie waren noch nicht ganz am Waldrand angekommen, als aus irgendeiner Richtung eine Stimme kam. „Magister Thaeer?“, sagte jemand.
„Das bin ich“, rief Park in den Wald hinein. Vielleicht zehn Meter vor ihnen bewegte sich etwas, bis sich drei Leute in Tarnkleidung aus einem Gebüsch schälten.
„Drittes Korps, Gebirgsbrigade Sieben“, sagte ein Soldat und bewegte den Arm zum Salut, wobei die Camouflage des Tarnanzugs sein Gesicht kurz im Grünzeug verschwinden ließ. „Wir hatten beinahe die Hoffnung aufgegeben.“
„Oh“, sagte Park, „wir auch.“ Elvis bemühte sich um ein Lächeln, während sie auf die anderen zugingen.
„Das Kommando“, sagte der Soldat zögerlich, „ist …“
„Ja“, sagte Park, „hier bin ich. Das ist Elvis Eric Late, ein Gast auf unserem Planeten. Oh!“ Er griff hinter seinen Kragen und zog den Anhänger hervor, den Elvis dem toten Soldaten abgenommen hatte. „Und wir haben Generalleutnant Seth Reinald mitgebracht.“
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Elvis hatte sich noch nicht aus dem Bademantel umgezogen und gerade am Automaten im Wartezimmer eine Limo synthetisiert, als Park Thaeer mit einem besonders strahlenden Lächeln durch die Tür kam. „Jetzt wissen wir es“, sagte Park und hielt Elvis ein Datentablett mit etwas hin, was wahrscheinlich die Aufnahme eines Querschnitts von Elvis’ eigenem Körper war. Vor wenigen Minuten hatte er im Lazarett eine Aufzeichnung seines aktuellen Zustandes und davor einen allgemeinen Gesundheitscheck machen lassen, der wohl noch weitere Erkenntnisse abgeworfen hatte außer der, dass er immerhin gesund genug war.
„Super“, sagte Elvis, obwohl er noch nicht wusste, was sie jetzt also wussten.
„Organisch“, sagte Park. „Dein Implantat ist organisch.“
„Ach so“, sagte Elvis. „Natürlich. Wir haben unsere ganze Computertechnologie umgestellt, das ist auf dem Planeten nicht so gut aufgegangen, von den Rohstoffen her. Das ist alles irgendwelche Keramik, künstliche Nervenzellen und so weiter.“
Park nickte aufmerksam.
„Es ist auch sehr feucht bei uns, vielleicht hätte das mit Metallen nicht so gut geklappt“, sagte Elvis.
„Das glaube ich nicht“, sagte Park höflich. „Interessant. Theoretisch müsste es weniger leistungsfähig sein, aber ab einem gewissen Punkt ist Leistungsfähigkeit nicht so relevant, im Verhältnis.“
„Es reicht wohl für alles, was wir brauchen“, sagte Elvis.
„Das meine ich“, sagte Park. „Und es ist in jedem Fall leistungsfähiger als die mechanischen Apparate von der Morgenröte, falls das alles ist, was sie haben.“
„Ganz sicher“, sagte Elvis. „Und das Ticken, das muss einen doch wahnsinnig machen.“
„Wie dem auch sei“, sagte Park, „ohne ein Labor und vor allem Pläne bringt uns das erst mal nicht weiter. Oder hast du Pläne?“
Elvis rief die Datenbanken seines Implantats auf. „Das eine oder andere, wahrscheinlich“, sagte er.
„Großartig“, sagte Park. „Egal was, wir können von allem aus weiterarbeiten. Warte. Wir kommen nicht dran, oder? Wir kommen nicht dran, weil nichts hier mit deinem Implantat kompatibel ist.“
„Die Butler-Stiftung hatte mir dieses Datenarmband gebaut, damit ich in euer Netz komme. Das funktioniert jetzt natürlich nicht mehr.“
„Können wir ein neues Armband herstellen?“
Elvis zuckte mit den Schultern und tippte sich an die Schläfe. „Den Plan habe ich, aber …“
„Gut“, sagte Park, dessen breites Lächeln auch diese Kette an Rückschlägen verkraftet hatte. „Wir werden sehen. Es gibt noch genug anderes zu tun.“
Elvis nahm seine Limo aus dem Automaten und stellte sich vor das große Display an der Wand des Wartezimmers, das im Sinne eines Fensters die Aussicht auf die Landschaft draußen wiedergab, obwohl hinter der gläsernen Oberfläche wahrscheinlich nur ein paar Meter Beton und Fels lagen und eine gut darin versteckte Kamera. Weit in der Ferne meinte Elvis die Ruine der Terraforming-Maschine zu sehen; ein paar Minuten lang versuchte er, aus dieser Richtung den Weg nachzuverfolgen, den sie die letzten Tage über zurückgelegt hatten. Es war schließlich ein guter Weg gewesen; eine Strecke, wie er sie auf diesem Planeten in anderen Richtungen und hoch über dem Boden in seinem Gleiter zurückgelegt hatte.
„Ach so“, sagte er dann.
Er fand Park in einem Besprechungszimmer nahe dem Lazarett, wo er mit ein paar Leuten über irgendwelchen Projektionen brütete.
„Mir ist etwas eingefallen“, sagte Elvis.
„Oh, gut“, sagte Park.
„Mein Cassius.“
„Wer ist das?“
„Mein Gleiter. Ich habe ihn von meinem Planeten mitgebracht.“
„Er ist hier? Auf Dunhuang Siebzehn?“
„In der Stadt“, sagte Elvis. Park atmete tief durch.
„Soll ich ihn holen“, sagte Elvis.
„Das wäre gut“, sagte Park, „sobald du bereit bist“, und Elvis war sich nicht sicher, ob das sofort hieß oder ob er zumindest noch die Limo austrinken durfte.
Seth Reinald war mit einem schlechten Gefühl aufgewacht, an dem sich bislang nichts geändert hatte. Ihm war die sonderbare morgendliche Irritation nicht fremd, manchmal für einen Augenblick den Ort nicht zu erkennen, an dem man aufwacht, aber leider hielt diese Irritation bereits viel zu lange an. Die Ärztin hatte ihn informiert, dass er im Lazarett der Festung Acala rekonstruiert worden war, hatte ihm aber über nichts weiter Auskunft geben können; allerdings waren Reinald nur allzu grundsätzliche Fragen wie warum und wieso bin ich hier eingefallen. Dann hatte die Ärztin nochmals seine Werte abgelesen und war ihres Weges gegangen.
Er starrte auf die leeren Liegen in dem großen Raum, während sich sein Implantat mit dem Netzwerk der Festung synchronisierte. Seine Liege war die einzige, deren Polster mit einem hygienischen grünlichen Stoffüberzug versehen war; neben ihr lagen auf einem Stuhl zusammengefaltet frische Wäsche und eine Uniform. Ich bin der erste hier, dachte Reinald. Nein, sonst hätten sie die anderen Liegen auch schon bezogen; bin ich der letzte? Reinald schloss die Augen, um das Interface des Implantats aufzurufen.
„Wie lange“, sagte er laut, als er das heutige Datum sah. Bei der Kleidung lag auch ein neues Datenarmband, das Reinald nervös vor allem anderen anzog, die graue Decke, unter der er aufgewacht war, provisorisch um die Hüfte gewickelt. Auf der Kante der Liege sitzend wischte er durch die Menüs der Personalverwaltung. Seite um Seite waren alle Namen in seiner Division mit „Im Einsatz vermisst“ markiert; Reinald blätterte immer schneller weiter, bis die Namen selbst schließlich verschwammen und er durch die Projektion über dem Datenarmband hindurch auf die leeren Liegen starrte.
„Vermisste Personen ausblenden“, sagte er schließlich, und jetzt bleiben nur noch zwei Namen übrig: Reinald, Seth; Generalleutnant. Thaeer, Park; Magister. Stationiert: Festung Acala.
Reinald zog sich an und stolperte auf den Flur. Ein junger Offizier rannte ihn fast um, sah dann die Abzeichen auf der Uniform und salutierte hastig. „Generalleutnant. Kann ich ihnen helfen?“
Reinald versuchte sich zu konzentrieren. „Das Kommando“, sagte er. „Ich suche das Kommando. Nein, Park Thaeer. Der Magister, aus meiner eigenen Abteilung. Erste Division, Kommandoabteilung.“
Der junge Offizier wirkte konsterniert. „Haben sie den Raumplan? Oh, in fünfzehn Minuten ist die Einsatzbesprechung, sie sollten sicher auch teilnehmen?“ Er rief einen Kalender und einen Raumplan auf, die nun zwischen ihnen im Flur schwebten.
Was will er, dachte Reinald nach einem Blick auf den Kalender. Das ist der nächste Monat. Nein, heute ist der nächste Monat, jetzt. Der nächste Monat ist jetzt. Der Offizier sagte etwas, aber weiter hinten war gerade eine Gruppe von Menschen in den Flur getreten. Thaeer, dachte er. Zum Glück. Der Magister diskutierte mit ein paar anderen Leuten, die hier stationiert sein mussten; zwischen ihnen warteten drei Personen in Zivilbekleidung, mit Rucksäcken und Taschen behangen, als würden sie gerade zu einer Wanderung aufbrechen. Dieser Mann, dachte Reinald, kann das sein? „Danke“, sagte er zu dem Offizier und lief los. Thaeer schien ihn bereits erkannt zu haben; schon kam er ihm entgegen, während die Drei in Zivil in die andere Richtung verschwanden.
„Generalleutnant“, rief ihm der Magister zu, „endlich!“
„Thaeer“, sagte Reinald, „was ist geschehen? Was passiert hier? Ist das …“
Thaeer legte ihm zur Begrüßung die Hand auf die Schulter. „Sofort“, sagte er. „Aber ist alles in Ordnung mit dir?“
„Ich …“, sagte Reinald, dann wurde ihm plötzlich schwindlig, und gleich darauf schwarz vor Augen.
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Spätestens nachdem sie den siebten Hügel hinauf- und auf der anderen Seite wieder hinabgestiegen waren und das zwanzigste Getreidefeld passiert hatten, merkte Elvis, was ihn schon seit einer Weile störte: Er hatte sich einfach daran gewöhnt, dass als Klangkulisse zu diesen Landschaften Parks unablässiger Strom aus Haikus und diversen Beschwerden gehörte. An den Beiden, die sie ihm zur Seite gestellt hatten, war nichts auszusetzen; da war der Soldat, mit dem sie als Erstes vor der Festung gesprochen hatten, und eine Kameradin aus der gleichen Kompanie. Beide hatten ihm bereitwillig ihre Lebensgeschichten erzählt: Sie kam aus einer der riesigen Steppen der Erde, die in Jahrtausenden nie wirklich besiedelt worden waren, und er aus einer der Städte im Süden, in denen auf einem Quadratkilometer mehr Menschen lebten, als man in einem ganzen Leben in der Steppe begegnen würde; und so war für beide die Garde der Weg gewesen, um ihre jeweilige Welt für eine zu verlassen, in der es Gesellschaft und Unerwartetes geben konnte und dennoch alles zumindest vom Ansatz her reglementiert blieb.
„Meine Freunde“, sagte der Soldat zwischendurch, „sagten mir immer: Du bist zu langsam für die Stadt.“
„Du bist doch nicht zu langsam“, sagte seine Kameradin und lachte.
„Nein“, sagte er, „zu langsam für die Stadt.“
Elvis dachte noch über sein eigenes Verhältnis zu Geschwindigkeit und Städten nach, als sie ein paar Minuten später den nächsten Hügel erklommen hatten und sich kurz in der Landschaft orientierten. „Alle müssen immer überall sein, gleichzeitig“, sagte der Soldat jetzt, „So ist das in der Stadt. Ich, ich muss immer nur hier sein. Dann sehe ich alles.“ Er deutete zum Boden, meinte aber wohl nicht explizit diesen Hügel.
„Wie ist es, für dich, gerade“, sagte die Soldatin und tippte sich an die Schläfe.
„Hm“, sagte der Soldat. Die Leute in der Festung hatten die beiden nicht nur für diese Mission ausgewählt, weil sie ausgebildete Kommandos waren; sie waren in dem Korps auch diejenigen, die am ehesten ohne ihre Implantate auskamen.
„Mir fehlt es nicht“, sagte sie, „aber der Rest fehlt mir.“
„Die Drohnen“, sagte der Soldat und nickte.
„Nicht wahr“, sagte sie. „Man fühlt sich kleiner. Nur noch in diesem Körper, hier in diesem Feld.“ Sie klopfte mit den Fingerspitzen auf ihr Brustbein.
Der Soldat schaute zum Himmel hoch, plötzlich etwas verunsichert. Es stimmt schon, dachte Elvis. Obwohl sein eigenes Implantat noch intakt war, fehlte die Anbindung an die ganzen Netze, die einen erst irgendwo verorteten; selbst die Positionsbestimmung in der Landkarte funktionierte nicht ohne die Satelliten über ihnen. So waren sie auf sich selbst zurückgeworfen, und während der Himmel sonst etwas war, von wo aus sie sich im Zweifelsfall suchen konnten, schauten sie nun hoch in eine unerreichbare Sphäre, aus der sie vielleicht noch irgendetwas Feindseliges beobachtete.
„Hm“, machte der Soldat und sah auf seine großen Hände hinab, die wahrscheinlich Eisenstangen biegen konnten, aber vor allem darin geübt waren, zahllose Sensoren und Geschütze an irgendwelchen fernen Drohnen zu dirigieren. „Aber keine Sorge. Wir bringen dich schon sicher zu deinem Gleiter, Alter“, sagte er und klopfte mit einer der Pranken auf Elvis’ Rucksack.
Die Soldatin begann, den Hügel hinabzulaufen. „Erzähl mal über deinen Planeten“, rief sie über ihre Schulter zurück. Elvis erzählte. Er war sich bald nicht mehr sicher, ob die beiden wirklich zuhörten, aber das war auch kein Grund, nicht weiterzuerzählen.
„Gewitter“
Der Stern strahlte noch hell am Himmel, aber die hohen Bäume hier warfen Schattenmuster auf den Hang, und die hellen Flecken, wo das Licht zwischen den Ästen hindurchfiel, zogen schneller als vermutet weiter. Vielleicht hatte Seth Reinald auch das Zeitgefühl verloren. Er rückte nach links, bis er wieder im Licht saß. Laut seinem Datenarmband war er bei bester Gesundheit, aber Reinald war auf eine Weise kalt, gegen die auch die dicke und für diese Temperaturen gänzlich unpassende Militärjacke nicht half. Hier spürte er wenigstens das warme Licht des Sterns im Gesicht. Für einen Moment wunderte sich Reinald, warum ausgerechnet ihn, einen erfahrenen Soldaten, ein unbestimmtes Gefühl der Kälte und eine so nebensächliche Sensation wie Lichtstrahlen im Gesicht beschäftigen sollten, doch da waren die Schatten der Bäume bereits weit genug gekrochen, dass er sich erneut umsetzen musste.
Kurz nach seiner Rekonstruktion musste er einen Kreislaufkollaps erlitten haben. Das war nicht unwahrscheinlich, und psychische Belastung nach der Rekonstruktion ohnehin nicht, selbst wenn die Vorbereitung darauf in der Garde zur Grundausbildung gehörte. Er war schnell genug wieder auf den Beinen gewesen, um an der Einsatzbesprechung teilzunehmen. Alle gingen davon aus, dass er das Kommando übernehmen würde, und im Grunde hatte er es weiterhin inne; die Gebirgsbrigade, die hier stationiert war, gehörte ebenso zu seinem Korps wie die wenigen anderen Leute, die nach der Invasion von ihren Posten den Weg hierher gefunden hatten. Reinald hatte keine Zweifel an militärischen Strukturen, aber in diesem Augenblick war das alles für ihn nicht nachvollziehbar; abgesehen von Thaeer war seine gesamte Division in Gefangenschaft oder verschollen, und zu den Divisionen in den anderen besiedelten Teilen des Planeten bestand kein Kontakt mehr. Wenn das dritte Korps der Garde auf Dunhuang Siebzehn effektiv nur aus seinem Kommandanten und einer versprengten Brigade bestand, konnte es im Grunde auch nur aus der Brigade bestehen. Der Kommandant war dann nicht mehr als ein zusätzlicher Verwaltungsaufwand.
Ein paar Steinchen rollten den Hang herunter. Reinald drehte sich um. „Hallo“, sagte Thaeer, der den Steinchen hinterher stolperte. Der Magister hatte sich einen leichten Sonnenbrand eingefangen, der Reinald erst jetzt auffiel. Thaeer setzte sich in einen der Lichtflecke und strich sich die Falten aus der Hose.
„Ich werde mein Kommando über das Korps niederlegen“, sagte Reinald. „Bis unsere Leute wieder frei sind.“
„Ich verstehe“, sagte Park. „Dann sollten wir uns schnell darum kümmern, nicht wahr?“
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Das ist auch neu, dachte Carina, als die frische Luft durch das offene Fenster in die Kabine des Truppentransporters strömte. Vor kurzem hatte es noch geregnet; auf den Feldern draußen sah sie die Tropfen in den Ähren glitzern, aber vor allem war da dieser spezifische Geruch. Wie in einem feuchten Keller, dachte Carina, aber gut (wenn es auf ihrem Planeten geregnet hatte, roch es vor allem nach Staub). Sie hatten etwas gebraucht, um an Informationen über die Rohstoffe auf diesem Planeten zu kommen. Das war zunächst ernüchternd gewesen, da der Planet gerade deshalb besiedelt worden war, weil es hier nicht viel mehr gab als das, was es für grüne Hügel und friedliche Wasserflächen brauchte. Die interessanteren Ressourcen wurden auf den anderen Planeten dieses Systems abgebaut, die ihrerseits kaum ein angemessenes Lebensumfeld für Menschen boten: Gasriesen, kleine, heiße Kugeln aus krustigen Salzablagerungen oder eine Welt aus rostroten Klippen, umspült von einem Ozean aus flüssigem Sauerstoff. In ihrer aktuellen Lage waren diese Planeten allerdings noch weniger in Reichweite als eine bessere Apfelsorte für die Morgenröte.
Dennoch hatte auch Dunhuang Siebzehn, wie die Leute hier ihren Planeten nannten, eine geologische Vorgeschichte. Carina hatte anfangs beinahe die Geduld verloren, als die Menschen in der Stadt mit Unverständnis auf ihre Fragen nach den nächsten Minen reagierten, doch dann verstand sie: Es wäre hier einfach unsittlich gewesen, die Erde für irgendwelche Erze aufzureißen (auf ihrem eigenen Planeten gab es kaum eine Siedlung, die nicht um irgendeinen Schacht herum oder am Rand einer Grube gebaut worden war). Schließlich hatte ihnen jemand eine Karte angefertigt, die zu einer experimentellen Mine in einem etwas abgelegenen Gebirge führte, und wo sie mit einiger Wahrscheinlichkeit sogar das notwendige Erz finden würden, um die Schildgeneratoren der Morgenröte zu rekonstruieren.
Das war gut, und dennoch kam es Carina fast symbolisch vor: Die Morgenröte ein letztes Mal reparieren. Sie lehnte den Kopf aus dem Fenster. Hinter ihnen war die Stadt längst verschwunden, und vor ihnen lagen auch nur Felder und Hügel. Viel besser wäre es, dachte sie, die Morgenröte dort oben abzutragen, und was an ihr vielleicht irgendwie ein Zuhause war hier unten wieder aufzubauen, samt der unpassenden Apfelbäume. Warum nicht? Dieser Planet war spärlich besiedelt; sie konnten alle Menschen auf der Morgenröte in einer neuen Stadt unterbringen, und von ihr aus Tage in die Landschaft hineinwandern, ohne jemandem anderen zu begegnen. Carina suchte nach dem offensichtlichen Fehler an dieser Idee, fand aber keinen. Natürlich blieben noch die Menschen auf ihrem alten Planeten; es wäre gut, sich diese Portaltechnologie anzueignen, dann würde eine einfache Expedition zurück ausreichen, um diese Verbindung wieder herzustellen — nicht ein weiteres Mal die Morgenröte, nur ein kleines Schiff, das nichts weiter als diese Technologie mitbrachte. Bis dahin wären auch viele andere Dinge geklärt.
Ich kann das alles lösen, dachte sie zuversichtlich. Vielleicht würde der schwierigste Teil sein, auch die anderen zu überzeugen: Ihren Vater, Abelia, Basil Matei; noch hatten sie andere Ziele, oder zumindest andere Vorstellungen.
Der kleine Konvoi fuhr jetzt auf eine schmale Brücke; tief unter ihnen strömte ein Flüsschen durch ein bewaldetes Tal, aus dessen gegenüberliegender Seite schließlich das Gebirge wuchs. Zehn Tonnen, dachte Carina aus irgendeinem Grund, während der Truppentransporter auf die Brücke rollte und aus dem Knirschen der Reifen auf dem Schotter der letzten Kilometer nun eher ein Surren wurde, als sie über die Betonplatten glitten. Die Brücke sah nicht aus, als würde sie oft befahren werden; eine Behelfstrasse, falls die Anlagen im Gebirge gerade nicht über den Luftweg erreicht werden konnten.
Carina verfolgte den Lauf des Flüsschens das Tal hinab, bis es nur noch ein Glitzern zwischen den Bäumen war. Sie werden schon verstehen, dachte sie, wenn sie erst hier unten sind. Dann hörte sie etwas, eine Folge von lauten Schlägen, die durch das Tal hallten.
„Was …“, sagte der Fahrer neben ihr; dann sank der Truppentransporter vor ihnen plötzlich gut einen Meter in die Tiefe. Carina sah, wie das Geländer entlang der Brücke nervös waberte und schließlich an mehreren Stellen auseinander barst, und keine Sekunde später ging erst ein Ruck durch das Fahrzeug, bevor sich alles drehte und sie nur kurz durch die Windschutzscheibe vor sich die Baumwipfel im Tal sah, die –
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„Ah“, sagte Park, „Das Leuchten am Himmel, das wart dann ihr?“
„Vermutlich“, sagte Appiah, „für einen Augenblick.“
Die müden Leute in der Lobby trugen zwar Raumanzüge, sahen aber eher aus und rochen vor allem so, als hätten sie sich die letzten Tage irgendwo im Unterholz herumgetrieben. Eine ganze Gruppe scharte sich stumm um den Wasserspender in der Ecke; andere starrten verloren auf die Ansicht des Bergsees draußen, der hier auf großen Displays friedlich in der Mittagssonne glitzerte; tatsächlich befand sich der See etwa hundert Meter über diesen Räumen, aber schließlich war die hübsche Landschaft nicht so weit weg und auch psychologisch wohlfeil.
Appiah war in einem Sessel versunken, und Park, der selbst noch die Wanderung der letzten Tage in allen Zellen spürte, hätte sich gerne einen Stuhl geholt und einfach schweigend dazugesetzt.
„Was gibt es Neues“, sagte Appiah, nachdem er sich die Stiefel ausgezogen hatte. Yato schien sich einen Becher Wasser ins Gesicht gekippt zu haben und setzte sich auf die Armlehne eines der Sessel.
„Neues“, sagte Park, der mit diesem Begriff nicht mehr viel anfangen konnte, seitdem die Morgenröte hier alles lahmgelegt hatte. Seien wir ehrlich, dachte er. „Wir haben noch diese Festung, aber das heißt nur, dass wir nicht riskieren können, auch sie noch zu verlieren. Neues müsste irgendwo anders passieren, aber wir wissen nicht, was irgendwo anders passiert.“
„Die Galaktische Patrouille hat ein Schiff und ein Portal im System. Aber bislang ist es nur ein Schiff und ein Portal.“ Appiah seufzte. „Vielleicht mehr, vielleicht weniger.“ Die Situation war unsäglich: Natürlich konnten sie jetzt von der Festung aus Kontakt zur Gandiva Zwei aufnehmen, würden aber damit nur sowohl Festung wie Schiff gefährden.
„Es ist doch ganz einfach“, sagte Yato. „Sie dürfen gar nicht erst dazu kommen, nach dem einen oder dem anderen zu suchen. Um mehr brauchen wir uns nicht zu kümmern.“
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Am zweiten Morgen hatte Elvis die Beiden gefragt, ob sie nicht vielleicht ein paar Lieder für den Weg kannten, woraufhin sie sofort eines der Stücke angestimmt hatten, das wohl viele hunderte Generationen auf den Kasernen der Erde und später anderer Planeten überlebt hatte. Die Melodie war gerade rudimentär genug, um dafür nicht Singen können zu müssen. Nach ein paar Strophen merkte Elvis, wie sehr es das Marschieren erleichterte; ein paar Hügel weiter merkte er, dass effizientes Marschieren ihm selbst weniger zusagte, als sich zu Haikus mühsam voranzuschleppen. Vielleicht war das keine so gute Idee gewesen, dachte er, als ihn die Melodie selbst im Kopf noch antrieb, nachdem sie alle zum Singen schon viel zu heiser waren. Hoffentlich ist mein Cassius noch ganz, noch einmal mache ich das nicht mit.
Sie waren wieder mitten in einem der Lieder, als alle drei fast zeitgleich innehielten. „Da“, sagte der Soldat. In der Ferne waren jetzt die Formen der Stadt zu erkennen, grün-graue Erhebungen wie bewachsene Felsen, die aus irgendeinem unheimlichen Grund zu einem symmetrischen Raster geraten waren. Den Rest des Wegs sangen sie nicht mehr. Elvis hatte den Beiden erzählt, wie Park und er die Stadt durch den Tunnel verlassen hatten, doch von einem sicheren Fleck zwischen ein paar Bäumchen aus sahen sie an dessen Einfahrt zwei bewaffnete Leute, die hier gelangweilt Wache standen. Elvis wollte lieber nicht weiter darüber nachdenken, ob sie damals nur sehr viel Glück gehabt hatten, oder die goldene Armee die Tunnel erst später gesichert hatte. „Da ist ein Wald, weiter hinten“, sagte er, „direkt am Stadtrand.“
Der Soldat nickte. „Wir warten, bis es dunkel wird.“ Er nahm seinen Rucksack ab und suchte etwas heraus; einen Revolver aus blauschwarz glänzendem Metall, der selbst in seiner großen Hand noch mächtig wirkte. „Da“, sagte er, „mechanisch. Den Plan haben sie in den Archiven gefunden, das beste, was wir jetzt haben.“
„Lass mal“, sagte Elvis, „würde nur aus Versehen noch euch treffen, oder jemanden.“
„Danke für die Ehrlichkeit“, sagte der Soldat mit einem Schulterzucken.
Sie warteten in dem Wald über der Stadt, bis es dunkel wurde und die meisten der Lichter in den Häusern gelöscht waren. „Du musst uns jetzt helfen“, sagte der Soldat, der mit einem Fernglas die Dächer absuchte. „Die Scharfschützen, kannst du sie noch sehen?“
Elvis aktivierte die Nachtsicht in seinem Implantat. Sie half nicht viel, aber immerhin konnte er noch mehrere der Gestalten ausmachen, die von oben aus die Straßen und Plätze überwachten. Unten war es noch so still wie zuletzt, als er die Stadt verlassen hatte, aber hier und da flackerte noch Licht hinter einem Fenster oder auf einem Balkon. „Ja“, sagte er. „Wenn wir nicht auffällig sind, sollten sie uns in Ruhe lassen. Sobald wir in der Stadt sind, unter den anderen Leuten.“
Als die Posten auf den Dächern der nächsten Blöcke gerade ihre Positionen wechselten, schlichen sie vorsichtig in die Stadt hinab. „Vier Blöcke“, sagte Elvis, als sie bei den ersten Gebäuden angekommen waren. „Erstmal geradeaus.“ Verlassene Marktstände waren über den Platz zwischen diesen Blöcken verstreut. Sie würden gegebenenfalls gute Deckung bieten, aber vielleicht wäre gerade das verdächtig. Auf einem Dach vor ihnen hob sich die Silhouette eines Soldaten schwach vor dem dunkelblauen Nachthimmel ab, und Elvis hatte das plötzliche Bedürfnis, wieder einen der simplen Marschgesänge anzustimmen.
„Hey, wollt ihr einen Tee“, rief jemand. „Ja, ihr.“ Nicht weit von ihnen saßen ein paar Leute auf einer Terrasse, zwei oder drei, die Gesichter nur schwach von ein paar Kerzen beschienen.
Der Soldat stöhnte leicht. „Umso besser“, sagte seine Kameradin. „Unter Leute, nicht auffallen.“
„Hey“, rief Elvis zurück.
Aus der Nähe konnten sie die drei Personen besser erkennen; ein kräftiger Mann mit buschigem Bart und einem glatten Schädel, der im Kerzenschein glänzte, und zwei Jugendliche, deren Haare unlängst ohne professionelle Hilfe geschnitten worden waren oder einem Trend folgten, den Elvis noch nicht mitbekommen hatte. „Bruder“, sagte Elvis, „ich kenne dein Gesicht, hast du nicht eine Bar, da vorne?“
Der Mann klopfte auf den Tisch. „Das ist die Bar, jetzt. Was soll ich mit der anderen, wenn niemand mehr auf die Straße geht. Wollt ihr jetzt einen Tee, oder nicht.“
„Wollt ihr Karten spielen“, sagte einer der Jugendlichen, ohne aufzuschauen, „Mutter war müde, ist schon schlafen.“
Elvis schaute zu der Silhouette hoch, aber konnte von hier aus nicht einmal erkennen, ob die Gestalt auf dem Dach ihnen nicht den Rücken zudrehte.
„Ein Spiel aber nur“, sagte die Soldatin. Sie stiegen die Stufen zur Terrasse hoch. Es gab draußen nicht genug Stühle, und die Soldatin setzte sich auf die niedrige Mauer.
„Wo kommt ihr her, mit euren schweren Rucksäcken“, sagte der Mann.
„Von draußen“, sagte die Soldatin, „wir waren ein paar Tage in den Feldern. Reichen aber auch, ein paar Tage.“
„In der Stadt ist es besser, nicht wahr“, sagte der Mann, während er die Karten austeilte. „Selbst jetzt. Selbst jetzt ist es noch besser.“
Das Spiel ging schnell vorbei, und nach dem zweiten stand der Mann auf und verschwand in der Wohnung, um kurz darauf mit einem Tablett mit sechs kleinen Gläschen zurückzukommen.
„Bruder“, sagte Elvis, „du hast noch Schnaps?“
„Man muss gut rationieren“, sagte der Mann.
„Vater“, sagte seine Tochter.
„Das“, sagte er und drückte einen Zeigefinger auf den Tisch, „ist die Bar.“
Sie tranken die Gläschen aus und spielten noch ein weiteres Spiel.
„Uh“, sagte die Tochter und streute etwas Wachs zurück in die Kerzenflamme, das sie vom Tisch gekratzt hatte, „jetzt habe ich Hunger.“
„Die Küche ist zu“, sagte der Mann. Der Soldat beugte sich zu seinem Rucksack herunter. „Danke für den Tee“, sagte er und reichte dem Mann unter dem Tisch eine der Rationen Maisgrieß, die sie auf den Weg mitgenommen hatten.
„Danke“, sagte der Mann, „aber die Küche ist trotzdem zu. Es ist spät, ich mache kein Feuer mehr an.“
„Mh“, machte die Tochter.
Elvis lehnte sich in dem Korbstuhl zurück und kraulte die massive Katze, die ihm irgendwann zwischen den Spielen auf den Schoß gesprungen war. Das war gut, da es mittlerweile etwas kühl geworden war.
„Sie mag eigentlich gar keine Fremden“, sagte der Mann und deutete auf das Tier.
„Das stimmt doch gar nicht“, sagte Elvis zu der Katze.
„Bei Yungs ist noch Licht“, sagte der Sohn. „Die sitzen noch draußen.“
„Vielleicht haben sie ja noch was“, sagte der Mann und stellte die Gläschen wieder auf das Tablett.
„Yungs essen immer spät“, sagte die Tochter und drückte mit dem Fingernagel den Rand der Kerze ein, bis das flüssige Wachs die Seite herunterlief.
Der Junge kletterte neben der Soldatin auf die Mauer. „Yuuuuuungs!“, rief er über den Platz hinweg zu einer anderen Terrasse. „Habt ihr noch Essen?“
„Ruhe!“, rief jemand aus dem Block. Die Silhouette war mittlerweile verschwunden, aber Elvis entdeckte schnell zwei andere Gestalten auf den Dächern.
„Kommt rüber“, rief jemand von der anderen Terrasse.
„Geil“, sagte das Mädchen und stand sofort auf.
„Macht nicht so lange“, sagte der Mann.
„Danke für den Schnaps“, sagte Elvis.
„Lässt du unsere Katze hier“, sagte der Mann zu Elvis, der beim Aufstehen das Tier unter einen Arm genommen hatte und sich mit dem anderen mühsam den Rucksack anzog.
„Oh ja“, sagte Elvis und stellte die Katze wieder ab.
„Nicht auf den Tisch“, sagte der Mann. „Einfach auf den Boden.“
Bei den Yungs auf der Terrasse aß Elvis vorsichtshalber eine Schale Curry, da es genug gab und sie wahrscheinlich eine lange Nacht vor sich hatten. Auch hier gab es Tee, und weil die anderen noch nie auf der Erde gewesen waren erzählte die Soldatin ein paar Geschichten aus der Steppe. Sie hatte sie Elvis schon auf dem Weg durch die Felder erzählt, und er war sich sicher, dass beim letzten Mal viele der Details und Figuren noch anders gewesen waren; aber sie machte das so gut, dass er gerade bei den Änderungen und Variationen bekräftigend nicken musste.
Es war tief in der Nacht, als sie sich aus dieser Runde verabschiedeten. Sie passierten die nächsten Blöcke, ohne aufgehalten zu werden; in der Plauderstimmung hatten sie so gut wie vergessen, dass letztere eigentlich nur Tarnung hätte sein sollen.
„Alles klar?“, fragte die Soldatin, als Elvis plötzlich stehen blieb.
Er schaute zurück und in die Straßen hinein. „Ich dachte gerade“, sagte er, „wir wären falsch. Aber … alles gut.“ Es war nur der Platz zwischen den nächsten Blöcken, der sich verändert hatte. Natürlich fehlte zuallererst die Beleuchtung, und Elvis brauchte eine Weile, um die kleinen Baumgruppen und Beete wiederzuerkennen; das war ein Park, den er trotz der Nähe zu seiner Wohnung selbst selten besucht hatte, eine große Grünfläche, auf der Familien spielten und junge Leute sich zum Picknick auf dem Rasen ausbreiteten und dann vielleicht lange genug blieben, um ins Licht der Laternen auf eine der Bänke umzuziehen. Davon war nichts geblieben; jetzt ragten alle paar Meter einsame Stangen in die Höhe, von deren Spitzen Büschel an Lumpen oder irgendwelchen Stoffbahnen herabhingen wie Treibgut aus einer längst vergangenen Flut. Der kleine Hügel in der Mitte des Parks, auf dem manchmal irgendwer ein paar Stände oder eine Bühne aufbaute, war jetzt mit Dutzenden von großen Steinen und simplen Holzkonstruktionen bedeckt.
„Lasst uns weitergehen“, sagte Elvis.
„Was ist das alles“, sagte die Soldatin, während sie eine der Stangen passierten. Elvis berührte im Vorbeigehen das kalte Metall; das waren die alten Laternen, oben mit beschriebenen oder bestickten Stoffbahnen behangen und umwickelt.
„Ein Friedhof“, sagte der Soldat leise, „das ist ein Friedhof.“
„Ein was?“
„Die Toten. Sie werden hier begraben. Da oben.“
„Begraben.“
Neben den Steinen auf dem Hügel waren ein paar Menschen um ein Licht versammelt.
„Ich will mit ihnen reden“, sagte Elvis und ging auf den Hügel zu. Die beiden anderen sagten nichts.
Die Leute blieben sitzen, als sie bei ihnen ankamen. „Grüßt euch“, sagte jemand aus der Runde.
Elvis hatte das dringende Bedürfnis gehabt, mit diesen Leuten zu sprechen, aber jetzt fiel ihm nichts ein, das er fragen konnte. „Wir sind nur auf dem Heimweg“, sagte er, „haben das Licht gesehen.“
„Wir haben vorhin unseren Freund begraben“, sagte jemand aus der Runde. Es waren alles ältere Menschen, die hier auf dem Boden saßen, zwischen ihnen ein Teller, auf den sie dicke Kerzen gestellt hatten, und ein weiterer mit den Resten eines Brotfladens.
„Was ist passiert?“, fragte die Soldatin.
„Er war krank. Daran stirbt man jetzt“, sagte jemand.
„Habt ihr noch niemanden verloren, seitdem?“, fragte eine Frau aus der Runde. „So ist das“, sagte sie und deutete zu den Gräbern. „Leute werden krank, Leute haben einen Unfall, niemand kann ihnen helfen, niemand kann sie zurückholen. Da hinten: Das war die Tochter von meinen Nachbarn, sie ist bei der Geburt gestorben. Wie ist das möglich? Wusstet ihr, dass jemand bei der Geburt sterben kann? Ich nicht.“
„Wir sind schon alt“, sagte jemand anderes, „aber ihr jungen Leute? Was heißt schon Leben, wenn es plötzlich vorbei sein kann?“ Der Alte zuckte mit den Schultern. „Es ist noch Brot übrig, wollt ihr?“
„Habt ihr etwas zu Trinken da“, sagte der Soldat.
„Da kommt ihr wirklich spät.“
„Deswegen frage ich“, sagte der Soldat und stellte seinen Rucksack auf den Boden, um aus dessen Tiefen einen Flachmann zu holen. „Wir kommen von draußen“, sagte er, während die Flasche die Runde machte.
„Das sehen wir“, sagte jemand.
Der Soldat schaute zu den Dächern hinauf. „Kämpft hier jemand? Kämpft ihr gegen diese Leute?“
„Wozu? Wenn sie weg wären, dann wäre immer noch alles hinüber. Nein, sie sollen die Maschinen wiederbringen, die Elektrizität. Dann kämpfen wir, und nehmen es ihnen weg.“
„Das ist ein gutes Argument“, sagte der Soldat, nachdem er eine Weile nachgedacht hatte. Sie tranken die Flasche leer, und danach die seiner Kameradin. Irgendwann fing es an zu regnen.
„Wir sollten weiter“, sagte Elvis. „Bevor es noch hell wird.“
Die Alten schien der Regen nicht zu stören, und so verließen sie die Runde. Bis zu seinem eigenen Block war es nicht mehr weit.
„Bruder“, sagte der Soldat und legte Elvis eine Hand auf die Schulter, „wenn wir hier lebend rauskommen, machen wir auch so mal eine Nacht durch.“
„Und wenn wir hier nicht lebend rauskommen“, sagte die Soldatin, „dann auch. Später, eben.“
Jetzt regnete es ernsthaft. Elvis schob sich die nassen Haare aus der Stirn. Am anderen Ende des Platzes sah er die Umrisse seines Gleiters. Müssten wir jetzt nicht rennen, dachte er, wäre das nicht normal, bei Regen. Oben auf den Dächern warteten immer noch die Schemen; einer war näher an den Rand getreten, und Elvis meinte, die goldene Rüstung im Regen schimmern zu sehen.
Der große Soldat hielt immer noch die Hand auf Elvis’ Schulter. „Ja“, sagte Elvis, und klopfte ihm freundlich auf den Rücken. „Sonst später.“
Der Cassius stand zwischen einigen anderen Gleitern, wie Elvis ihn hier zurückgelassen hatte. Er wischte den Regen von dem Interface neben der Tür ab. Es begann sanft zu leuchten, als der Computer Elvis’ Handfläche erkannte. „Ach so“, sagte er. „Wenn wir hier nicht lebend rauskommen, werde ich später gar nicht wissen, wer ihr seid. Meine letzte Aufzeichnung, da kannten wir uns noch nicht.“
„Das ist doch egal“, sagte die Soldatin. „Wir werden uns schon verstehen.“
„Stimmt“, sagte Elvis. Das Türpaneel schob sich mit einem leisen Zischen vor und glitt zur Seite. Sie zwängten sich in die Kabine, und Elvis ließ die Tür wieder zugleiten, während die Beiden hinter ihm in den engen Sitzen versuchten, ihre Rucksäcke abzunehmen. Der Cassius startete mit einem leichten Brummen, dass Elvis immer noch viel zu laut vorkam, wie auch die Beleuchtung des Armaturenbretts viel zu hell blieb, so sehr er sie herunterdimmen mochte. Er ließ die Maschine abheben. „Seid ihr angeschnallt?“, fragte er und beschleunigte schon, ohne die Antwort abzuwarten. Die Blöcke zogen draußen an ihnen vorbei, aber sie waren bereits zu schnell, um mehr als hier und da ein warmes Licht in den Fenstern erkennen zu können. Elvis traute sich nicht, zu den Dächern hinaufzuschauen. Der Gleiter war weltraumtauglich und konnte vermutlich auch den Schuss aus einem Gewehr aushalten, aber das war nichts, was er unbedingt herausfinden musste.
„Hat deine Maschine Waffen?“, fragte hinter ihm die Soldatin.
„Was“, sagte Elvis. „Nein.“
„Aber sie ist schnell“, sagte der Soldat anerkennend.
„Ja“, sagte Elvis. Die Schnellste, dachte er, zumindest war sie das gewesen, aber das war Jahre her und auf einem ganz anderen Planeten. Der Regen war stärker geworden. Elvis aktivierte die Geländeerkennung, und der Bordcomputer legte in warmen Bernsteintönen eine Zeichnung über die Ansicht vor der Windschutzscheibe — die klaren Linien der Betonschachteln und davor wolkig die Umrisse der Fassadenbegrünung, die jetzt in einem irgendwie beruhigenden Rhythmus vorbeizogen. Dann hatten sie die Stadt bereits verlassen.
„Müssen wir nicht weiter nach Süden“, sagte nach einer Weile die Soldatin in die Stille hinein.
„Ja“, sagte Elvis. „Hinter uns.“
Die Soldatin beugte sich vor, um die Außenansichten auf dem Armaturenbrett sehen zu können. Mehr als drei gelbliche Flecken war nicht zu erkennen; die Cockpits von drei Maschinen, wahrscheinlich der rautenförmigen Flugzeuge, die die goldene Armee mit auf diesen Planeten gebracht hatte.
„Können sie uns einholen?“
„Theoretisch“, sagte Elvis. Tatsächlich waren diese Maschinen sehr schnell, auch wenn er es kaum mit der eigentümlichen Technologie des Wracks vereinbaren konnte, in dessen Innereien er mit Bayan hatte schauen können. Wahrscheinlich hatten sie zugunsten der Geschwindigkeit auf vieles andere verzichtet, was sonst selbstverständlich gewesen wäre, wie beispielsweise grundsätzliche Überlebenschancen für die Leute an Bord, falls etwas schieflaufen sollte.
„Und praktisch?“, fragte der Soldat. Elvis mochte den Ton seiner Stimme nicht. Er war nicht aggressiv, aber Elvis fiel jetzt ein, dass er keine Papiertüten an Bord hatte. Er warf einen kurzen Blick auf das Armaturenbrett. Immerhin hatten die beiden sich schon angeschnallt.
„Ich versuche, sie in die falsche Richtung zu leiten“, sagte er möglichst sachlich, „die Gegend hier kenne ich ganz gut.“ Unter ihnen glitzerte im Licht der Monde ein Fluss, dem Elvis das eine oder andere Mal zu einem Ausflug gefolgt war. Vielleicht kannst du uns helfen, dachte er. Es würde noch ein paar Stunden dauern, bis es hell wurde, aber die Nacht allein bot keinen Schutz vor den drei Flugzeugen, die sie in wenigen Minuten einholen würden. Elvis zog den Cassius hoch. Aus dem Regen war ein Gewitter geworden, dessen schwarze Wolkenbänke nur wenig vom Sternenhimmel übrigließen. Gut, dachte Elvis und prägte sich ein, was er unter ihnen noch von der Landschaft erkennen konnte. Hinter sich hörte er die beiden Luft holen, als der Cassius schließlich in die Wolken tauchte.
Falls sie nicht alle falsch lagen, was die technologischen Möglichkeiten der goldenen Armee anging, mussten die Maschinen hinter ihnen gerade auf Sicht fliegen; und viel mehr als den Antrieb des Cassius leuchten zu sehen gab es in der Wolke vermutlich nicht. Auch die Cockpits der drei Flugzeuge, in denen sie mittlerweile die Helme der Leute hinterm Steuer hatten erkennen können, waren jetzt nur noch diffuse Lichtflecken.
Elvis schaltete den Schub des Cassius aus und ließ die Maschine zur Seite kippen. Es dauerte ein paar Sekunden, bis sie die Wolke verlassen hatten und der Bordcomputer des Cassius wieder genug Informationen bekam, um das Gelände unter ihnen nachzeichnen zu können; dann brauchte der Computer nur einige Sekunden mehr, um den Kollisionsalarm auszulösen, aber es ging alles ohnehin zu schnell, um auf etwas anderes als Instinkt vertrauen zu können. Die Triebwerke an der Unterseite des Cassius sprühten Wasser in die Höhe, als Elvis den Gleiter knapp über dem Fluss wieder in die Waagerechte brachte. Der Cassius schlingerte bedrohlich zwischen den hohen Uferbänken, bis die automatischen Stabilisatoren endlich Gleichgewicht herstellten. Elvis machte die Seitentür auf, während die kleine Maschine noch unter eine Brücke glitt. Kalte Luft strömte in die Kabine, und Elvis schloss kurz in seinem Sessel die Augen. Hinter ihm befreiten sich die beiden anderen aus den Sicherheitsgurten. Sie brauchten eine Weile, bis sie wieder etwas Verständliches von sich geben konnten.
„Warten wir eine Weile“, sagte der Soldat, nachdem er eine halbe Wasserflasche ausgetrunken hatte. Seine Kameradin kauerte im Türrahmen und schaute ins Wasser hinab, nur ein paar Reflexionen in der Schwärze des Tunnels.
„Ja“, sagte Elvis, „nicht zu lange, vielleicht schicken sie noch mehr, um uns zu suchen. Aber wer will bei diesem Wetter schon raus.“
„Machst du so etwas öfters“, sagte die Soldatin, die zumindest im fahlen Licht der Kabinenbeleuchtung immer noch sehr blass wirkte.
„Besser nicht“, sagte Elvis, dem wieder sehr klar geworden war, warum er lieber Kinderbücher schrieb, anstatt irgendwelche Rekorde aufzustellen. „Ich glaube, ich weiß eine ganz sichere Route. Wenn wir schnell sind, sind wir in fünfzehn Minuten da.“
„Wir brauchen nicht ganz so schnell zu sein“, sagte sie.
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„Das ist doch ein Witz“, sagte Yato, als sie die Aufzeichnungen durchgingen, die sie in den Datenbanken der Festung zur Invasion fanden. Von den ersten Stunden gab es noch einiges an Aufnahmen, die die Drohnen hoch über der Festung gemacht hatten, während in den Städten die Landungsschiffe der Morgenröte zu Boden sanken und die leuchtenden Wellen einen Block nach dem nächsten lahmlegten. Der Colonel, der dieser Festung vorstand, hatte die Drohnen schnell zurückgezogen, als allen die Gefahr durch den Puls bewusst wurde; der unmittelbare Wirkungsradius dieser Waffe schien nicht allzu groß zu sein, aber auch die Festung war nicht riesig. Seitdem war Acala unsichtbar geworden.
„Ein paar Tausend Leute, um einen ganzen Planeten zu besetzten, nur mit einem einzigen Trick. Mehr nicht“, sagte Yato.
„Zwei Tricks, vielleicht“, sagte Appiah.
„Ja?“
„Dreist genug sein, um mit nur einem Trick einen Planeten erobern zu wollen“, sagte Appiah.
Yato nickte stumm. Im Konferenzsaal hatten sich mittlerweile die ersten Sitzreihen gefüllt. Die kleine Gebirgsbrigade, die hier stationiert war, verfügte über ein paar tausend Drohnen und vielleicht zweihundert Leute, um sie in Betrieb zu halten. Appiah hatte noch gestern mit dem Colonel gesprochen. Es war die richtige Entscheidung gewesen, Acala vom Radar zu nehmen, und diese Festung würde ihren Zweck am Besten erfüllen, je länger sie verborgen blieb. Das konnte aber kein Selbstzweck sein. Acala war als Rückzugsort für die gesamte Division eingerichtet, falls die Städte in der Region aufgegeben werden mussten, und so wirkte der Konferenzsaal immer noch fast leer, obwohl zu der Gebirgsbrigade noch die Kernbesatzung der Sagarmatha hinzugekommen war.
Immer noch etwas schläfrig nach den letzten Tagen hörte Appiah dem Colonel zu, der die Brigade über die Ankunft der Schiffbrüchigen informierte und eine uneingeschränkte Kooperation zwischen der Garde und der Flotte ankündigte, „angesichts der Situation“.
„Wir müssen etwas tun“, flüsterte Appiah Yato zu.
„Ich weiß“, sagte Yato.
Appiah stand auf, als der Colonel mit seiner Ansprache fertig war. „Offenbar bin ich hier der ranghöchste Offizier“, sagte Appiah, „und ich mache jetzt Tee. Wer auch einen Tee möchte, ich bin in der Kantine.“
Elvis schmierte sich gerade ein Brot, als ein gemütlicher Greis und eine große Person mit einem auffällig roten Haarschopf durch die Tür kamen und im Labyrinth der Kantinentische den Weg hinter die Theke suchten. Wie er selbst trugen sie beide nicht die üblichen Uniformen der Garde, sondern graue Trainingsanzüge, auch wenn der Schnitt der letzteren vermuten ließ, dass wer auch immer sie entworfen hatte wahrscheinlich noch den Entwurf für ein Abendkleid von einer Uniform her denken würde.
„Ich würde euch ja ein Brot anbieten“, sagte Elvis nach einem Bissen, „aber ich glaube, ich verstehe den Backofen hier noch nicht ganz.“
„Du gehörst nicht zu dieser Festung“, sagte der alte Mann. Elvis zuckte mit den Achseln, da er ohnehin den Mund voll mit Brot hatte.
„Ich weiß es“, sagte die rothaarige Person, „du bist der Besucher, nicht wahr.“
„Hm“, sagte Elvis, dem die Bezeichnung zumindest nicht falsch vorkam, „ja?“
„Der Besucher“, sagte der Alte, der sich mittlerweile an den Schränken in der Kantine zu schaffen machte.
„Das letzte Butler-Portal“, sagte die rothaarige Person. „Vor ein paar Jahren.“
„Aha“, sagte der alte Mann. „Und jetzt bist du sogar noch weiter weg von zu Hause als zuvor.“
„Wie man’s nimmt“, sagte Elvis. „Und wo kommt ihr her?“
„Ich habe ein Haus auf Trappist’s Merveille“, sagte der alte Mann und machte einen weiteren Schrank auf.
„Ich lebe meistens auf Schiffen“, sagte die rothaarige Person.
„Trappist’s Merveille“, sagte Elvis, „mir hatte jemand gesagt, ich sollte lieber Trappist’s Merveille besuchen als diesen Planeten.“
„Und jetzt sind wir alle hier“, sagte der alte Mann und klappte die Schranktür zu.
„Jetzt sind wir alle hier“, wiederholte die rothaarige Person und hielt Elvis die Hand hin. „Ich bin Yato.“
„Elvis Eric Late“, sagte Elvis und ließ sich von Yato die Hand quetschen. „Opa, falls du den Tee suchst, der ist zwei Schränke weiter.“
„Danke“, sagte Appiah und schlurfte zum übernächsten Schrank. „Aber ich möchte dich etwas fragen.“
„Mhm“, sagte Eric und schmierte sich eine zweite Brotscheibe, obwohl ihm die erste schon schwer im Magen lag.
„Du warst hier, als diese Armee vom Himmel gekommen ist“, sagte Appiah. „Kommt dir etwas Wichtiges in den Sinn? Nur eine Sache.“
„Etwas Wichtiges“, sagte Elvis und streute lieber noch mehr Salz auf die Brotscheibe. „Das vielleicht — ich verstehe nicht viel davon, aber diese Leute, das ist einfach nur eine Armee, oder? Nichts mehr.“
„Nur ist gut“, sagte Yato.
„Nein“, sagte Elvis, „ich meine, sie sind einfach nichts mehr, außer eine Armee zu sein. Versteht ihr?“
„Ja“, sagte Appiah und fand schließlich eine große Dose mit Schwarztee. „Nur eine Armee.“
Mittlerweile hatte sich die Kantine gefüllt. Elvis nahm einen Stuhl und setzte sich hinten an die Wand, während Appiah die größte Kanne ausspülte, die er hatten finden können.
„Gute Arbeit“, sagte Park im Vorbeigehen zu Elvis.
„Danke“, sagte Elvis, aber Park war schon in der Menge verschwunden. Ich sollte gehen, dachte Elvis, niemand hat mich hierher einberufen, und nachher gerate ich noch in irgendwas hinein. Andererseits gerate ich ohnehin in irgendetwas hinein, da kann ich auch sitzenbleiben.
„Ich hatte gerade eine Idee“, sagte Appiah, als die meisten einen Platz gefunden hatten und bereits begannen, untereinander über sonstwas zu reden. „Ich hatte gerade eine Idee. Da ist dieses Buch, das ihr alle gelesen haben werdet. Das Handbuch zum Umgang mit bewaffneten Aufständen, so heißt es. Ich habe die meiste Zeit meines Lebens auf Schiffen verbracht, aber vielleicht wisst ihr besser, was ein Aufstand bedeutet. Achso, den Tee müsst ihr euch hier holen, ja.“
„Ich war auf Gliese Pacifica“, sagte jemand, „das war ein einziger Aufstand, die ersten Monate.“
„Und?“
„Handbuch ist gut. Aber wenn du auf einem Planeten bist, wo dich die Hälfte der Leute hasst, und die anderen hassen mit etwas Glück diese Leute nur noch mehr als dich? Soviel dazu.“ Der Soldat zuckte mit den Schultern und stand auf, um sich einen Tee zu holen. „Aber das ist der Punkt in den Befreiten Sektoren, nicht? Ich glaube, die lernen das da.“
„Vielleicht hätte mir da auch kein Handbuch geholfen“, sagte Appiah und trank seinen Tee.
„Deine Idee, Commodore“, sagte Yato. Elvis sah etwas beunruhigt zu, wie Yato sich eine Scheibe von seinem Brot abschnitt, das immer noch auf der Theke lag.
„Ach ja“, sagte Appiah. „Wir sind hier nicht in den Befreiten Sektoren, also dachte ich, dass wir aus diesem Handbuch einiges abschauen könnten.
„Commodore“, sagte jemand, „aber das ist kein Aufstand, das ist eine Invasion.“
Yato verzog nach dem ersten Bissen leicht das Gesicht und warf einen genaueren Blick auf die Brotscheibe, um sie dann doch aufzuessen.
„Das stimmt“, sagte Appiah. „Wir sind der Aufstand.“
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Dann ist das auch erledigt, dachte Carina, als sie aus einem traumlosen Schlaf aufwachte. Die Aufzeichnung war gemacht; noch ein Besuch auf der Brücke, und dann zurück auf den Planeten. Auch wenn sie sich freute, ihren Vater und alle anderen wiederzusehen, machte es sie bereits jetzt ungeduldig; es gab einfach noch so viel zu tun, und dieses Treffen wirkte beinahe wie ein lästiger Aufschub der viel wichtigeren Zusammenkunft auf dem Planeten selbst, wenn die Morgenröte endlich am Ende ihrer Reise angekommen sein sollte. Aber das gehört dazu, dachte sie. Aber warum ist mir so kalt? Sie streckte sich kurz und öffnete schließlich die Augen. Irgendetwas stimmt nicht, dachte sie. Da war das vertraute gedimmte Licht der Krankenstation und die üblichen antiseptischen Gerüche; den Raum erkannte sie nicht, aber vielleicht hatten sie auf der Morgenröte in der Zwischenzeit umdisponiert. Neben ihr stand Abelia und wirkte ehrlich besorgt. Warum jetzt, dachte Carina. Als sie Abelia zuletzt gesehen hatte, schienen sie einander immer ferner geworden zu sein; Abelia auf eine ärgerliche Weise wohl darüber enttäuscht, dass das Leben auf der Morgenröte eine ganze Weile ohne sie weitergegangen war. Davon war nichts geblieben. „Geht es dir gut“, sagte Abelia.
„Ja“, sagte Carina irritiert, bevor ihr plötzlich schwindlig wurde. „Was ist passiert?“
„Im Bericht stand, dass es Sprengkörper waren“, sagte Abelia. „Als ihr über eine Brücke gefahren seid.“
Ich bin gestorben, dachte Carina. Das ist der Ruheraum, in dem man nach der Rekonstruktion aufwacht. „Warum trägst du einen Raumanzug“, fragte sie.
„Wir sind auf einem Kriegsschiff“, sagte Abelia, „das ist sicherer.“
Carina kam nichts in den Sinn, dass sie darauf entgegnen konnte. „Wie lange … war ich weg?“
„Keinen ganzen Tag“, sagte Abelia. „Als die Meldung vom Planeten kam, haben wir gleich die Rekonstruktion eingeleitet.“
„Nein“, sagte Carina und richtete sich auf der Liege auf. „Ich meine: An wie lange … kann ich mich nicht erinnern? An was?“
„Oh“, sagte Abelia und schaute zum Boden.
„Kann ich auf die Brücke?“
„Natürlich.“
Ich muss einen Fehler gemacht haben, dachte Carina. Das darf nicht noch einmal passieren. „Falls ich …“, fing sie an, besann sich aber doch eines anderen.
„Hm?“
„Ah, nichts.“ Das Schlimmste war freilich, dass sie, so wie sie jetzt war, nichts über ihren eigenen Tod wissen konnte; eine verpasste Gelegenheit, wenigstens etwas daraus gelernt zu haben. „Ist da etwas, das ich wissen muss?“
Abelia runzelte die Stirn, als würde sie sich nachträglich über irgendetwas wundern. „Es war knapp“, sagte sie. „Wir wurden angegriffen, die Morgenröte. Wir sind noch bei den Reparaturen.“
Die Stimmung auf der Brücke hatte sich verändert. Carina dachte zuerst, dass es an den Raumanzügen lag, aber auf den Gesichtern ihres Vaters und Basil Mateis sah sie eine andere Art von Wachsamkeit als zu Beginn dieser Invasion.
„Ihr tragt jetzt alle Raumanzüge“, sagte sie trotzdem.
„Wir sind auf einem Kriegsschiff“, sagte Eran Debro mit einem Tonfall, der vielleicht selbstverständlich, aber vielleicht auch ironisch klingen sollte.
„Ist das deine erste Rekonstruktion?“, fragte Basil Matei.
„Ja.“
Matei lächelte. „Du wirst dich daran gewöhnen.“
Ich werde mich nicht daran gewöhnen, dachte Carina. Ich werde mich nicht daran gewöhnen, Fehler zu machen. „Wenn ihr gestattet“, sagte sie und ärgerte sich sofort über das sperrige Wort, „werde ich sofort auf den Planeten zurückkehren.“
„Natürlich“, sagte Eran Debro. „Der Major deines Bataillons erwartet dich schon. Dein Platoon selbstverständlich auch.“
„Die Leute aus deiner Einheit sind bald vollständig rekonstruiert“, sagte Abelia, die auf ihrem Datentablett in irgendwelchen Akten blätterte.
Meine Einheit, dachte Carina. Sie sind alle gestorben. Das darf nicht noch einmal passieren. Jetzt erst bemerkte sie durch das große Fenster draußen die Schäden an der Morgenröte, an deren Backbordseite nicht nur der Lack fehlte, sondern auch die meisten der Waffen- und Abwehrsysteme.
„Was war mein letzter Einsatz?“, fragte sie.
Abelia rief eine Akte auf. „Du wolltest Rohstoffe für die Reparaturen beschaffen“, sagte sie.
„Welche Rohstoffe“, sagte Carina. Abelia hielt ihr das Datentablett hin. Carina ging die Zahlen durch; mit der Verwüstung, die das Schlachtschiff angerichtet hatte, konnten es auch die Materiallager auf der Morgenröte nicht aufnehmen. Sie schaute wieder von dem Tablett hoch zum Fenster. Seit ihrem letzten Besuch hier — seit dem letzten Besuch dieser Version Carinas zumindest — schien das Trümmerfeld um den Planeten nur noch dichter geworden zu sein, ein Nebel aus Schrott, der sich vor die Sterne legte.
„Entschuldigt“, sagte sie, „das habt ihr sicher schon analysiert, aber wäre es nicht einfacher, alles aus dem Schrott da oben zu extrahieren? Dieses Satellitensystem, zum Beispiel, da müsste alles Nötige sein.“
Abelia wurde rot. Wieso, dachte sie, wie konnte ich das übersehen haben?
Eran Debro lachte trocken. „Natürlich“, sagte er, „aber ihr hattet es angeboten, auf dem Planeten. Wir dachten, ihr sucht eine Aufgabe.“
Carina reichte das Tablett zurück. „Gut“, sagte sie und spürte langsam tatsächliches Leben in ihren Körper zurückkehren, „wir finden sicher wichtigere Aufgaben.“
„Umso besser“, sagte Eran Debro.
Vorschau: Tief im All plant die Galaktische Patrouille, der ungewöhnlichen Situation auf Dunhuang Siebzehn mit ungewöhnlichen Mitteln zu begegnen. Zurück auf dem Planeten versucht Carina Debro, ihr Verhältnis zu den Menschen der Stadt auf eine neue Grundlage zu stellen. „Ich bin hier nur zu Besuch“, sagt Elvis.