Die Kriege der Zukunft [SE01 EP09]
Was bisher geschah: Einige Jahre sind seit der gescheiterten Invasion von Selene vergangen. Die Rolle der Morgenröte in alledem bleibt unklar. Elvis, der mittlerweile auf der Erde lebt, macht sich zu einem fernen Planeten auf, um vielleicht den fehlenden Schluss dieser Geschichte zu erwischen.
„Dunhuang Siebzehn“
Alles an Abelia fühlte sich kalt, klamm und schwach an. Ich muss mehr trainieren, dachte sie. Ach so, wo bin ich? Wo auch immer sie war, es war hier zu hell, um die Augen richtig öffnen zu können. Sie versuchte, das Licht mit der Hand abzuschirmen, aber irgendwas behinderte ihre Bewegungen; mit Mühe konnte sie ihren Kopf genug zur Seite lehnen und halb im Oberarm verbergen, aber nicht viel später hatten sich ihre Augen an das gewöhnt, was nur die übliche Beleuchtung auf der Morgenröte war. „Wie lange habe ich geschlafen“, sagte sie, eher eine Reaktion als eine konkrete Frage.
„Nur ein paar Jahre“.
Abelia richtete sich langsam auf. An ihren Gliedern hingen noch irgendwelche Schläuche; jemand in einem Kittel drehte sich kurz um, um etwas von der Kontrolltafel an ihrer kryogenischen Röhre abzulesen, ging dann aber zur nächsten weiter. Neben der Röhre stand Carina Debro und lächelte auf ihre übliche, etwas arrogante Weise. Das ist Carina Debro, dachte Abelia und blinzelte; sie hatte sich in den paar Jahren wohl nicht allzu verändert, und doch war es so, als wäre sie gerade Carinas abgeklärter, müderer Zwillingsschwester begegnet, von deren Existenz sie zuvor nichts geahnt hatte.
„Es ist Zeit“, sagte Carina. „Phase Zwei, so hieß es doch.“
Sie haben mich geweckt, dachte Abelia mit Genugtuung und doch ein wenig überrascht; ich gehöre wirklich zu Phase Zwei, das war zuvor kein Versehen. „Wo sind wir?“, fragte sie.
🌠
Dunhuang Siebzehn war der zwanzigste Planet, den die Res Publica besiedelt hatte, und das konnte man ihm ansehen. Selene und dem Planeten, von dem Elvis gekommen war, konnte man hingegen ansehen, dass hier eine Notgemeinschaft auf einer Reise ins Ungewisse den Entschluss gefasst hatte, diese Reise schließlich zu beenden, und danach mit den zur Verfügung stehenden Mitteln eine Biosphäre geschaffen hatte, in der Menschen zumindest überleben konnten. Bevor sich hingegen die ersten Terraforming-Maschinen in die tote Staublandschaft Dunhuang Siebzehns senken sollten, hatten sich mehrere Generationen mit der möglichen Zukunft dieses Planeten beschäftigt; als das Terraforming im Gange war, wurden die kleinsten Abweichungen von den vorangegangenen Simulationen akribisch ausgewertet, die Prozedur entsprechend angepasst und gegebenenfalls fehlendes Material durch das Portal von der Erde geholt. So sah der Planet jetzt aus, als wären die typischen Biotope für die jeweilige Klimazone auf der Erde berechnet und dann weitflächig über Dunhuang Siebzehn tapeziert worden.
Die Besiedlung selbst verlief ebenso planmäßig. Die Menschen füllten die Täler mit ihren Städten und die Ebenen mit Getreide; die Berge ließen sie weitgehend in Ruhe, und so blieben sie den irgendwann sorgsam ausgewilderten Tieren überlassen und den Leuten, die sich hierher für einen längeren Spaziergang zurückziehen wollten. Die mit Holzspänen bedeckten Pfade durch die Berge wurden regelmäßig gepflegt; an den Treppenaufgängen um bestimmte pittoreske Felsen herum und an den hübschen, jeweils einen historischen Architekturstil von irgendwoher aufgreifenden Lauben informierten kleine Tafeln, wer ihre Einrichtung jeweils vorgeschlagen hatte, und unter welchem Aktenzeichen die lokale Verwaltung dies dann beschlossen hatte.
Elvis kannte nach ein paar Tagen alle dieser Lauben in der näheren Umgebung und war dazu übergegangen, unterschiedliche Routen zwischen ihnen herauszuarbeiten; eine besonders überzeugende hatte er bereits zu unterschiedlichen Tageszeiten ausprobiert und zufrieden festgestellt, dass eine Gruppe lokaler Paarhufer seine Präferenzen zu teilen schien.
Die Butler-Stiftung hatte Elvis schnell eine kleine Wohnung vermitteln können, nicht viel mehr als ein geräumiges Zimmer mit einer Küchenzeile auf der einen und einer großen Fensterfront auf der anderen Seite. Dann war da noch ein winziges Bad und eine noch winzigere Kammer, in der Elvis erst mühsam seinen Koffer verstaute, bis er ihn wenige Tage später doch einfach offen am Bettende abstellte. Durch die Fenster konnte man aus dem siebten Stock auf einen der typischen Plätze dieser Stadt hinabschauen; wenn auch typisch nur in der Hinsicht, dass der Platz einfach aus dem quadratischen Raum zwischen den Hausblöcken entstand, die wie große Plus-Zeichen in einem simplen Raster angeordnet waren. Es hatte allerdings mehrere Tage gedauert, bis Elvis diese doch sehr einfache Anordnung aufgefallen war, und auch dann erst, nachdem er am Stadtrand den Neubau eines der Blöcke gesehen hatte, eine riesige, unendlich wirre Struktur aus Beton, als hätte eine besonders ungeduldige Person Tausende von kleinen Schachteln auf einem kreuzförmigen Grundriss stapeln müssen. In den nur etwas älteren Stadtteilen verschwand das alles hinter dichtem Immergrün oder vielleicht wild wucherndem Kürbis oder Wein oder Beeren, oder wonach den Menschen jeweils war und was keine längerfristigen nachbarschaftlichen Konflikte mit sich brachte. Aus einem bestimmten Winkel aufgenommen sahen die Blöcke aus, als wäre hier eine Siedlung direkt an einen Hang gebaut worden (das waren selbstverständlich auch die Bilder, die die Verwaltung von Dunhuang Siebzehn für ihre Öffentlichkeitsarbeit verwendete). Manche der Plätze zwischen den Wohnblöcken setzen diese Illusion fort, und so trat man aus einem Gebäude direkt in einen kleinen Bambuswald oder an die Ufer eines friedlichen Sees. Nur einen Block weiter verwandelten vielleicht kleine Pavillons mit Werkstätten oder Bars den Platz in ein dichtes Labyrinth, für das man sich besser erst von oben einen Überblick verschaffte; anderswo blieb ein Platz einfach frei, und die Menschen stellten nur hier und da eine Bank unter einen Baum oder zäunten ein paar Flecken ein, um das eine oder andere Gemüse anzubauen, das für den Balkon zu viel war.
Elvis mochte Dunhuang Siebzehn. Auch wenn sich hinter wirklich allem auf eine fast unheimliche Weise menschliche Planung abzuzeichnen schien, ging hier insgesamt einfach das Leben seine Wege. Er mochte auch die Erde, aber dort war in jeden Quadratmeter eingeschrieben, wie die Menschen diesen Planeten wieder und wieder fast vernichtet hätten; als würden sich hier Schichten um Schichten falscher Entscheidungen und viel zu später Rettungsversuche ablagern und dann wieder punktuell freigelegt werden, um nicht erneut zu vergessen, was damals so unsäglich verlaufen war. Die großen Städte auf der Erde, dachte Elvis, schienen sich einerseits immer unterschwellig dafür zu entschuldigen, dass sie unter ganz falschen Voraussetzungen entwickelt wurden, und andererseits stets stolz auf ihre Geschichte zu verweisen. Dunhuang Siebzehn hatte noch weniger dieser ‚Geschichte‘ als der Planet, von dem Elvis kam: Relevant waren eher die anderen Planeten in den benachbarten Sternsystemen gewesen, auf denen die Res Publica irgendwelche Rohstoffe entdeckt hatte; der Planet mit der Nummer Siebzehn war nur derjenige gewesen, der sich ohne größere Umstände zu einem Wohnort für die Menschen umgestalten ließ, die an der Erschließung der wichtigeren Nummern arbeiteten.
Das dabei alles so umstandslos verlief, machte Dunhuang Siebzehn für viele weiterhin attraktiv. Bayan, zum Beispiel, war auf diesem Planeten, weil er aus den Befreiten Sektoren geflüchtet war und Selene weniger zugänglich fand; jetzt reparierte er hier irgendwelche Werkzeuge oder setzte vielmehr neues Werkzeug aus altem zusammen. Elvis kannte Bayan von der Siedlung auf Selene und hatte sich noch vor der Abreise von der Erde bei ihm gemeldet. Als er ihn am ersten Abend nach seiner Ankunft besuchen ging, saß Bayan in seiner Werkstatt, die er an seine Wohnung im Erdgeschoss eines der Blöcke angebaut hatte: Nicht viel mehr als ein Dach auf stabilen Pfeilern und anstatt von Wänden gerade weit geöffnete Schiebetüren; innen Tische voller Gerümpel und ein Boden aus einem undefinierbaren Verbundmaterial, auf dem Bayan mit einem Strohbesen jeden Morgen meditativ Schneisen freilegte. Ein paar seiner Nachbarn dösten in Liegestühlen auf dem Dach. Sie hatten alte Kisten zu einer kleinen Treppe gestapelt, mit der sie wieder auf ihren Balkon klettern konnten.
Elvis hatte unterwegs zwei Flaschen Bier mitgenommen, aber Bayan hatte bereits eine gut angebrochene Flasche mit fragwürdig süßlichem Kräuterschnaps auf dem Tisch stehen. Mit viel Aufwand rückte er einen winzigen Platz zwischen den Haufen von Einzelteilen frei, um Elvis auch ein Gläschen hinstellen zu können, und musste mehrfach kleine Lawinen unterbinden, die an den Hängen der Haufen drohten.
„Und möchtest du irgendwann zurück nach Gliese Pacifica“, fragte Elvis etwas Schnaps später, „nachdem sie doch diese Regierung abgesetzt haben?“
Bayan fuhr sich über den großen, glatten Schädel. „Was heißt schon abgesetzt“, sagte er. „Da muss besser eine neue Generation an Leuten nachwachsen, was will ich mit den alten.“ Bayan hatte vor langer Zeit etwas an seinen Genen machen lassen (Elvis hatte nicht weiter gefragt) und die Befreiten Sektoren bereits verlassen, als sich die meisten anderen noch nicht einmal vorstellen konnten, dass so etwas irgendwann als unsittlich und schließlich gesetzeswidrig verfolgt werden würde. Heute wusste Bayan von mehreren Personen, die wohl aus diesem Grund verschwunden und nie wieder aufgetaucht waren. Wenn er jetzt nach Gliese Pacifica zurückkehren würde, wären da nur die Leute übrig, die das nicht verhindert hatten. Bayan kippte ein Gläschen Kräuterschnaps hinunter. „Vielleicht zwei. Zwei Generationen. Falls ich dann noch hier bin.“
„Hm.“
„Und du? Wo wirst du bleiben?“
„Gute Frage“, sagte Elvis. „Bleiben kann ich vielleicht überall, aber da sind noch so viele interessante Orte, nicht wahr.“
„Und dann kommst du nach Dunhuang Siebzehn“, sagte Bayan. „Okay.“
„Aber warum nicht“, sagte Elvis, „oder gibt es das hier noch irgendwo anders?“ Es war später Abend geworden. Auf dem Platz spielten ein paar Jugendliche ein Ballspiel; im Dunkel waren fast nur noch der fluoreszierende Ball zu sehen und die Nummern, die auf ihre Trikots projiziert wurden, und dann plötzlich ein Lichteffekt am Boden, wenn jemand ins Tor oder über das Spielfeld hinaus geschossen hatte. Am gegenüberliegenden Gebäude weit hinter ihnen gingen nach und nach die Lichter in den Wohnungen an, warm strahlende Rechtecke in unregelmäßigen Abständen, deren Anordnung selbst das Architekturprogramm für diesen Planeten nur durch einen abenteuerlichen Zufall wiederholen könnte. Elvis wartete fast darauf, dass die leuchtenden Rechtecke sich doch noch in ein ordentliches Raster sortierten, wenn nicht vor seinen Augen, dann irgendwann, wenn er gerade wegschaute.
„Wer weiß“, sagte Bayan. „Das kannst du mir dann erzählen, wenn du alles gesehen hast.“
Elvis mochte diesen Planeten auch aus einem anderen Grund. Obwohl er keinen besonders langen Aufenthalt plante, hatte er dieses Mal seinen Cassius mitgenommen, den Flieger aus seinen Zeiten als Rennfahrer. Der Cassius hatte viele Jahre unter einer Plane vor Elvis’ Haus im Sumpf gewartet; hin und wieder hatte Elvis die Plane angehoben und nachgeschaut, ob die Algen und Moose sich nicht das Fahrzeug geholt hatten, aber die Sorge war unbegründet geblieben. Das war eine ganz elegante Maschine, etwa sieben Meter lang und rot lackiert, mit einer erhöhten Kabine recht weit hinten vor den drei Flügeln am Heck. Behörden verwendeten den Cassius, um damit schnell Menschen oder Dinge irgendwohin, und sei es selbst ins All, bringen zu können. Elvis hatte den Flieger nur geringfügig umbauen lassen, damit ein paar mal den Planeten umrundet und ein paar mal Preise dafür gewonnen, bevor der Cassius schließlich unter seiner Plane verschwand. Vor ein paar Jahren hatte er auf der Erde langwierige Genehmigungsverfahren durchgestanden und war danach wieder verschwunden, diesmal in einem der großen Häfen im Orbit, zwischen tausenden anderer Maschinen, die auf dem Planeten selbst ungenutzt dringend benötigte Quadratmeter belegen würden.
Beim Anblick der ersten Bilder von Dunhuang Siebzehn überkam Elvis ein sonderbares Gefühl, das gleichzeitig wehmütig und erwartungsvoll war; er begann schnell, ein paar Taschen zu packen, die in die Kabine des Cassius passen würden, bis ihn die Türklingel unterbrach. Es war Stella, die Tochter von Charles und Maria, die ihn nach unten zum Essen einlud; am nächsten Tag saß er aber tatsächlich im Shuttle zum Hafen. Auf Dunhuang Siebzehn angekommen ließ er wiederum eine halbe Woche verstreichen, bevor er einen Ausflug im Cassius unternahm, doch nach wenigen Minuten in der Kabine kam ihm nicht nur die Steuerung, sondern auch der Planet vertraut vor. Ruhige Stunden vergingen über dem endlosen Patchwork aus Feldern, während Elvis dem am Horizont untergehenden Stern hinterherflog. Hin und wieder musste er um eine der Städte oder eine Bergkette navigieren, dann verschwand der Stern, und in den Gebäuden und an den Pfaden in die Berge gingen die Lampen an. Elvis steuerte den Cassius dann manchmal hoch in die Atmosphäre, um wieder zur Rotation des Planeten aufzuholen. Dann begannen weit unten die ersten Silizium-Halden, die als Nebenprodukt beim Terraforming abgefallen waren und sich noch heute wie sehr urtümliche Grabhügel zwischen den Feldern erhoben, golden zu glitzern, bis schließlich über dem Horizont wieder der Halbkreis des lokalen Sterns zu sehen war und die ganze Landschaft in schönem Abendlicht glühte. Einige Male flog Elvis an den Resten der riesigen Terraforming-Maschinen vorbei, die nach der Besiedlung einfach ihrem Schicksal überlassen worden waren und unter so vielen Schichten an Vegetation verschwanden, dass sie nur noch die zylindrische Grundform von einem natürlichen Hügel unterschied. Auf der Erde hatte Elvis zu viele Ruinen aus zu vielen Jahrtausenden gesehen; auf Dunhuang Siebzehn blieben die Reste dieser Maschinen die einzigen, und sie markierten nicht das Scheitern irgendeines zivilisatorischen Projekts, sondern den Moment, an dem aus einer staubigen Kugel im Weltall ein Ort wurde, an dem Leben existieren konnte.
Während sich so seine Tage in stundenlangen Spaziergängen, Flügen und Gesprächen mit Nachbarn oder Menschen an Straßenecken verloren, fragte sich Elvis des Öfteren, ob dieser Planet nicht die Vollendung des Lebens war, wie es von der Erde ausging und dort nie auf diese Weise gelungen war. Natürlich gab es auf Dunhuang Siebzehn weniger unterschiedliches Leben — bei der Besiedlung wurde nur angepflanzt und ausgesetzt, was im besten Fall für die gesamte Biosphäre nützlich war und sich im schlimmsten Fall mit dem Rest vertrug. Auch hatte sich hier keine neue Umwelt ausgeformt wie auf Selene oder dem Planeten, von dem Elvis selbst kam; es war viel mehr, als wäre die alte Erdzivilisation um ihre Geschichte bereinigt worden und auch um die Vorstellung, mit irgendetwas Geschichte machen zu können.
Das alles wäre interessant genug gewesen, aber Elvis ertappte sich immer wieder dabei, etwas nervös den Himmel abzusuchen. Er hatte schon eine Weile auf der Erde gelebt, als die Aufnahmen des riesigen roten Schiffes, das sein Kapitän „Morgenröte“ nannte, auftauchten; die Galaktische Patrouille hatte sie wohl widerwillig aus Gründen der Transparenz und vielleicht als Gefahrenhinweis veröffentlicht. Offiziell hieß es, dass dies ein „unbekanntes Schiff“ sei, aber Elvis erkannte es auf den ersten Blick, und nach einer kurzen Suche fand er sich durch eine Menge ähnlicher Vermutungen bestätigt: Das war natürlich kein Kriegsschiff oder etwas Vergleichbares, sondern nur ein anderes Kolonieschiff der Art, mit der seine Leute damals die Res Publica verlassen hatten. Elvis hatte dann nach der Geschichte der großen Auswanderungen gesucht und ein Verzeichnis gefunden, das alle solcher Vorhaben aufzählte, ob nun erfolgreich oder nicht. Da war der Kepler-Exodus („Gruppe 418“), dessen Kolonieschiff noch als interessantes Relikt um seinen Planeten kreiste; da war, etwas später, das Schiff, das irgendwann Selene besiedeln würde („Gruppe 452“); da war schließlich die nächste und letzte der großen Ausreisen („Gruppe 462“). In der Liste war notiert: „Unbekannter Verbleib“, doch wenn man ein Modell des Kolonieschiffs auf die Aufnahmen der Morgenröte legte und entsprechend ausrichtete, passte es ohne weiteres in die Umrisse. Natürlich hatte das Schiff sich verändert: Der konische Bug war neu, der eher untypische Anstrich ebenso, und es war offenbar mit Waffen ausgestattet, die weder in der Res Publica noch auf den unabhängigen Planeten bekannt waren. Die Menschen darauf mussten irgendwo Station gemacht haben, um solche Veränderungen vorzunehmen, aber offenbar wollten sie jetzt zurück, und dies nicht nur, um wieder Kontakt aufzunehmen: Dafür hätte ein viel kleineres Schiff gereicht, wie das kartoffelförmige Ding, mit dem erst Onkel Abe und Harold und danach Elvis und Charles gereist waren.
So rätselhaft vieles blieb, aus diesen Informationen ließen sich Schlüsse ziehen. Die Morgenröte konnte eine bestimmte Strecke in einer bestimmten Geschwindigkeit zurücklegen, was die möglichen Orte einschränkte, an denen sie zum jeweiligen Zeitpunkt auftauchen konnte. Es gab einige Vorfälle — verschwundene Schiffe, Wracks, die im Weltall treibend gefunden wurden, verlassen und ihre Elektronik unwiederbringlich beschädigt. Zwischen diesen Punkten und Strecken zeichnete sich ein Korridor ab, der direkt zu Dunhuang Siebzehn führte, und selbst der Zeitrahmen der Ankunft ließ sich halbwegs vorausberechnen. Elvis fand das so erstaunlich, dass es ihm beinahe unmöglich erschien, nicht zu dieser Zeit an diesem Ort zu sein. Als er dann tatsächlich auf Dunhuang Siebzehn war, hoffte er allerdings, dass das alles nur eine übereifrige Interpretation von ansonsten nur zufälligen Ereignissen war.
🌠🌠
Der Planet war bislang nur eine kleine Markierung auf der Sternkarte; es würde noch eine Weile dauern, bis die optischen Sensoren der Morgenröte den Himmelskörper selbst erfassen und abbilden würden. Sie hatten bereits ein ansehnliches Dossier über diesen Planeten sammeln können, aber Eran Debro war überzeugt, das jede Information entscheidend sein konnte. Ihre frühere Strategie war ein Missverständnis gewesen, oder nicht einmal überhaupt eine Strategie. Es war ein glücklicher Zufall, dass die Pulswaffe der Morgenröte die ganze Flotte dieser sogenannten Befreiten Sektoren außer Gefecht gesetzt hatte; es war ebenso ein glücklicher Zufall, dass sie damit auch den Überfall auf die kleine Mondkolonie ausführen konnten. Vielleicht war es ein weiterer glücklicher Zufall, aber vielleicht auch ein Akt der Höflichkeit, dass sich der kilometerlange Energiestrahl, der von dem Planeten der Menschen mit den bleiernen Augen abgeschossen worden war, nicht innerhalb weniger Sekunden durch die Energieschilde der Morgenröte, dann ihre Hülle und schließlich das Innere brannte, sondern in einigem Abstand an ihr vorbeizog und in den Tiefen des Weltalls verglühte. Debro hatte danach einige der Gefangenen von der Kolonie verhört, aber sie zeigten nur zurückhaltendes Interesse; „oh“, sagten sie, „dann funktioniert es ja“, als wäre es zuvor fraglich gewesen, ob diese Abwehrwaffe ihren Zweck erfüllen würde.
Debro hatte den Befehl zur Kursänderung gegeben, als die Lanze aus tödlichem Licht gerade erst die Morgenröte passiert hatte. Er erinnerte sich noch gut an den verletzten, fast wütenden Ausdruck der jungen Offizierin, die Carina aus Phase Eins übernommen hatte; sie hatte den Mund nur wenige Millimeter geöffnet, wohl um Protest gegen diesen Rückzug einzulegen, sich dann aber eines anderen besonnen. Er konnte ihre Gefühle nachempfinden, doch sie hatten diese Reise nicht angetreten, um bei jeder Gelegenheit gleich alles aufs Spiel zu setzen. Nachdem sie gebührenden Abstand zu dem Planeten aufgenommen hatten und das weitere Vorgehen besprochen worden war, sagte er seiner Tochter, dass ihre Kameradin den nächsten Teil der Reise besser im Kälteschlaf verbringen sollte. Ihr Trotz und ihr Ehrgeiz würden sicher noch gebraucht werden — in den Jahren, die sie bis zu ihrem nächsten möglichen Ziel gemeinsam auf Deck verbringen würden, wären sie jedoch alles andere als hilfreich. Es war auch nicht ungerecht: Nach ihrem wenig rühmlichen Rückzug waren sie gewissermaßen wieder zu Phase Eins zurückgekehrt, und dass nun Eran Debro auf der Brücke stand und Abelia Morse erst aufwachen würde, wenn es wichtigeres zu tun gab, kehrte das frühere Verhältnis in gewisser Weise um. Er hatte die junge Frau bereits auf der Brücke gesehen, wie viele andere, die nun geweckt worden waren. Ob sie in Zukunft eine wesentliche Rolle spielen sollte, würde sich noch erweisen — dass sie jetzt wieder einbezogen wurde, war eine persönliche, kameradschaftliche Entscheidung seiner Tochter. Eran Debro hatte seinerseits eine andere Entscheidung treffen müssen, die viel grundlegender mit der Reise und Besatzung der Morgenröte zu tun hatte, und die für die nächste Schlacht auch bestimmte, dass er einiges an Entscheidungsgewalt abgeben würde.
🌠🌠🌠
Das Hologramm war so groß, dass Dunhuang Siebzehn immerhin auf Erbsengröße projiziert wurde, obwohl ein nicht unbeträchtliches Fragment der Galaxis den ganzen Besprechungsraum füllte. Seth Reinald griff mit Daumen und Zeigefinger an die kleine Kugel aus Licht und rotierte die Ansicht ein Stück um ihre Achse, bis ihm vom anderen Ende des Raumes die Morgenröte entgegenkommen würde, aber soweit waren da nur unterschiedlich eingefärbte Pfeile, die die möglichen Kurse des Schiffs markierten, falls es tatsächlich zu diesem Planeten unterwegs war. Reinald war ein vorsichtiger Mensch und ging davon aus, dass die Morgenröte demnächst auf einen dieser Pfeile einbiegen würde. Die Marine hatte automatisierte Sonden in den Regionen verteilt, die die Morgenröte auf dem Weg zu dem einen oder anderen Planeten durchqueren sollte, und unlängst hatte eines dieser Geräte aus der Ferne einen rötlichen Schweif aufgezeichnet, einen fast transparenten Streifen, der vor den Sternen vorbeizog. Mehr war auch von dem massivsten Schiff bei Lichtgeschwindigkeit nicht einzufangen, aber selbst wenn dieser Streifen und die anderen rudimentären Informationen, die die Sonde hatte aufzeichnen können, kein aussagekräftiges Abbild eines Schiffs hergaben, passte die Morgenröte zumindest perfekt zu diesem dürftigen Schatten. Würde man den rötlichen Streifen auf seinem bisherigen Kurs weiterzeichnen, würde er unausweichlich in den Ausschnitt der Galaxis führen, der gerade den Besprechungsraum in der Kommandozentrale der Garde der Res Publica auf Dunhuang Siebzehn füllte. Seth Reinald war vor drei Erdenjahren hierher beordert worden; seitdem hatte er erfolgreich eine Aufstockung der stationierten Verteidigung erwirkt und erfolglos bei der Marine gebettelt, eine nennenswerte Flotte im Orbit zu postieren. Durch die Aufzeichnungen von der Sonde war nun etwas Bewegung in die Sache gekommen, aber die meisten der Schiffe der Res Publica waren an den Rändern der Befreiten Sektoren verteilt. Nur eine kleine Flotte wurde jetzt hierher abkommandiert. Sie würde Wochen brauchen. Bis dahin musste Reinald mit den Drohnen der Garde und einer Korvette auskommen, die die Galaktische Patrouille vor einiger Zeit geschickt hatte; freilich unterstand das kleine schwarze Schiff nicht seinem Kommando. Erfolglos waren auch Reinalds Versuche geblieben, den Aufbau des orbitalen Verteidigungssystems voranzutreiben; zwar hatte die Verwaltung des Planeten nach der Sezession der Befreiten Sektoren ein entsprechendes Projekt angefangen, aber das damit beauftragte Unternehmen war bislang vor allem damit beschäftigt, Genehmigungsverfahren für irgendwelche Subsysteme anzustrengen, die höchstwahrscheinlich nicht wegen ihrer notwendigen Funktion ausgewählt worden waren, sondern wegen der anzunehmenden Länge der Genehmigungsverfahren. Nun spannte sich also ein lockeres Netz aus Satelliten um den Planeten, die weder untereinander noch mit der Leitzentrale auf Dunhuang Siebzehn kommunizieren konnten, aber möglicherweise bereitwillig Schutzschilde ins Weltall spannen und feindliche Schiffe pulverisieren konnten (für die entsprechenden Tests stand noch eine Genehmigung aus).
Seth Reinald blieb nichts weiteres übrig, als für das Schlimmste gewappnet zu sein. Dafür standen ihm immerhin gut vierzigtausend Drohnen am Boden zur Verfügung, darüber hinaus noch weitere achttausend, die in wenigen Minuten die obersten Schichten der Atmosphäre erreichen konnten. Unter diesen Maschinen waren hunderte mit Tarnvorrichtungen und ausgefeilter Schalldämpfung, die sie zumindest vor ungeübten menschlichen Sinnen verbargen, während Störsender und Magnetfelder sich um die Sensoren digitaler Kontrahenten kümmerten; hunderte andere transportierten Geschütze, die auf fünfzig Kilometer Entfernung die Panzertür zu einem Bunker aufschießen oder wahlweise den gesamten Bunker atomisieren konnten. Noch andere konnten Energieschilde aufspannen, die ohne weiteres einen mittelgroßen Meteoriten im freien Fall abfedern konnten, bevor ihn die anderen Maschinen zu feinem Staub schossen. Das wäre alles mehr als ausreichend, um noch die Kontrolle über den Planeten zu behalten, selbst wenn jede der Städte belagert werden würde und im Inneren bewaffnete Aufstände wüten sollten; die üblichen Szenarien eben, die das Militär der Res Publica regelmäßig ausarbeitete und aktualisierte.
Nur schien es nicht, als würde sich die Morgenröte ihrerseits an die üblichen Strategien halten. Die Res Publica und die Galaktische Patrouille hatten in den letzten Jahren vorsichtshalber ihre Waffen und Drohnen umgerüstet, damit diese besser einem elektromagnetischen Puls standhalten würden, ohne — wie es der Kolonie Selenes ergangen war — außer Gefecht gesetzt zu werden; dann hatten sie vorsichtshalber noch eigene Forschung an Pulswaffen betrieben, um möglichen neuen Entwicklungen entgegenwirken zu können, aber all dies blieb reine Spekulation. Die vielen Unsicherheiten machten Seth Reinald wütend; umso wichtiger war jetzt, dass er in seinem beschränkten Handlungsspielraum keine eigenen Fehler machte.
Reinald schritt ein paar Meter des Hologramms ab. Nutzlos, dachte er; der Maßstab war vielleicht etwas, um wochenlange Schlachten zwischen ganzen Flotten zu planen, aber er hatte keine Flotte, und auch die Morgenröte schien nicht mehr als ein einzelnes Schiff zu sein. Er zog den Maßstab hoch, bis Dunhuang Siebzehn von einer Erbse zu einer Orange angewachsen war, aber auch das half nicht: Es war einfach noch nicht die Zeit für Strategien und Taktiken. Am anderen Ende des Raumes saß eine Offizierin und starrte in eine Projektion über ihrem Handgelenk; irgendwo anders inmitten des Hologramms stand Park Thaeer, der Magister, der seinem Stab zugeteilt worden war. Thaeers Funktion war nicht genau umschrieben; er beriet und analysierte, worin er sich kompetent fühlte. Reinald hatte dagegen nichts einzuwenden: Im Zweifelsfall konnte Thaeer so auf irgendetwas hinweisen, das er selbst nicht zureichend betrachtet hatte, etwas, worin eine mögliche weitere Fehlerquelle liegen konnte.
Thaeer lächelte immer. Im Augenblick berechnete er vielleicht die Abstände der Himmelskörper auf dem Hologramm, oder etwas Ähnliches; nachdem Reinald zuvor den Winkel der Projektion verändert hatte, waren seine Augen kurz aufgeleuchtet, als hätte ihm jemand vor eine aufregende neue Aufgabe gestellt. Wahrscheinlich war keine Situation denkbar, in der sich der Magister nicht mit irgendetwas beschäftigen konnte.
„Dein Verdächtiger ist da“, rief er jetzt durch den Raum.
„Ich weiß“, sagte Reinald. Er hatte gerade die Nachricht auf seinem Implantat erhalten und — jetzt sicher das fünfte Mal — die Akte des dubiosen Mannes aufgerufen, der vor einer Weile auf diesem Planeten aufgetaucht war. Auf den Bildern wirkte er nicht weiter auffällig; etwas verschlafen vielleicht, und auf eine Weise gepflegt, die viel mit richtigen Entscheidungen und wenig mit regelmäßigem Aufwand zu tun hatte. Reinald blendete die Pfeile und sonstigen strategisch relevanten Informationen aus dem Hologramm, bevor der Mann in Begleitung eines Soldaten in den großen Raum und zwischen die projizierten Himmelskörper trat.
Reinald beließ es bei einem förmlichen Nicken, nachdem der Soldat etwas salopp salutiert und sich zur Tür zurückgezogen hatte. „Seth Reinald“, sagte er, „Generalleutnant der Garde der Res Publica auf Dunhuang Siebzehn.“
„Ich bin Elvis Eric Late“, sagte Elvis und bückte sich an einem Planeten vorbei, während er etwas tiefer in den Raum spazierte. „Nicht schlecht“, sagte er zu dem Hologramm.
„Wissen Sie, was das hier ist? Was wir hier sehen?“
Elvis kniff kurz die Augen zusammen. „Da sind wir“, sagte er und deutete zu der Miniatur Dunhuang Siebzehns, die immer noch in der Nähe von Reinalds Kopf schwebte, „und hier, in die Richtung ist Selene.“
„Dann wissen Sie auch, warum Sie jetzt hier sind.“
„Ich dachte, Sie würden mir das sagen.“
„Kommen Sie. Für so etwas haben wir keine Zeit.“
„Ich war damals auf Selene, als dieses Schiff auftauchte“, sagte Elvis und fühlte tatsächlich eine gewisse Beklemmung, oder vielleicht eher, wie diese wegfiel, als er es tatsächlich aussprach; „falls es jetzt hier auftaucht, wollte ich gerne dabei sein.“
„Und Sie wissen, dass es hier auftauchen wird.“
„Ich weiß nur das, was eben so spekuliert wird“, sagte Elvis. „Kommt das Schiff nicht?“ Er streckte die Hand nach einem der Planeten aus, aber Reinald hatte vorsichtshalber die Interfacefunktionen auf Militärpersonal beschränkt, und Elvis griff nur durch die Luft.
„Ist das Ihr Ernst“, sagte Reinald. „Was machen Sie hier?“
„Das ist eine dumme Idee, oder“, sagte Elvis nach einer unangenehmen Pause. „Ich habe meinen Leuten gar nicht erzählt, das ich deswegen hier bin. Die hätten mich doch niemals weggelassen.“ Wenigstens habe ich die Katzen nicht mit hereingezogen, dachte er. Auf der Erde sind sie sicher. Oder?
Jeden Schritt überwachen, dachte Reinald und rief bereits eine Liste mit passenden Leuten aus der Militärpolizei auf, als Elvis den Raum wieder verlassen hatte. „Also ich fand den ganz harmlos, wirklich“, sagte Thaeer und versetzte mit einem kleinen Stoß gegen einen Mond das ganze Hologramm in eine Kreiselbewegung, bevor Reinald ihm den Zugriff sperren konnte. Kein Wunder, dachte Reinald, während Dunhuang Siebzehn langsam an ihm vorbeizog.
Vorschau: Sirenen heulen auf und verstummen bald wieder, während Maschinen vom Himmel regnen; die junge Soldatin schaut in die Höhe und wundert sich vielmehr, wieso dieser Himmel eine Farbe hat. „Sie existiert“, ruft Duncan, „sie existiert wirklich!“