Die Kriege der Zukunft [SE01 EP01]
„Plus Ultra“
Clement Milia legte wider besseres Wissen eine Pause ein. Ich bin jetzt schon zu spät, dachte er und starrte zu dem immer noch winzigen Tor in der Höhe hinauf; eine unerträgliche Blamage, aber, wie ihm plötzlich bewusst wurde, auch eine, an die am Ende des Tages nur noch er sich erinnern würde. Selbst das war, vielleicht, peinlich. Die Treppe zum Bungalow war nicht für Menschen gedacht, die es eilig hatten. Die Generation, die diese Stufen in eine Seite des Tafelbergs gefräst hatte, schien für ein größtmögliches Maß an zugleich Mühe und Muße beim Aufstieg geplant zu haben, und Milia war sich sicher, dass die zwölf Männer, die sich am heutigen Morgen vor ihm auf den Weg gemacht hatten, dies im Gegensatz zu ihm auch vollends auszukosten wussten.
Er wandte sich vom Tor ab, aber sonst gab es hier nur zur Rechten die Felswand und zur Linken die Steppe, mittlerweile einige hundert Meter in der Tiefe unter ihm. Die Sonne stand hoch über dem Horizont; sie selbst war nicht zu sehen, nur die gewaltige bleiche Stelle, die hier jeden Tag über den Himmel kroch. Als die Menschen auf diesem Planeten irgendwann wieder angefangen hatten, Bilder von ihrer Umwelt zu machen, legten sie die Bilder in den grauen Tönen des Himmels und der Steppe an und ließen die bleiche Stelle zuerst leer auf dem Papier stehen, doch schließlich wirkte es redlicher, die Stelle aus dem grauen Himmel auszuradieren; und bald verwendeten sie für ihre Bilder immer dickeres und dickeres Papier, um sich angemessen an der bleichen Stelle abarbeiten zu können.
Was machen wir hier nur, dachte Clement Milia. Er stand schon viel zu lange auf der Treppe und starrte in die Landschaft, aber seine Beine wollten sich nicht bewegen, ob nun aus Angst oder aus Trotz. Milia wischte sich den Schweiß von der Stirn, bevor er wieder die Holzkiste umklammerte, mit der er vor einer gefühlten Ewigkeit, in Wirklichkeit aber kaum einer halben Stunde den Aufstieg begonnen hatte; dann wischte er sich die Hand an der Hose ab und polierte mit einem Ärmel die Seite der Kiste, an der seine Finger klamme Flecken hinterlassen hatten.
Tatsächlich war es nicht mehr allzu weit gewesen. Milia stolperte fast über die letzte Stufe und schenkte auch den in sie eingelassenen Buchstaben keine Beachtung: PLVS VLTRA. Aus der Nähe war das Tor alles andere als winzig. Ein abstraktes Relief im Bronzeguss bedeckte jeden der Flügel; hinter unregelmäßigen Löchern glänzten stumpf Paneele aus braunem Glas. Ein toter Dornenbusch, über einem trüben Tümpel, dachte Milia und zog am Relief, wo sich dessen Formen zu einer Art Türgriff verwuchsen. Der Torflügel bot nur einen Moment Widerstand und schwang dann fast von alleine auf. Im Inneren schimmerte der Bungalow in dunklen, warmen Tönen und roch nach dem Öl, mit hier das Holz behandelt wurde; Staub schwebte in der Luft, obwohl das Gebäude mehrmals in der Woche penibel geputzt wurde. Es war still und so kühl, dass Milia den Schweiß unangenehm klar auf Stirn und Nacken spürte. Die Männer hatten ihre Schuhe ausgezogen und ordentlich an der Wand hinter dem Tor aufgereiht. Milia stellte die Kiste auf dem Boden ab und schnürte seine Stiefel auf. Er war mit dem Zweiten noch nicht ganz durch, als hinter ihm das Tor überraschend laut wieder ins Schloss fiel. Danach war es nur noch stiller, und erst am Ende des Flurs hörte er schließlich Stimmen. Die Kiste an die Brust gepresst schob er die Tür auf und trat in die Halle.
Natürlich waren alle Augen auf ihn gerichtet.
Milia zählte im Kopf kurz durch und registrierte flüchtig den enttäuschten Blick seines Vaters. „Die Herren“, sagte er; mehr gab es glücklicherweise nicht zu sagen. Er trat noch ein paar Schritte vor und klappte seine Kiste auf, während die zwölf Männer ihre Getränke auf die Anrichte zurückstellten oder mit knappen Bewegungen ihre Uniformen zurechtrückten. Für einen Augenblick wurde alles sehr langsam, und Milia erwartete beinahe, dass jemand mit angemessen entschlossenem, aber heiteren Ton verkünden würde, dass diese ganze Angelegenheit abgeblasen sei, woraufhin sich alle ein neues Getränk holen sollten. Dann aber löste sich ein einzelner der Männer aus der Gruppe. Milia nickte ihm zu, während der Alte seine Halskette öffnete und sie samt des Anhängers — kaum mehr als ein rundes Plättchen aus Metall — in das vorgesehene Fach in der Holzkiste fallen ließ. Wortlos kehrte der Mann zu den anderen zurück, um ebenso wortlos Hände zu schütteln; schließlich löste sich der nächste aus der Gruppe, um seinen Anhänger in der Kiste zu hinterlassen.
Und so weiter. Irgendwann stand sein Vater vor ihm. „Clement“, sagte er, bevor er die Halskette löste. „Vater“, sagte Clement Milia. War das ein Abschied? Er war sich immer noch nicht sicher, als alle der Männer alle Hände geschüttelt hatten und die Halle verließen, um sich auf ihre jeweiligen Zimmer zurückzuziehen; alle Hände, außer seiner, natürlich, da er schließlich weiterhin die Kiste zu tragen hatte. Was machen wir hier nur, dachte er wieder. Der Verdacht beschlich ihn, dass diese Frage in Zukunft, in Abwesenheit dieser Männer anders gestellt werden könnte; vielleicht weniger bedeutsam, aber allemal sinnvoller.
Carson Milia schob die Tür zu dem kleinen Zimmer hinter sich zu. Trotz der Verspätung seines Sohnes war es eine gute Zeit: Durch die gelben Papierbahnen vor den Fenstern hindurch tauchte die Nachmittagssonne den Raum in eine goldene Stille. Die leisen Schritte seiner Kameraden und das Geräusch der Schiebetüren auf dem Flur verliehen der Situation etwas Alltägliches, ohne sie weniger feierlich zu machen. Wie es sein sollte, dachte er. In der Mitte des Zimmers lag ein kleiner Teppich aus Filz, und auf dem Teppich eine längliche Holzkiste, kleiner als diejenige, in der er vorhin seine Aufzeichnung hinterlassen hatte. Milia kniete sich hinter die Kiste auf den Teppich und klappte sie vorsichtig auf. Eine Weile betrachtete er den eigenen Schatten, wie er auf die Kiste und ihren Inhalt und ein Stück über den Teppich hinaus auf den polierten Holzboden fiel.
Durch die dünne Wand zum rechten Nachbarzimmer war ein dumpfes Geräusch zu hören.
Milia knöpfte seine Jacke auf und schob sie links hinter die Schulter zurück. Dann nahm er den langen, schlichten Dolch aus der Kiste und setzte seine Spitze auf Höhe seines Herzens zwischen den Rippen an. Die Klinge versank umstandslos in Carson Milias Brust, und er stellte mit einer gewissen Befriedigung fest, dass diese Erfahrung nur er und jetzt –
🌠
Der kleine rote Fleck breitete sich zaghaft in unterschiedliche Richtungen aus, bis schließlich eine dicke Linie nach unten ausbrach. Die Linie beschrieb einen eleganten Bogen und wand sich, immer langsamer werdend, kurz zu ihrem Ursprung zurück; doch bevor sie sich zu einer Spirale ausbilden konnte, verlief sie an ihrem Ende zu einem feinen Netz aus kleineren Bögen, als würde im Zeitraffer eine sonderbare Pflanze sprießen, ein Baum, der vielleicht nur aus Blättern oder vielleicht nur aus Ästen bestand. Das war insofern richtig, als dass sich die Leute hinter diesem Muster sowohl bei historischen Ornamenten wie bei bestimmten Erkenntnissen aus der Botanik bedient hatten. Nun waren auch aus dem ursprünglichen Fleck weitere Ableger entwachsen, und ehe Stella sich versah, war die ganze Wand mit einem Geflecht aus gewundenen roten Linien bedeckt, die sich hier und da zu einem Fleck verdichteten und anderswo in filigranen Verästlungen auflösten.
„Oooh“, sagte Stella und beobachtete, wie das Tapetenmuster in die letzte freie Ecke des Raumes blutete.
„Aber vielleicht nicht dieses Rot“, sagte Maria und rief die Farbpalette auf. „Wir können uns auch etwas für den Hintergrund aussuchen. Was meinst du?“
Charles sah eine Weile zu, wie Stella die waghalsigsten Farbkombinationen anging und dann, dank subtiler Eingriffe ihrer Mutter, unterschiedliche Nuancen eines freundlichen Zusammenspiels von Gold und hellem Grün auslotete. Sie lebten schon seit Jahren zusammen, waren aber gerade erst in einen dieser mehrere Generationen zusammenbringenden Baukomplexe gezogen. Das Ganze war schon lange geplant, doch es hatte eben auch Jahre gedauert, in denen jeweils irgendeine der dazugehörigen Generationen jeweils andere Sorgen hatte (ob diese nun mit einer der anderen Generationen zu tun hatte oder nicht). Jetzt saß Charles zufrieden zwischen Umzugskisten im Kinderzimmer und starrte in die Farbveränderungen in der Tapete wie in einen überdrehten Sonnenuntergang.
„Elvis Eric Late“, sagte er ein paar Minuten später, „wer war das nochmal?“
„Hmm“, sagte Maria und justierte die Komplexität der feineren Verästelungen.
„Arbeit. Ich muss ihm sagen, dass er ein Haus von seinen Onkeln geerbt hat. Wer war das nochmal?“
„Elvis Eric Irgendwas“, wiederholte Maria. „Ja.“
„Ich weiß es“, sagte Charles und stand von der Umzugskiste auf. Stella hatte glücklicherweise bereits die Inhalte der meisten Kisten auf den Teppich ausgeschüttet, und nach kurzer Suche fand er ihr Bilderbuch und in dessen Bibliothek den Titel, den er suchte. Er lud die Geschichte auf die dicken Seiten des kleinen Buchs, und bald waberte in freundlichen Buchstaben der Name über der Illustration auf dem Umschlag: Elvis Eric Late. „Mein Lieblingsbuch!“, rief Stella und riss ihm das Buch aus der Hand, um es sofort wieder wegzulegen und sich weiter um die Tapete zu kümmern.
Charles tippte auf den Namen, bis das Porträt des Autors und ein paar Sätze zu seinem Leben erschienen: Ein Mann unbestimmten Alters mit schläfrigen Augen vor dem üblichen Hintergrund aus Weiden und etwas Sumpf, wie er mit leichten Anpassungen an die jeweilige Klimazone den ganzen Planeten beherrschte. Der Mund unter der langen Nase des Mannes war zu einem halben Lächeln verzogen; wie eingefroren, dachte Charles, obwohl doch in der Videoschleife im Hintergrund der Wind die Bäume zerzauste und auch Lates Frisur in immer wieder neue Unordnung brachte.
„Gar nicht verkehrt“, sagte Maria nach einem kurzen Blick.
„Aha“, sagte Charles. Er legte das Buch wieder zu den anderen Sachen auf dem Teppich und setzte sich zurück auf die Kiste. Maria und Stella hatten eine interessante Kombination aus gegeneinander verlaufenden Farbübergängen für die Tapete ausgearbeitet. Charles rief das Kontrollpaneel für den Teppich auf und suchte einen gedeckten Grünton heraus; in der Liste mit den Algorithmen fand er einen, der den Flor entsprechend der Windverhältnisse draußen in Bewegung setzte. Ein paar Minuten schaute er zu, wie der Teppich sanft Stellas verstreute Spielsachen umspülte. Dann rief er Elvis Eric Lates Akte auf und tippte auf das Kommunikationssymbol.
Es war schon später am Abend, als Charles auf den kleinen Bungalow zusteuerte. Lates Haus war von Weitem zu sehen gewesen, die großen Fenster gleißende Rechtecke in der endlosen Moorlandschaft, über die die untergehende Sonne noch ein paar letzte purpurne Reflexionen verteilte. Charles parkte seinen Gleiter auf der großen Betonplattform vor dem Haus. Ein paar kleine Dämme führten von der Plattform ins Moor hinaus, aber es war bereits zu dunkel, um erkennen zu können, ob sie noch irgendwo anders hinführten. Late hatte ein Schiff oder etwas vergleichbar Großes unter einer Plane auf der Plattform untergebracht; an den Rändern der Plane verdichteten sich bereits Moos oder Algen, oder was auch immer aus dem Moor nach oben kroch. Ein winziger Gleiter parkte neben der Eingangstür. Immerhin, dachte Charles. Zum nächsten Haus, geschweige denn einer Siedlung, wäre es zu Fuß ein halber Tagesmarsch.
Das Haus schien fast nur aus Fenstern zu bestehen, und Charles musste sich erst kurz an das Licht aus dem Inneren gewöhnen. Late machte sich nicht viel aus seiner Privatsphäre; Charles sah den Mann durch die Glastür irgendwas in der Küche arbeiten und drückte schnell auf den Taster neben der Tür, bevor ihn noch irgendwer beim Beobachten beobachtete.
Late wischte die Hände an einem Tuch ab und kam zum Eingang spaziert. „Komm rein“, sagte er und gab Charles einen Klaps auf die Schulter, nachdem sich die Tür aufgeschoben hatte. Der Mann sah aus wie sein Porträt im Kinderbuch; vielleicht war es neu, oder er hatte sich seit irgendwann nicht verändert. In der Biografie hatte gestanden, dass er vor Jahren Rennfahrer gewesen war, aber das passte genauso — oder genauso wenig — wie Kinderbuchautor. Charles folgte ihm in die Küche. Genauer gesagt war dies, abzüglich Schlaf- und Badezimmer, wohl das gesamte Haus: Ein weiter Raum mit großzügigem Moorblick, in dessen Mitte sich als einziges Möbelstück eine Art frei stehender Küchenzeile verlor.
„Schön, dass das gleich so schnell geklappt hat“, sagte Charles und stolperte fast über eine Katze, nachdem ihn eine andere Katze weiter hinten im Raum und dann noch eine neben der Küchenzeile abgelenkt hatten. „Hoffe, ich störe nicht?“
„Alles klar“, sagte Late. „Magst du ein’ Reiswein?“ Late hatte sich an der Küchenzeile gerade eine dicke Scheibe Brot geschmiert, aber tatsächlich stand daneben eine Schale Alkohol und die dazugehörige Kanne.
„Ah“, sagte Charles, „danke, aber ich bin ja im Dienst.“
„Einen Tee vielleicht.“
„Gerne.“
Late öffnete einen Schrank und begann, auf Knien zwischen Teepackungen zu wühlen. Charles beobachtete die Katzen, die geräuschlos über den polierten Betonboden tapsten. In einer Ecke des Raumes waren Sitzsäcke und andere große Kissen aufgehäuft, aber es blieb unklar, ob sie für Mensch, Tier oder beide gemeint waren. „Ah“, sagte Late und hielt eine Packung in die Höhe, „das ist ein Guter.“
Charles war sich nicht sicher, wozu dieser Mensch noch ein zweites Haus gebrauchen konnte; andererseits war er vorhin die aktuellen Zahlen durchgegangen und hatte nicht den Eindruck, dass gerade irgendwer ein Haus brauchte, das sich nicht auch anderweitig beschaffen ließe. „Hattest du mit deinen Onkeln früher darüber gesprochen?“, fragte er und nippte an dem Tee. Elvis hatte zwischendurch zwei der Sitzsäcke in die Mitte des Raums gezerrt; bequem genug.
„Ganz ehrlich habe ich sie seit Jahren nicht mehr gesehen“, sagte er. „Ich glaube, ich fand sie wirklich in Ordnung, damals. Und offenbar fanden sie mich auch in Ordnung, oder?“ Er lächelte in das dunkle Moor hinter den Fenstern hinein wie jemand, der nicht unbedingt als etwas anderes als in Ordnung befunden werden musste. „Aber: Was machen wir mit diesem Haus? Vielleicht sollte ich es mir ansehen.“
„Das wäre doch gut“, sagte Charles. „Sollen wir einen Termin ausmachen?“
„Hmm“, sagte Elvis, während er mit einer der Katzen spielte. Charles war mittlerweile zu der Einsicht gelangt, dass das mit dem Rennfahren weniger plausibel war als das mit den Kinderbüchern: Der Mann schien sein eigenes Gravitationszentrum zu bilden, auch, was den Verlauf der Zeit anging. Charles würde später nach Hause zurückkommen und entweder er oder seine Familie wären überraschend um Jahrzehnte gealtert, aber das könnte ihm dann Maria erklären, schließlich war sie die Wissenschaftlerin. Er rief in Gedanken die Uhrzeit ab, aber noch schien nichts passiert zu sein.
„Wir könnten sogar jetzt fliegen“, sagte er. Das andere Haus war nicht gerade in der Nähe, aber er konnte mit Late hin und zurück und dann wieder rechtzeitig bei seiner Familie sein, um Stella ins Bett zu bringen.
„Oh, gut“, sagte Elvis und war bereits aufgestanden.
In Elvis’ Gleiter passte nur eine Person. „Ich fahre“, sagte Charles, während Elvis eine Windjacke und eine Art Gummistiefel anzog. Zwei oder mehr der Katzen nutzen die Gelegenheit, um aus dem Haus in die Dunkelheit zu verschwinden. Das Gebäude musste gut isoliert sein: Die Frösche und Grillen schienen nach Sonnenuntergang hier draußen noch lauter zu sein als in Charles’ Nachbarschaft.
Er rief den Autopiloten seines Gleiters auf, noch bevor er sich ganz in die Kabine gesetzt hatte. Elvis war wieder mit einer der Katzen beschäftigt. „Alles klar?“, rief Charles hinaus. Elvis nahm die Katze unter den Arm und setzte erst sich auf den Beifahrersitz und dann die Katze auf seinen Schoß. „Ja?“, sagte Charles.
„Kein Stress, Bruder“, sagte Elvis. Charles ließ den Gleiter abheben.
Das Haus war nicht besonders groß und aus irgendeinem Grund direkt neben einen kleinen Hügel gebaut. Der Hügel hätte das Haus sicher überragt, wäre dieses nicht von einem hübschen Walmdach gekrönt: Wie in einem Kinderbuch, dachte Charles. Er hatte die Scheinwerfer des Gleiters angelassen; die Gegend war besiedelt, aber die nächsten Häuser gut hundert Meter entfernt. „Keine Ahnung“, sagte Elvis, während sie den Hügel anstarrten. „Ich habe sie tausendmal gefragt, warum sie das Haus nicht obendrauf gebaut haben, aber da war ich, was? Zehn?“
„Und was haben sie gesagt?“, fragte Charles nach einer Weile.
„Dass sie dann ja immer hoch und wieder runter laufen müssten.“
Vor der Tür rief Charles die Besitzurkunde auf, und das kleine Haus erwachte zum Leben. Der Staubgeruch war intensiv, aber die Beleuchtung und alles Nötige soweit intakt. Schöne Tapete, dachte Charles, ich sollte später mal fragen, ob er mir die Bibliothek schicken kann. Elvis stand eine Weile unschlüssig in der Küche, dann setzte er sich an den Tisch und wischte mit einer Hand den Staub vor sich weg, nur um dann länger aus dem Fenster zu starren.
„In Ordnung“, sagte er schließlich, „ich werde mich ein paar Tage damit beschäftigen müssen. Sonst sehen wir dann später weiter.“
„Sehr gut“, sagte Charles und hatte schon die entsprechenden Formulare aufgerufen.
Auf dem Rückflug sprang er plötzlich fast im Fahrersitz auf; zum Glück ging Elvis sofort an den Fernsprecher. „Bruder“, sagte Charles, „die Katze. Du hast deine Katze in dem Haus vergessen.“
„Kein Stress“, sagte Elvis. „Morgen früh bin ich sowieso dort. Falls sie bis dahin nicht zurück ist. Sonst finde ich sie unterwegs?“
🌠🌠
Anita Pastor wachte zu einem überwältigenden Schwindelgefühl auf, aber da war nichts; die Folge eines üblen Traums, von dem sonst nichts weiter geblieben war. Der Bordcomputer hatte sanft das Licht aufgedreht, als sie nur die Augen geöffnet hatte, und ebenso automatisch rief Anita noch im Liegen die Konsole der kleinen Fähre auf; aber auch da war nichts, und sie wischte die Projektion wieder weg. Die Übelkeit verzog sich zu einem Frösteln im Nacken und den Gliedern, bevor sie ganz verschwand. Das ist ein Trauma, stellte Anita fest, während sie an die Kabinendecke starrte. Ich werde etwas dagegen tun müssen. Sie war mit dem Leben davongekommen, aber der Apparat, der zu ihrer Ermordung aufgefahren worden war, war so unverhältnismäßig gewesen, dass sie das alles auch mit Lichtjahren Entfernung nicht hinter sich lassen konnte. Zugleich war der Apparat nicht ihretwegen in Bewegung gesetzt worden. Es war keine persönliche Angelegenheit, und der Apparat machte auch ohne sie weiter, und stand gegebenenfalls wieder für sie bereit.
Zum ersten Mal in ihrem langen Leben wollte Anita Pastor einen Krieg gegen etwas führen, aber der Krieg war schon da, und sie flog gerade mit einem gestohlenen Raumschiff aus der falschen Richtung auf eine seiner Fronten zu. Das war nicht weiter überraschend, denn Anita hatte eine ganze Karriere darauf aufgebaut, immer wieder zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein und dennoch zu überleben. Sie schnallte sich vom Bett ab und schwebte zum Sanitätsraum der Fähre. Die Geräte in der Biotech-Röhre knarzten und fiepten einige Minuten, aber schließlich war alles in Ordnung; wie mit ihrem Körper eben immer alles in Ordnung war, wenn sie sich nicht gerade mit schweren Verletzungen auf eine Krankenstation schleppte. Nach ein paar Tagen normaler Ernährung auf der Fähre hatte sie sich soweit regeneriert; ein paar Wochen gutes Training und sie wäre wieder die Alte. Anita hatte beobachtet, wie andere Menschen mit zunehmendem Alter schwächer wurden, doch ihr eigener Körper schien sich auf ein konstantes Potenzial eingependelt zu haben, das sie mit entsprechender Fürsorge erfüllen konnte. Jahrelange Erfahrung hatte dies zu einer nur noch logistischen Angelegenheit gemacht, in der alles sehr präzise in Nahrungsmitteln und Trainingseinheiten berechnet werden konnte. Leider übertrug sich das nicht auf die Menschheit.
Ich kann das nicht mehr, dachte sie. Nur noch dieser eine Krieg. Hoffentlich dauert er nicht so lange. Sie schwebte zur Brücke und schnallte sich in einem der Sessel fest. Anita brauchte nur leicht mit einem Fuß vom Boden abzustoßen, damit sich der Sessel langsam um die eigene Achse drehte. Ich hätte noch jemanden retten sollen, dachte sie, als sich die leeren Sessel der übrigen Crew in ihr Blickfeld und wieder hinaus schoben, dann würde ich hier jetzt nicht alleine wahnsinnig werden. Vielleicht hätte es in der Stadt, in der sie die Fähre gestohlen hatte, eine Untergrundbewegung gegeben, aber vielleicht auch nur Spitzel, die sie sofort an die Behörden ausgeliefert hätten.
Sie hatte sich gerade eine unbestimmbare Zeit lang durch einige Jahrhunderte von Musik in der Bibliothek der Fähre und durch die dazugehörigen Erinnerungen geblättert, als der Bordcomputer sie auf künstliche Energiequellen in der Ferne aufmerksam machte. Wenig später konnte sie auf dem Schirm die kleinen Formen dutzender Schiffe ausmachen: Die Flotte der Res Publica, von der Sergio Brakka gesprochen hatte. Bitte schießt mich nicht ab, Freunde, dachte sie.
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Die Party dauerte bereits etwas zu lange, oder hatte nicht wieder richtig angefangen. Charles und Maria hatten sich mir ihren Getränken auf die Veranda gestellt und hörten den nächtlichen Tieren zu, während drinnen akademische Eliten zunehmend verzweifelten Smalltalk betrieben.
„Das ist kein Frosch mehr“, sagte Maria.
„Hmm“, sagte Charles, bis auch er das Klingeln seines Armbands erkannte und das Kommunikationspaneel herbeiwischte.
„Okay, okay“, rief Elvis in die Kamera. Er hatte Dreck im Gesicht, soweit Charles das auf dem kleinen Hologramm erkennen konnte, aber bevor er überhaupt etwas sagen konnte nahm Elvis sein Armband ab, um die Kamera vor sich auf dem Boden zu positionieren. Eine Weile sah Charles nichts weiter als Elvis’ Hand, Erdklumpen und in grellem weißes Licht glänzende Grasbüschel, bevor Elvis schließlich das Armband passend ausgerichtet hatte und ein paar Schritte nach hinten trat. Charles schloss die Augen und rief die Übertragung direkt über sein Implantat ab. Das alles war vielleicht nicht für die Öffentlichkeit bestimmt und auf der kleinen Holoprojektion ohnehin schlecht zu erkennen, aber auch so war sich Charles nicht sicher, was er hier tatsächlich sehen sollte. „Okay“, rief Elvis wieder, „der Hügel? Da ist ein Gerät drin. Ich weiß nicht, ein Bunker? Eine Fabrik?“ Ein paar Scheinwerfer strahlten die aufgerissene Seite des Hügels an, aber im harten Licht wurden alle Formen nur noch unleserlicher.
„Was“, sagte Charles, bevor irgendetwas das Bild verdunkelte. Er wartete ab, bis Elvis die Katze vor der Kamera wieder entfernt hatte. „Was ist das?“
„Genau“, sagte Elvis und klopfte mit dem Griff seines Spatens gegen das Ding im Hügel. „Was ist das? Also, ich grabe mal weiter.“
Charles öffnete die Augen wieder. Maria war im Laufe des Gesprächs in eine andere Ecke der Veranda gegangen. „Möchtest du einen seltsamen Mann kennenlernen“, sagte er zu ihr, „der etwas aus der Erde ausgebuddelt hat?“
„Was sonst“, sagte Maria.
Elvis winkte aufgeregt mit seinem Spaten, während Charles noch den Gleiter vor dem kleinen Haus parkte. Angesichts der Erdhaufen und des Zustands seiner Kleidung musste er den ganzen Tag hier gearbeitet haben. Maria, die selbst beruflich die meiste Zeit irgendwas aus der Erde grub, wenn sie es nicht gerade im Labor untersuchte, zog routiniert die guten Schuhe aus und stellte sie auf dem Dach des Gleiters ab.
„Da ist oben vielleicht ein Meter Erde“, sagte Elvis, „und darunter eine Plane. Ich habe nur an einer Seite etwas frei gegraben.“
„Dafür gibt es doch Maschinen“, sagte Maria. „Brauchst du einen Kontakt, wo du eine bekommst?“
„Das wäre gut“, sagte Elvis und starrte versonnen den Hügel an. Charles hatte sich mit etwas Sicherheitsabstand vor die Ausgrabung gehockt; da war tatsächlich eine Plane, und darunter die grau angestrichene Oberfläche von was auch immer hier unter einem Meter Erde verborgen worden war.
„Hast du das schon jemandem anderen gezeigt?“, fragte Charles.
„Wozu“, sagte Elvis.
„Ich habe unterwegs nachgeschaut“, sagte Charles, „als die Gegend hier zuerst erschlossen wurde, war der Hügel noch nicht da. Und deine Onkel waren die ersten, die hier etwas gebaut haben.“
„Hm“, sagte Elvis. „Wollen wir reingehen? Ich spüre meine Arme nicht mehr.“
In der Küche roch es nicht mehr intensiv nach Staub, sondern intensiv nach Küche; ansonsten schien Elvis nichts verändert zu haben, bis auf dass er weitere Katzen mitgebracht oder bereits Tiere aus der Umgebung angezogen hatte. „Gemütlich“, sagte Maria und spazierte die Deko an den Wänden ab, während Charles und Elvis sich an der Übertragung der Tapetenbibliothek versuchten, deren Software die Onkel wohl zuletzt vor ein paar Jahrzehnten aktualisiert hatten.
„Sind das die beiden?“, rief Maria zum Küchentisch herüber.
„Genau“, sagte Elvis, nachdem auch Charles und er sich die kleine Kohlezeichnung neben einem der Fenster angesehen hatten. Zwei Männer vor ein paar knorrigen Bäumen, im Hintergrund, wie aus einem dichten Nebel auftauchend, eine große Brücke. „Onkel Harold, und Onkel Abraham.“ Der rechts untersetzt und mit einem massiven Afro, der unmittelbar in einen passenden Bart überging; der links gut einen Kopf höher und von einer Statur, dank der er in der Wildnis wohl einen kleinen Baum ausreißen würde, um sich gegen gefährliche Tiere zu verteidigen. Sie wirkten beide sehr fröhlich.
„Sie sehen nicht aus, als wärst du mit ihnen verwandt“, sagte Charles.
„Sie sehen nicht aus, als wären sie miteinander verwandt“, sagte Maria.
„Aha“, sagte Elvis, „ja, wenn ich jetzt so nachdenke, waren sie wahrscheinlich ein Paar? Als Kind merkt man das ja nicht so.“
„Wo ist das?“, fragte Maria leise. Wenn auf diesem Planeten etwas überbrückt wurde, dann war es vielleicht ein kleiner Steg über einem Bach, der eine etwas längere Strecke brauchte, bevor er in irgendeinem Morast versickerte.
„Bruder“, sagte Charles noch viel leiser, „kamen deine Onkel vielleicht von der Erde?“
Vorschau: Der Kinderbuchautor gräbt ein Ding im Garten seiner Verwandten aus. Es stellt weiterhin alle vor ein Rätsel, aber zumindest eines ist sich Elvis sicher: „Wenn es fliegt, kann ich es fliegen“. Anderswo in der Galaxis steht die junge Weltraumreisende auf der Brücke, während sich vor ihren Augen ein stilles Feuerwerk entfaltet.