Die Kriege der Zukunft [SE01 EP02]
Was bisher geschah: Elvis Eric Late hat von seinen Onkeln ein Haus geerbt, aber interessanter als das Haus ist, was auch immer dahinter vergraben wurde. Elvis’ Fund stellt auch den Anwalt Charles und seine Frau Maria vor ein Rätsel. Charles stellt die vielleicht entscheidende Frage: „… kamen deine Onkel vielleicht von der Erde?“
„Phase Zwei”
Das große Ding lag im Matsch wie ein sattes graues Tier. Elvis hatte mit dem Bagger noch einen zweiten Tag gebraucht, um die Erde zu entfernen und schließlich die Plane herunterzuziehen; jetzt bildeten sie neben dem Ding und dem Haus noch zwei weitere große Elemente auf dem Grundstück. Elvis stemmte die Arme in die Seiten und starrte an dem Ding hoch. Es war nicht ganz unförmig, in dem Sinne, dass es recht offensichtlich nach irgendwelchen Prinzipien geformt worden war. Das ganze Ding war grau lackiert, und an beiden Seiten war mit weißer Farbe eine unverständliche Kombination aus Zahlen und Buchstaben angebracht. Fingerdicke Fugen zeigten, dass die Oberfläche des Dings aus einzelnen Teilen zusammengesetzt war, aber ansonsten gab es hier nichts weiter zu entdecken. Es begann zu regnen. Elvis hatte keine Lust, ins Haus zurückzugehen, und so blieb er stehen, während der Regen an ihn und dem Ding hinunterlief. Es dauerte nicht lange, bis der Regen auch den letzten Rest Dreck von dem Ding gespült hatte.
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Lichtgeschwindigkeit machte Abelia nicht krank wie so manche anderen, aber wohl war ihr trotzdem nicht. Ob es ein Nebeneffekt des Bergenholm-Antriebs war oder ein ganz natürliches Phänomen bei diesem Tempo: Reisen mit Lichtgeschwindigkeit stellte Dinge mit dem menschlichen Empfinden von Gewicht und Bewegung an, als würde der eigene Körper zugleich nach vorne fallen und hinter einem zurückgelassen werden. Auch die anderen Sinne schienen betroffen. Abelia hatte in ihrem noch nicht allzu langen Leben wenig Gelegenheit gehabt, sich ausgiebig zu betrinken, aber einiges war wohl vergleichbar. Sie hatte festgestellt, dass manchmal alles klarer wurde, sobald sie das eine oder das andere Auge zukniff, doch auch dann schienen die Dinge um sie herum zu einem gewissen Grad durchsichtig zu bleiben.
Dass Abelia sich in ihrer Zeit auf dem Schiff noch nicht betrunken hatte, hieß nicht, dass andere diese Möglichkeit nicht wahrnahmen; und tatsächlich hatte diese Expedition so einige in den Suff getrieben. Abelia strafte sie mit Nichtbeachtung; weder konnten sie im aktuellen Stadium der Reise irgendwelchen Schaden anrichten, noch war jemand anwesend, der sie ernsthaft für ihr Verhalten zur Rede stellen konnte. Beides zusammen potenzierte sich zu einem peinlichen Exzess an symbolischer Verantwortungslosigkeit, die, so dachte Abelia, noch unerfreulicher war als Verantwortungslosigkeit, die wirkliche Konsequenzen haben konnte.
Sie war pünktlich zu ihrer Schicht auf der Brücke. Abelia hatte ihr ganzes Leben auf der Morgenröte verbracht. Genauer gesagt waren es zwei Leben gewesen: Zuerst ihre Kindheit, die sie bei ihren Eltern verbracht hatte; danach wurde sie in Kälteschlaf versetzt, und als sie wieder daraus geweckt wurde, waren ihre Eltern bereits alte Menschen und wiederum für sie bald die Zeit gekommen, in der sie sich in den Kälteschlaf verabschieden würden. Abelia schwebte zur Plattform in der Mitte der Brücke. Wornausz hatte sich bereits in den Sessel des Kapitäns geschnallt und rief die Daten der letzten Stunden ab; wie immer wirkte er etwas zerstreut, doch Abelia hatte schnell verstanden, dass er schlichtweg zu professionell war, um sich allzu viel Sorgfalt anmerken zu lassen. Ab und zu hatte sie ihn alleine mit einem Glas Whiskey an der Bar sitzen sehen, aber sie hatte in keinerlei Hinsicht Zweifel an seinen Qualitäten. Manchmal wünschte sie tatsächlich, dass der ältere Offizier aufgeregter wäre: Selbst wenn niemand genau bemessen konnte, wie lange Phase Eins dauern sollte, müsste sie sich langsam ihrem Ende nähern.
Wornausz nickte ihr mit dem üblichen, wahrscheinlich ironischen Lächeln zu, als sie zum Geländer am Rand der Plattform schwebte. Abelia salutierte trotzdem. Unter ihr spannte sich der Rest der Brücke auf. Auch während Phase Eins war sie voll besetzt: Dutzende Menschen saßen oder standen hier vor ihren Kontrollpulten, alle in den grauen Uniformen, die die Besatzung von Phase Eins zu tragen hatte. Abelia trug als einzige ein dunkles Blau; selbst wenn sie an Deck gerade nach Wornausz den höchsten Rang bekleidete, war sie als Quartiermeisterin der Armee nicht Teil der Besatzung. Dennoch gehörte auch das dunkle Blau zu Phase Eins.
Während Phase Eins auf der Brücke zu arbeiten hieß vor allem zu warten. Abelia griff mit beiden Händen nach dem Geländer und ging, wie jeden Tag, im Kopf die einzelnen Menschen und ihre Aufgaben durch. Die Morgenröte ist kein Kloster, hatte Anne Tersa einmal zu ihr gesagt; Abelias frühere Vorgesetzte, die bei ihrer Ausbildung fast unerträglich streng gewesen war, sich aber sonst aus Regeln nicht viel machte. Anne Tersa hatte auch eine blaue Uniform getragen; jetzt war sie im Kälteschlaf, während Abelia ihren Platz auf der Brücke übernommen hatte und mittlerweile doch recht überzeugt war, dass dieses Schiff in Phase Eins am ehesten als ein Kloster zu verstehen sei: Die fehlerfreie Ausübung von belanglosen Tätigkeiten, die den Betrieb aufrechterhielten und vor allem die Zeit vergehen ließen, Stunde um Stunde, Jahrzehnt um Jahrzehnt.
„Irregulärer Signaleingang“, rief jemand auf der Brücke. Reisen bei Lichtgeschwindigkeit überforderte nicht nur die Sinne der Menschen, sondern auch die Sensoren ihrer Maschinen. Natürlich fing die Morgenröte bereits seit ihrer Abreise Signale auf, die irgendjemand oder irgendetwas irgendwann gesendet hatte; doch vor allem das wann machte sie zumeist als Informationen wenig hilfreich. Lichtgeschwindigkeit löste schließlich jeden Informationswert der Signale auf, die die augenblickliche Position des Schiffes kreuzten. Sie hatten dann nur noch einen statistischen Wert: Wo immer noch viel rauschte, nachdem man das Sternenlicht und alles andere abgezogen hatte, war zumindest irgendwann jemand gewesen. Auch half diese Statistik dabei, sich nicht aus der Lichtgeschwindigkeit mitten in ein anderes Raumschiff zu materialisieren. Dagegen gab es noch andere Maßnahmen, aber dort, von wo die Morgenröte herkam, war sie das einzige Schiff, das mit Lichtgeschwindigkeit reisen konnte; und dort, wo sie gerade hinreiste, konnte sich in der Zwischenzeit alles geändert haben.
„Signaldichte bei über 0,3“, rief der Wissenschaftsoffizier. Abelia klammerte sich an das Geländer.
„Signaldichte über 0,6!“
„Sublicht“, rief Wornausz. Er hatte sich halb in seinem Sessel aufgerichtet.
Es war nicht so, dass die Morgenröte nun langsamer wurde; sie wechselte vielmehr in eine ganz andere Geschwindigkeit. Die wabernden Linien hinter den Fenstern zogen sich zu einzelnen Punkten zusammen, und zugleich schob sich die Wirklichkeit endlich wieder ineinander und wurde zu etwas, in dem Masse und Raum zumindest in der menschlichen Wahrnehmung irgendetwas zu bedeuten schienen. Abelia blinzelte. Alles um sie herum verschaffte ihr plötzlich die Art von Gewissheit, die man nach dem Aufwachen hat, selbst wenn einem alle Träume zuvor sonstwas an Realismus hatten vorgaukeln wollen. Es war auch auf eine andere Weise ein Traum gewesen, der Traum der Menschen in den grauen und dunkelblauen Uniformen, aus dem sie in etwas anderes aufwachen mussten; was auch immer jetzt kommen konnte. Wornausz und sie atmeten zur gleichen Zeit laut aus. Phase Zwei hatte begonnen.
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Charles Victor Kan lag auf dem Rücken inmitten der Wogen des Kinderzimmerteppichs und starrte zur Decke, wo der goldene Hintergrund des Tapetenmusters in ein tiefes Purpur überging. Maria sammelte gerade Bodenproben und Stella war mit den anderen Kindern in Haus beschäftigt, und Charles hatte sich ein paar Akten herausgesucht, was die möglicherweise notwendige Verteilung von Bauland in der Region anging. Es bestand kein Handlungsbedarf, außer, dass er sich auch für sein Arbeitszimmer dringend einen Teppich anschaffen sollte. Möbel braucht doch kein Mensch, dachte Charles und blätterte träge durch demographische Prognosen. Was man auch machen könnte, dachte er dann, wäre, sich alte Gebäude aus historischer Perspektive anzuschauen. Die Menschen auf diesem Planeten hatten die Idee von ‚Geschichte‘ auf der Erde zurückgelassen, aber vielleicht war es interessant, sich ab und zu mal um ein Gebäude zu kümmern, weil es schon seit ein paar hundert Jahren dastand. Charles hatte momentan keine konkrete Vorstellung davon, auf welche Weise sich ein sehr altes Haus überhaupt von einem neuen unterschied, aber dafür müsste man eben erst ein Bewusstsein entwickeln. Vielleicht hätte jemand Lust, sich so etwas mal vorzunehmen, dachte er und rief die Grundakten aus der Umgebung auf. Dann läutete sein Armband.
„Okay“, rief Elvis in die Kamera. Immerhin stand er diesmal nicht mit einem Spaten im Matsch, aber viel mehr konnte Charles nicht erkennen. „Charles?“
„Alles klar“, sagte Charles, „aber wo bist du?“
„Okay“, sagte Elvis wieder und war kurz von irgendetwas abgelenkt. „Hier oben? Beim Mond.“
Charles musste lachen.
„Diese Maschine“, sagte Elvis, „sie ist dafür da, um etwas zu bauen? Einen großen Ring. Sie druckt die Teile und setzt sie zusammen, und schlägt dir sogar vor, wohin.“
„Bruder“, sagte Charles, „wovon sprichst du?“
Elvis drehte an seiner Kamera herum, bis Charles einen Bildschirm vor Augen hatte. Greifarme setzten etwas zusammen, das vollständig wohl einen großen Ring bilden würde.
„Warte“, sagte Charles und massierte seine Stirn. „Du bist in dieses Ding von hinter dem Haus gestiegen und damit zum Mond geflogen. Jetzt baut es etwas ins Weltall?“ Elvis hatte mittlerweile seine Kamera so gedreht, dass Ausschnitte eines Cockpits und seines Gesichts zu sehen waren. Er sagte nicht, aber sah nicht unzufrieden aus.
„Kann ich es sehen“, sagte Charles schließlich.
Elvis strahlte, als hätte ihn jemand nach dem Geschenk gefragt, dass er gerade zu seinem fünften Geburtstag bekommen hatte. Vielleicht war es das auch, dachte Charles. Seine Onkel haben ihm nachträglich etwas zum Geburtstag geschenkt. „Es muss noch etwa zwei Stunden montieren“, sagte Elvis nach einem Blick auf ein Display.
„Morgen“, sagte Charles. „Kann ich es morgen sehen?“
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Carina Debro schnappte nach Luft, obwohl es gar nicht nötig war. Sie hatte sich halb aufgerichtet, aber Schläuche und Bänder in der kryogenischen Röhre hielten sie zurück. Carina ließ sich wieder in die Polster sinken, während Menschen neben ihr an den Schläuchen zupften und irgendwelche Geräte bedienten. Sie schnappte nochmals nach Luft und musste dann husten; es war, als hätte sich ihr Körper wieder daran erinnert, wie alles zu funktionieren habe, würde aber noch seinen Einsatz verpassen, wieder und wieder. Sie blieb eine Weile liegen, während sich ihre Augen an das Licht gewöhnten. Eine Person mit Maske und Kittel entfernte einen Schlauch von ihrem Arm und wandte sich gleich wieder ab; andere liefen nur kurz durch ihr Blickfeld, ohne sich weiter mit ihr aufzuhalten. Es war laut, stellte sie bald fest; Menschen unterhielten sich, riefen Anweisungen und Informationen, und über allem lag ein Durcheinander aus Maschinenlärm und dem Fiepen der medizinischen Geräte. Danach stellte Carina fest, dass sie nicht alleine war. Freilich kümmerten sich gerade mehrere Menschen darum, dass sie ohne Komplikationen aus dem Kälteschlaf kam, aber da ging es nur um ihre Gesundheit, und nicht um ihre Person. Nicht allein war sie hingegen, weil schon von Beginn an neben der Röhre jemand stand und sie still betrachtete. Da war eine junge Frau, vielleicht in Carinas Alter; sie trug eine dunkelblaue Uniform und hatte die schwarzen Haare zu einem perfekten Pony geschnitten; auch war sie etwas blass und wirkte angespannt, aber, wie Carina fand, auf eine durchaus produktive Weise.
„Willkommen zurück“, sagte das Mädchen. „Ich bin Abelia Morse und war für Phase Eins die Quartiermeisterin der Morgenröte.“
„War“, wiederholte Carina und schaute zu, wie jemand den letzten Schlauch von ihrem Schenkel entfernte. Sie griff nach Abelias Arm. „Hilfst du mir hier heraus?“
Die ersten Schritte waren mühsam. „Habe ich lange geschlafen?“
„Ich bin auf diesem Schiff geboren“, sagte Abelia. Carina schaute sich zum ersten Mal im ganzen Raum um. Sie war nicht die einzige, die gerade aus dem Kälteschlaf geweckt worden war. Die meisten erkannte sie sofort wieder; für sie selbst waren schließlich nur Augenblicke vergangen, seitdem sie in der Röhre eingeschlafen war. Wer jetzt für Phase Zwei geweckt wurde, hatte ein Jahr Dienst auf der Morgenröte absolviert, um sich mit dem Schiff vertraut zu machen. Sie waren alle für diese Expedition ausgewählt worden und hatten, wie Carina, dafür mitunter harte Prüfungen ablegen müssen. Menschen wie Abelia hingegen waren auf dieses Raumschiff und in seinen Dienst hineingeboren worden; sie hatten nicht nur ihre eigenen Erfahrungen damit, sondern auch diejenigen der Generationen, die Carina verschlafen hatte. Daraus musste man aber, dachte Carina, kein Dilemma machen.
Natürlich hatte Abelia sie sich größer vorgestellt, doch Carina Debro war gleich einen halben Kopf kleiner als sie. Schwach wirkte sie nicht, auch wenn sie sich beim Gehen immer noch auf Abelia stützte. „Meine Koje, ist sie noch …?“
„Geblieben, wie sie war“, sagte Abelia.
„Gut. Bring mich auf den neusten Stand. Wie viel Zeit haben wir?“ Carina stolperte und stieg ärgerlich wieder aus den Sandalen, die bei der Kryo-Röhre bereitgestellt worden waren. „Ich brauche meine Uniform.“
Sie ist wie Anne Tersa, stellte Abelia fest. Selbstverständlich wusste sie über die Debros Bescheid. Abgesehen von Carina musste in einer anderen Sektion der Morgenröte gerade ihr Vater aufgetaut werden; und dann war da noch die andere Generation. Mindestens dadurch war die Expedition ein Projekt der Debros: Sie hatten es mit in die Welt gesetzt und setzen sich selbst darin fort. Carina ging jetzt mit eigener Kraft, und Abelia musste plötzlich zu ihr aufholen. Die Krankenstation und die Kajüten waren in der tonnenförmigen mittleren Sektion des Schiffs untergebracht, in der künstliche Schwerkraft herrschte, aber Abelia hatte den Sinn von Schwerkraft nie ganz verstanden.
Das Personal auf der Krankenstation hätte Carina auch so auf ihre Kajüte entlassen: Es war Abelias Idee gewesen, sie dort abzuholen, und bislang schien es keine falsche Idee gewesen zu sein. Die Kajüte war ein Deck über der Krankenstation. Carina ignorierte den Lift und nahm die Treppe. Sie ließ schnell wieder verschwindende Fußabdrücke auf dem Holz der Stufen zurück, wie auch Abelias Ärmel noch kurz klamm gewesen war, wo Carina sich zuvor festgehalten hatte.
Die Kajüten schienen immer zu groß gewesen zu sein, aber in Phase Zwei würde sich das schnell ändern. In den nächsten Stunden würden hunderte Menschen aus dem Kälteschlaf geholt werden, danach vielleicht tausende mehr. „Deine Kleidung wurde sicher versiegelt“, sagte Abelia, doch Carina hatte bereits ihren Spind geöffnet und die Säcke mit der Wäsche und der Uniform gefunden. Keine Regeln, dachte Abelia und drehte sich weg, während Carina ohne weiteres Aufheben aus dem Kittel für den Kühlschlaf in ihre Uniform wechselte. „Wo ist deine Koje?“, fragte sie und beulte ihre Kappe in Form.
„Dort hinten“, sagte Abelia und suchte in ihrer Ecke nach etwas, das sie aufräumen hätte können, aber da war nichts.
„Sehr gut“, sagte Carina.
Sehr gut, wiederholte Abelia in Gedanken. Ich werde also zumindest nicht gleich eingefroren. Zu Beginn der Expedition waren einige Richtlinien notiert worden, um den Übergang zwischen den Phasen zu regeln, aber dann hing doch das meiste von der tatsächlichen Situation ab. Noch wusste niemand, was die tatsächliche Situation war.
„Ich will jetzt auf die Brücke“, sagte Carina und rückte ihre Kappe zurecht. Die Frau mit dem akkuraten Haarschnitt hatte sich abgewandt, während Carina sich umzog, und stand immer noch weiter hinten in der Kajüte. Carina wusste noch nicht, welche Rolle die Frau spielte oder noch spielen konnte, aber für Komparsen war auf der Morgenröte kein Platz. Es war nicht das beste Zeichen, dass sie sofort ihren Namen vergessen hatte; andererseits war dies nur Augenblicke gewesen, nachdem ihr Körper aus einer Ewigkeit Schlaf geholt worden war.
War das ein Befehl?, dachte Abelia. Sie drehte sich um, aber Carina war bereits weg; nein, das stimmte nicht: tatsächlich saß sie jetzt neben ihr, auf dem Rand von Abelias eigener Koje. Abelia konnte sich keine Möglichkeit denken, wie sie ungesehen an ihr hätte vorbeikommen können.
„Können wir jetzt gehen“, sagte Carina.
Abelia wusste von den vielen Talenten der Debros, aber über die jüngste aus der Familie hatte sie nicht mehr herausfinden können als die in der Tat herausragenden, aber kaum übermenschlichen Leistungen während ihrer Ausbildung. Das war nicht die Zeit für Mythenbildung gewesen. Carina hatte ein paar Jahre in einem Militärcamp verbracht, war dann auf dieses Schiff und nicht lange später in eine kryogenische Röhre gestiegen: So blieben ihr vorerst nur der Familienname und die Qualifikation von der Militärakademie. Auch Abelias Leben auf diesem Schiff hatte keine heroischen Ereignisse abgeworfen, aber ihre gesamte Ausbildung war daraufhin ausgerichtet gewesen, unter Druck keine Fehler zu machen. Was auch immer Carina gerade mit Raum und Zeit oder Abelias Sinnen angestellt hatte: Es war kein akutes Problem, sondern etwas, das irgendwann aufgeklärt werden sollte.
„Natürlich“, sagte Abelia.
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Charles musste seinen Gleiter am Rand der Betonplattform parken, wo bereits das Moor wieder seine Ansprüche auf die gesamte Oberfläche des Planeten geltend machte. In der Mitte der Plattform hingegen stand das riesige graue Ding, das Elvis aus dem Garten hinter dem Haus seiner Onkel gegraben hatte. Das Ding selbst sah wirklich nicht interessant aus, aber Charles konnte nicht anders, als eine ganze Weile lang beide Handflächen auf die Oberfläche zu drücken. Natürlich war er — wie wohl alle Menschen dieses Planeten — als Kind auf dem Kolonieschiff gewesen, das nach Jahrhunderten immer noch im Orbit kreiste. Bereits der Anflug verschlug einem den Atem: Das Kolonieschiff war nicht nur eine Stadt für sich, sondern überhaupt die größte gebaute Struktur, die man in diesem Sonnensystem zu Gesicht bekommen konnte; letzten Endes war es das einzige, was die Menschen hier als eine Stadt erleben konnten, auch wenn sie noch so viele Aufnahmen von der Erde angesehen hatten. Das stimmte natürlich hinten und vorne nicht, denn im Kolonieschiff selbst fehlte städtisches Leben; es war nur noch ein Relikt und manchmal ein Labor, wenn jemand unter Weltraumbedingungen etwas ausprobieren wollte und besonders viel Platz brauchte.
Das kartoffelförmige Ding aus dem Garten ließ sich nur in einer einzigen, aber ebenso außergewöhnlichen Hinsicht damit vergleichen: Auch es hatte wohl eine sehr lange Strecke hinter sich.
Elvis kam ihm aus dem Haus entgegen und winkte, während er noch an einem großen Butterbrot kaute. „Habe ich selber gebacken“, sagte er. „Ist aber nicht so gut geworden.“
„Alles klar“, sagte Charles.
„Möchtest du reinschauen? Klar möchtest du reinschauen.“ Elvis öffnete mir der freien Hand eine kleine Klappe an der Seite des Schiffs und drückte ein paar Tasten.
„Eine Zahlenkombination“, sagte Charles, „wer schließt sein Raumschiff mit einer Zahlenkombination ab?“
„Bruder. Wer fliegt zu zweit durch die halbe Galaxis, in einem …?“ Elvis warf die Arme hoch.
„In einer Kartoffel?“, schlug Charles vor.
„In einer Kartoffel. Die haben ganz andere Prioritäten.“
„Und die Kombination?“, fragte Charles, während im Inneren des Schiffes irgendeine Hydraulik in Gang setzte.
„War hinten auf dem Bild. Die Zeichnung, du erinnerst dich?“
„Natürlich war sie hinten auf dem Bild“, sagte Charles. Sie hätten genauso gut gleich Elvis’ Geburtstag einprogrammieren können. Ein Paneel schob sich ein paar Zentimeter aus der Oberfläche des Schiffes hervor und klappte dann nach vorne: Eine kleine Treppe ins Innere.
„Bitteschön“, sagte Elvis.
‚Effizient‘ war das höflichste Wort, um die Einrichtung des kleinen Raumschiffs zu beschreiben. Es hatte ein Cockpit mit zwei Sitzen und vielen Reglern, die ästhetisch eine sicher schon Jahrtausende alte Tradition enthusiastischer Bastelei fortsetzten; dahinter war eine kleine Kabine mit zwei Kojen und Spinden voller Werkzeug und Ersatzteile. Unter einem durchsichtigen Boden vegetierte eine grünliche Masse, die vermutlich für die Atmosphäre im Inneren zuständig war und mittlerweile einen Spitzenplatz unter den ältesten Organismen der Galaxis anmelden konnte. Im Heck waren neben der Nasszelle eine kleine Luftschleuse, zwei Kälteschlaf-Kammern und die Biotech-Röhre untergebracht; dazu kam eine Maschine mit vielen Griffen und Pedalen, mit der sich wahrscheinlich gegen Muskelschwund in den Tiefen des Weltalls ankämpfen ließ.
„Achsooo“, rief Elvis von draußen hinein, „das mit dem Brot habe ich nicht gesagt, weil ich dir keins anbieten will, es ist halt wirklich nicht so gut geworden!“
Charles ließ eines der Pedale an dem Fitnessgerät rotieren. Es quietschte ein wenig. „Deine Onkel“, rief er durch das Schiff, „hast du herausgefunden, warum sie deine Onkel waren?“
Elvis lehnte sich ins Innere des Schiffes. „Naja. Nachdem irgendwelche meiner Vorfahren verstorben waren, stellte sich heraus, dass die beiden irgendwie zur Familie gehören. Warum auch nicht.“
„Schlau“, sagte Charles. „Aber warum das alles? Warum fliegt jemand ewig durchs All und vergräbt dann sein Raumschiff im Garten und gibt sich als irgendwessen Verwandtschaft aus?“
Elvis zuckte mit den Achseln und aß den Rest von seinem Butterbrot auf. Dann klopfte er sich die Krümel von den Fingern und setze sich in einen der Sitze. „Da war noch der Ring. Das Schiff baut … diese Ringe.“
„Und du konntest dieses Ding hier fliegen“, sagte Charles.
„Wenn es fliegt, kann ich es fliegen“, sagte Elvis.
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Die Brücke war anders geworden, aber Abelia fühlte sich keineswegs am falschen Platz. Auf den Wachtraum der Lichtgeschwindigkeit war etwas Neues gefolgt, eine Angespanntheit und Bereitschaft, in der jeder Punkt auf der riesigen Projektion über ihren Köpfen etwas zu bedeuten hatte: Signale, die von Planeten, anderen Raumschiffen oder ganzen Flotten gesendet worden waren; unterschiedlichste Wellen, die irgendeines technischen Ursprungs sein mussten. Auslesen ließ sich davon nur wenig, aber zusammengenommen ergab es Bilder von belebten oder zumindest bearbeiteten Regionen der Galaxis, und die Morgenröte hatte nun Kurs auf ein Planetensystem genommen, das in umgekehrter Richtung noch als wenig vielversprechend links liegengelassen worden war.
Die Crew hatte sich in kleinen Gruppen um die Instrumente geschart, um die eingehenden Daten zu diskutieren; hin und wieder rief jemand etwas in den Raum, wenn sich aus den Signalen tatsächlich etwas von Bedeutung extrapolieren ließ. Wir sind nicht mehr alleine, dachte Abelia. Carina und die anderen hatten wenigstens ihren Planeten hinter sich zurückgelassen, aber sie selbst war bestenfalls in eine vage Hoffnung hineingeboren worden, irgendwann irgendwo anzukommen. Es mussten bereits Stunden sein, die sie wieder auf der Brücke war; sie war zuerst zwischen den Instrumenten und den diskutierenden Menschen daran hin und her geschwebt, aber nach einer Weile kehrte sie auf die Plattform zurück, und weder Carina noch ihr Vater machten Anstalten, sie an einen anderen Ort zu versetzen.
„Flotte auf zwei Uhr“, rief jemand, aber da hatten alle schon die Augen auf den pulsierenden roten Punkten auf der Projektion. Der Computer hatte die Flugrouten vorausberechnet: Ein Bündel aus Pfeilen, das den Weg der Morgenröte zumindest auf einer Achse kreuzte.
Eran Debro saß im Sessel, den zuvor Wornausz eingenommen hatte. Carina hatte die zierliche Statur von ihrem Vater, stellte Abelia fest. Wie sein Vorgänger aus Phase Eins legte es auch Debro nicht darauf an, Autorität auszustrahlen. Mit dem Mikro in der Hand und den Arm auf die Lehne aufgestützt war er in den Sessel versunken, als würde er gleich den Anwesenden eine interessante Anekdote aus früheren Tagen erzählen. „Wir passen den Kurs parallel zu diesen Schiffen an“, sagte er in das Mikrofon, „fünf, nein, sechs Klicks Entfernung. Gleiche Geschwindigkeit, sobald wir auf ihrer Höhe sind. Die Schiffe vergrößern.“
Der Computer blendete in die Projektion ein, was die optischen Sensoren der Morgenröte von der Flotte einfangen konnten: Zuerst nur kleine Reflexe vor dem Sternenhimmel, bald aber die eindeutigen Formen mehrerer Schiffe. „Alle Kanäle öffnen“, sagte Debro, „nehmen wir Kontakt auf.“
Die Morgenröte schwenkte auf den Kurs der Flotte ein. Carina war zum Geländer der Plattform geschwebt und starrte mit offenem Mund zur Projektion hoch; im unteren Teil der Brücke hatte Abelia Wornausz entdeckt, der etwas abseits an der Wand nahe dem großen Fenster lehnte. „Weiter vergrößern“, sagte Debro, und die Schiffe füllten nun mit allen Details die halbe Projektionsfläche aus. Sie waren groß, wenngleich nicht so riesig wie die Morgenröte; auch waren sie ganz offensichtlich für einen Zweck gebaut: für Krieg. Die Formen der gewaltigen Maschinen lösten sich in verwinkelten Segmenten auf, als wäre etwas ursprünglich Organisches auf geometrische Formen umgerechnet worden; sie waren fast schwarz, vielleicht bläulich, und übersät mit Geschütztürmen und kleinen Wäldern aus Antennen, Generatoren und Sensoranlagen. An ihren Seiten war jeweils ein recht simples Emblem angebracht: Eine gepanzerte Hand, die vor einem Schild ein Schwert in die Höhe streckte. Wie vulgär, dachte Carina und klappte ihren Mund zu.
„Flotte ändert ihre Formation“, rief jemand.
„Das sehe ich“, sagte Eran Debro. „Kurs beibehalten.“
„Keine Reaktion auf unsere Nachrichten“, rief der Kommunikationsoffizier.
Debro zögerte kurz. „Schilde hoch“, sagte er dann, „alle Schilde.“
Durch das Fenster sah Abelia, wie die Schildgeneratoren blau aufglühten. „Schilde sind hoch“, hörte sie jemanden von unten rufen, aber dann starrte sie wieder zu den Schiffen auf der Projektion hinauf. Auch die Flotte fuhr ihre Abwehrsysteme hoch. Muster aus hellblauen Rechtecken entfalteten sich, wo die Schildgeneratoren ihre Arbeit aufnahmen; Drohnen schwärmten aus und spannten glitzernde Energiefelder auf, bis sich die schroffen schwarzen Formen der Schiffe hinter algorithmisch pulsierenden Hüllen aufzulösen schienen.
Zwischen den tanzenden Drohnen konnte Abelia noch erkennen, wie sich die Geschütztürme der Schiffe in Bewegung setzten: Lafetten glitten die Schiffsrümpfe entlang, Rohre richteten sich aus, Drohnen bildeten neue Konstellationen, um die Schusslinie freizugeben. Das ist gar nicht dafür gedacht, von Menschen verstanden oder überhaupt gesehen zu werden, dachte Abelia. Dann ergoss sich gleißendes Licht aus den Kanonenrohren. Sekunden später erschütterten Einschläge die ganze Brücke, wieder und wieder.
„Taktische Karte“, rief Debro, und aus dem Kataklysmus auf der Projektion wurde ein Planspiel. Mehrere der kleinen Schiffe hatten sich von der Flotte gelöst und näherten sich der Morgenröte. Debro rief Koordinaten für Ausweichmanöver in den Raum; das Mikro hatte er losgelassen. „Alle Batterien auf das Schlachtschiff, Feuern, wenn bereit. Schadensbericht?“
„Starke Hitzeentwicklung am Rumpf“, rief die Offizierin. „Die Schilde, sie halten nicht!“
„Feuer“, rief ein anderer Offizier, und eine neue, andere Welle an Erschütterungen ging durch das Schiff; die Entladungen der Plasma- und Strahlenwaffen der Morgenröte selbst. Dann hämmerten wieder die glühenden Projektile der Flotte auf das Schiff ein, und irgendwo vor der Brücke explodierte etwas und spritzte brennende Trümmer gegen die Fenster.
„Dritte Batterie Backbord ausgefallen“, rief der Offizier. „Schäden am Rumpf“, rief seine Kollegin fast gleichzeitig, „Rotation des mittleren Moduls wird ausgesetzt.“
Die Morgenröte, sie stirbt, dachte Abelia; sonst kam ihr nichts in den Sinn. Vorne lehnte sich Wornausz an die Wand. Er schenkte der Projektion keine Beachtung mehr, nur noch den ins All wirbelnden Trümmern und den sonderbar über die Fenster leckenden Flammen, was auch immer aus dem versehrten Schiff hier gerade austrat und im Vakuum verglühte.
„Feuer“, rief der Offizier wieder, aber niemand konnte mehr unterscheiden, ob das Schiff nun durch die eigene Artillerie oder die der Gegner erschüttert wurde. „Wir kommen nicht durch ihre Schilde“, rief er nach einer Weile gegen den Krach an. „Nichts kommt an.“ Einer der Kreuzer, der die Morgenröte in weitem Bogen eingeholt hatte, schob sich von links am Fenster vorbei, eine gewaltige Qualle aus pulsierenden Energiefeldern.
„Ausweichen“, rief Debro. Die Morgenröte rollte nach links, und Lanzen aus Licht zogen still an der Brücke vorbei und verliefen in den Tiefen des Weltalls.
War es das, dachte Carina, die erste Prüfung, und wir sind ihr nicht annähernd gewachsen. Schade, dann aber doch nur gerecht. Eran Debro hatte sich von seinem Sessel abgeschnallt und stand jetzt neben den zwei Frauen am Geländer der Plattform. „Carina“, sagte er.
„Vater?“, sagte Carina. Er wirkte müde, aber nicht verloren. Natürlich, dachte sie und richtete sich am Geländer auf. Wenn es eine Prüfung ist, werde ich sie bestehen. „Den Puls laden“, rief sie dann in die Brücke. „Kurs auf die Mitte der feindlichen Flotte berechnen.“
Der Computer zeichnete ein neues Geflecht aus Pfeilen auf die Karte, und die Morgenröte kippte nach rechts weg, mitten in die Choreografie der gegnerischen Schiffe hinein. Abelia spürte das Blut in ihrem Hals klopfen.
„Puls geladen“, rief der Offizier.
Carina ließ das Geländer los. „Puls freisetzen“, rief sie.
Es klang wie eine tiefe Glocke. Dann war es wie das Polarlicht, hätten die Menschen auf diesem Schiff jemals die Möglichkeit gehabt, das Polarlicht zu sehen; und dann breitete es sich aus, eine glitzernde Welle oder vielleicht Wolke, die sich in das Weltall erweiterte und die Schiffe ringsherum umfloss, hier und da für einen Augenblick noch Schwaden aus regenbogenfarbigem Nebel hinterlassend, bis sie sich im Vakuum verflüchtigten oder vielleicht doch zwischen irgendwelchen Molekülen hindurchschlüpften.
Als nächstes erloschen die Lichter in den Schiffen, dann ihre glitzernden Schilde und Strahlenwaffen. Wieder zu anthrazitfarbenen Klumpen geschrumpft trieben die Schiffe durch das Vakuum, und wo zuvor Menschen und Computer ihre komplexen Kurse berechnet hatten, blieb jetzt alles Masse und Kraft überlassen. Geräuschlos und quälend langsam rammte ein Kreuzer eines der anderen Schiffe und riss mit seinem scharfen Bug dessen Flanke auf, bis sich im Inneren die Energiezellen entzündeten und eine Blume aus Plasma durch den Rumpf fraß und das Schiff schließlich ganz auseinanderbrach; und auch die Drohnen und mobilen Abwehrsysteme taumelten nun ineinander oder zerplatzten an der Oberfläche der Kriegsschiffe, ein stilles Feuerwerk vor den Fenstern der Morgenröte. Abelia blinzelte und bewegte unwillkürlich die Lippen.
„Abelia?“, sagte Carina, die sich ihren Namen dann doch hatte schnell merken können.
„Es ist wunderschön“, sagte Abelia lauter, auch wenn es jetzt im plötzlichen Jubel der Besatzung unterging. Carina lachte. Wer auch immer diese Frau war und welche Rolle sie noch spielen konnte, sie gehörte auf diese Brücke.
Vorschau: Elvis und Charles werden Mitglieder in einer Stiftung, aber dadurch wird auch nichts einfacher: „Ihr seid ein Sicherheitsrisiko“, sagt die Frau von der Galaktischen Patrouille. In einer in sich gewundenen Stadt wird eine Konferenz einberufen; ein unerwarteter Gast erscheint, und eine unerwartete Lösung wird angeboten.