Die Kriege der Zukunft [SE01 EP04]
Was bisher geschah: Eric und Charles sind durch ein interstellares Portal gereist und werden auf der anderen Seite vorerst in Gewahrsam genommen: In diesem Teil der Galaxis herrscht Krieg, auch wenn er vom Trubel in der Unabhängigen Sphäre nicht weiter entfernt wirken könnte.
„Eure Geschichte“
„Was ist das für ein Muster“, fragte Abelia, nachdem sie Carina Debro eine Weile beim Arbeiten zugesehen hatte, „ist das eine Pflanze?“
Carina lächelte und tunkte ihre Hände in die Wasserschale, bevor sie mit den Fingerspitzen eine Linie im Ornament korrigierte. „Das ist ein Efeu aus unserer Gegend“, sagte sie. Die Pflanze war ihr plötzlich wieder in den Sinn gekommen, nachdem sie noch eher ratlos die ersten Stücke Ton auf der Vorlage angebracht hatte; die ganzen Jahre in der Siedlung hatte sie die blassen Blätter und seltsam eckigen Ranken wohl fast übersehen, aber eben nur fast, denn nun standen sie ihr vor Augen als etwas, mit dem sie sich, Lichtjahre entfernt, durchaus identifizieren wollte.
„Hm“, sagte Abelia. Sie kannte nur die Farne und Moose, die zur Atemluft der Morgenröte beitrugen, und was auch immer aus den Gewächsanlagen frisch auf den Tisch kam. Ein Farn würde sich nicht schlecht machen, als Ornament, dachte sie, doch damit brauchte sie sich nicht weiter zu beschäftigen, so lange sie nur auf der Morgenröte Dienst schob. Aber auch das entsprach den Farnen.
Carina wischte sich die Hände am Kittel ab und drehte das Tonmodell auf der Scheibe mal in die eine, dann in die andere Richtung. Sie war ganz zufrieden damit, aber weniger zufrieden mit sich. Auf der Brücke hatte sie die richtige Entscheidung getroffen und damit wohl die gesamte Expedition vor einem vorzeitigen Ende bewahrt, aber letzten Endes war die Entscheidung durch die Pulswaffe vorgegeben gewesen, diesen wohl einzigen Vorteil, den die Morgenröte gegenüber den Flotten der alten Galaxis hatte. Andererseits waren in solchen Situationen die Entscheidungen vielleicht immer vorgegeben, zumindest diejenigen, von denen man noch später erzählen konnte. Sie suchte ein passendes Werkzeug heraus, um ein paar Buchstaben in den Halsschutz zu ritzen: PLVS VLTRA. Bald könnte sie dieses Tonmodell mitsamt der anderen in die Werkstatt bringen, wo sie digital abgetastet und auf Formen übertragen werden sollten, in denen schließlich die Teile ihres Anzugs gegossen werden könnten. Das gehörte dazu: Sie war jetzt Soldatin, und nicht länger jemand, der die Militärakademie abgeschlossen hatte und darauf wartete, in diesem Sinne irgendwann gebraucht zu werden. Der Anzug sollte fertig sein, wenn sie bei ihrem aktuellen Ziel ankommen würden, was auch immer die Morgenröte dort erwartete.
„Ich brauche jetzt ein Bier“, sagte Carina und knüllte ihren Kittel in ein Fach unter der Werkbank. Sie hat Ton sogar im Haar, stellte Abelia fest, aber vielleicht sahen die Menschen, die noch auf dem Planeten gelebt hatten, so etwas auch anders, denn schließlich bestand ein Planet regelrecht aus Erde und Sand und ähnlichen Substanzen. „Kommst du jetzt mit, oder was“, sagte Carina.
„Ja“, sagte Abelia, aber es klang wieder so, als hätte sie einen Befehl entgegengenommen.
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Die Konferenz war für zwei Stunden anberaumt, und Charles war sich nicht sicher, inwiefern sie bereits zu irgendeinem Ergebnis geführt hatte. Die meisten Menschen waren im Saal geblieben; sie hatten viele Fragen an Anita Pastor, auf die sie so lange ausweichend reagierte, bis die Leute sich doch wieder für die Gäste von der anderen Seite des Portals zu interessieren begannen. „Mach du“, sagte Charles zu seinem Sitznachbarn. Das war eine gute Entscheidung, und Charles legte irgendwann den Kopf in den Nacken und schloss die Augen, während Elvis zur offensichtlichen Zufriedenheit des Publikums in einen mäandernden Monolog abdriftete. „… und dann gehst du in das Moor hinaus“, sagte er nach einer gefühlten halben Stunde, „und anfangs ist alles das Moor. Ich meine: Vorhin stand ich kurz da draußen, und an einer Ecke ist dieses Haus mit den roten Kacheln an der Wand, etwa bis zur Mitte der Fenster hoch; daneben ist das Bistro, vor dem diese schlichten Holzstühle stehen, ganz schön, und gegenüber ist eine Rampe, die nach oben zu der Bahn führt, aber man kann auch die Wendeltreppe nehmen. Wenn du ins Moor gehst und dich umschaust, ist da das Moor, dort auch das Moor und auf der anderen Seite ist sowieso das Moor. Und du gehst also hinaus und irgendwann geht langsam die Sonne unter, und du musst deinen Navi einschalten, um nach Hause zu finden. Die nächsten Abende gehst du wieder raus, aber irgendwann merkst du, dass es doch nicht alles Moor ist: Da ist diese eine Stelle mit den Fröschen, nicht, dass die Frösche nicht überall wären; und in einer Richtung gibt es eine Wasserfläche, in der ein schmaler Streifen Wasser zu fließen scheint, wenn du ruhig stehenbleibst und gerade kein Wind weht. Irgendwann brauchst du deinen Navi nicht mehr, und irgendwann findest du sogar fast im Dunklen nach Hause; da gibt es diesen einen Pfuhl, in dem ist unter Wasser eine Wurzel oder etwas über das ich jedenfalls sicher schon zehnmal fast gestolpert bin, aber dann weiß ich: Noch eine Viertelstunde, und ich bin wieder zuhause.“ Elvis wurde eine Weile still. „Das ist das Moor“, sagte er dann.
Charles öffnete die Augen wieder, aber die meisten Menschen waren immer noch im Saal. Lucia starrte den Kopf in die Hände gestützt vor sich hin, ob sie nun in Gedanken im Moor oder ganz woanders war. Charles tippte ihr an Elvis vorbei an die Schulter. Lucia schaute etwas müde zu ihm hinüber, bevor sie wieder eine repräsentative Haltung annahm und die Schaltfläche für die Saalkamera antippte.
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Die zwei Frauen von der Galaktischen Patrouille hatten noch Einiges zu bereden. „Bestellt euch einen Kaffee, ja“, sagte Lucia, nachdem sie Charles und Elvis zu dem Bistro mit den schönen schlichten Stühlen bugsiert hatte. Glücklicherweise kamen nicht viel später die Drei von der Butler-Stiftung aus der Konferenzhalle.
„Setzt euch doch“, sagte Charles höflich, nachdem die Drei lange genug neben dem Bistrotisch versucht hatten, sich jeweils möglichst hintereinander zu verstecken.
„Und ihr habt hier die ganze Zeit gewartet, dass das Portal aufgeht?“, fragte Elvis.
„Tarek und ich machen nur ein Praktikum bei der Stiftung“, sagte das Mädchen, das sich vorher als Katerina vorgestellt hatte, „wir sind ein paar Monate hier.“ Lothar, der ältere Mann, der auf der Station den Champagner geholt hatte, sagte nichts; er hatte wohl tatsächlich soweit die ganze Zeit gewartet. „Ich will so dringend euren Planeten sehen“, sagte Katerina. „Das ist natürlich der große Traum, wenn man zur Stiftung geht.“
„Wie groß ist die Galaxis heute?“, fragte Elvis. „Also, ich meine, wie viele Planeten sind besiedelt?“
„Vierundzwanzig“, sagte Lothar. „Und natürlich noch einige kleine Kolonien, bei denen kein Terraforming betrieben wurde.“
„Als unsere Leute das Sonnensystem verlassen haben, wurde Gliese gerade besiedelt, und jetzt führen sie Krieg“, sagte Charles. „Naja. Krieg war auch, als unsere Leute das Sonnensystem verlassen haben.“
„Aber dann habt ihr einen schönen Planeten gefunden“, sagte Katerina, „und jetzt habt ihr uns wiedergefunden.“
„Wo wärt ihr, wenn ihr nicht zur Stiftung gegangen wärt?“, fragte Elvis und schaute sich um. Lucia und Anita Pastor waren mittlerweile in eine größere Diskussion verwickelt, und auch andere Menschen aus dem Saal waren vor der Konferenzhalle in kleineren oder größeren Gruppen stehengeblieben; vielleicht warteten manche bereits auf die nächste Konferenz, deren Uhrzeit bereits über dem Eingang angezeigt wurde. „Ihr seid so viele. So etwas, das hier alles, haben wir bei uns nicht.“
„Du solltest erst die Erde sehen“, sagte Katerina.
„Wenn du langfristig ins All willst wie wir“, sagte Tarek, „bleibt dir außer der Stiftung nur die Patrouille. Nichts gegen die Patrouille, aber ich passe lieber hier auf das Portal auf, anstatt alle paar Wochen irgendwo atomisiert zu werden.“
„Ihr habt es vorhin gehört“, sagte Lothar. „Das ist nicht die Zeit, in der die Res Publica große Expeditionen in die Galaxis hinausschickt. Uns geht es gut, auf der Erde, oder an Orten wie diesem hier, aber die Res Publica, sie brennt an ihren Rändern.“
„Aber was ist passiert?“, fragte Elvis.
Lothar nahm von einer Drohne seinen Kaffee entgegen. „Danke. Was passiert ist? Wollen wir das wirklich wissen?“ Er schaute zu Anita Pastor hinüber.
Die große Frau in der schwarzen Uniform war nicht weniger präsent als zuvor im Saal, blickte aber unbeteiligt zu Boden oder in die Menge, während ihre junge Kollegin auf andere Menschen in der Runde einredete. Als hätte sie etwas verloren, dachte Elvis und kraulte eher instinktiv ein großes Wiesel, das jemand am Nebentisch an langer Leine hielt und das ebenso instinktiv den Weg zwischen Elvis’ Füße gefunden hatte. „Der Planet da unten, wie ist es dort?“, fragte er schließlich.
„Selene?“ Tarek lachte. „Nicht wie hier. Nicht wie auf der Erde. Ich glaube, das könnte euch gefallen.“
„Das hier gefällt mir ja auch“, sagte Elvis und drehte sich etwas vom Tisch weg, damit das Wiesel sein Knie hochkrabbeln konnte.
„Hm“, sagte Charles.
„Charles hat seiner Familie nicht gesagt, dass er auf Reisen geht“, sagte Elvis.
„Wirklich“, sagten Katerina und Tarek.
„Ha“, sagte Lothar, „wenn mein Partner unabgesprochen durch ein Portal fliegen würde, der würde die Kinder dann nur noch an Feiertagen zu sehen bekommen. Jedes zweite Jahr.“
„Das hast du aber auch schon den Leuten von der Patrouille gesagt, oder?“, fragte Katerina Charles.
„Komm schon“, sagte Tarek, „das ist die Patrouille, was interessiert die anderer Leute Familie.“
Elvis überlegte, ob er Charles vielleicht das Wiesel zum Kraulen hinhalten sollte, entschied sich aber dagegen.
„Da kommen sie“, sagte Lothar. Lucia und Anita Pastor hatten sich endlich aus der Menge lösen können, und die Drei von der Butler-Stiftung machten etwas zu hastig Platz am Tisch.
Anita musterte Charles und Elvis. „Seit wann ist euer Planet besiedelt?“
„Seit sechshundertdreiundzwanzig Erdenjahren“, sagte Elvis, der die Information schneller aus seinem Implantat abgerufen hatte. „Das Terraforming eingeschlossen.“
„Ich war noch nicht geboren, als eure Leute abgereist sind“, sagte Anita, „und vielleicht bilde ich mir das nur ein, aber euer Dialekt erinnert mich an frühere Zeiten.“ Sie lächelte sachte. „Ich habe Abe und Harold noch getroffen; einmal, bevor sie abreisten, und als sie das Portal zu diesem Planeten öffneten. Ihre erste Rückkehr muss ich verpasst haben.“
„Wow“, sagte Katerina andächtig.
„Es war ein wahnsinniges Projekt“, sagte Anita. „Sie waren insgesamt Jahrhunderte unterwegs. Sie haben insgesamt Jahrhunderte geschlafen.“
„Aber warum haben sie das dritte Portal nicht gebaut?“, fragte Charles. „Warum sind sie nicht zurückgekehrt?“
„Vielleicht war es nicht mehr wichtig“, sagte Anita. „Ich hatte eine Lehrerin, die aus einer ganz anderen Zeit kam. Einmal sagte sie: Alle Menschen, die ich kenne, sind schon lange tot. Das habe ich nicht verstanden, weil sie doch mich kannte. Mittlerweile verstehe ich sie.“ Sie nahm das Wiesel von Elvis entgegen. „Als ich jung war, als wir gerade die Patrouille gründeten, hatte ich eine Familie. Ich habe sie alle vergessen.“
„Wie hast du sie vergessen können? Hast du keine Namen, keine Bilder?“
„Natürlich. Aber ich erkenne sie nicht mehr. Der Mensch hat nur so viele Synapsen. Wie dem auch sei: Vielleicht waren Abe und Harold am Ende ihrer Reise. Das ist jetzt eure Geschichte.“ Anita hievte das Wiesel auf den Boden, bevor sie aufstand. „Ich muss jetzt weiter. Wir sehen uns sicher wieder.“
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Die Drei von der Butler-Stiftung verabschiedeten sich nicht viel später. „Das ist jetzt ja prima gelaufen“, sagte Lucia in einem exakt kalkulierten Tonfall, aus dem Elvis exakt gar nichts herauslesen konnte. „Dann bringe ich euch jetzt wohl zur Botschaft der Selenen.“
„Das Schiff“, sagte Charles. „Wir brauchen das Schiff zurück.“
„Also, dazu: Was ihr auf dem Planeten unten machen werdet, geht mich nichts weiter an, aber diese ganze Geschichte bleibt ein Risiko. Die wirklich einzige Lösung ist, dass die Patrouille eine Flotte auf die andere Seite schickt, solange wir Zugriff auf dieses Portal haben. Ich hoffe sehr, dass eure Leute so harmlos sind, wie ihr es darstellt, aber wir müssen militärisch schlagkräftig bleiben.“
„Militärisch schlagkräftig“, sagte Charles.
„Was haben wir getan“, sagte Elvis und griff sich mit beiden Händen an den Kopf.
„Natürlich“, sagte Charles.
„Ihr seid wirklich nicht die Hellsten“, sagte Lucia und klopfte Elvis auf die Schulter. „Niemand will euren Planeten besetzen.“
„Das ist nicht wirklich witzig“, sagte Charles.
„Das sollte es auch nicht sein“, sagte Lucia. „Ihr macht ein Portal in eine andere Welt auf, ohne das mit irgendjemandem auf eurer Seite zu besprechen. Wenn ich eure Galaktische Patrouille wäre, würde ich euch wirklich einsperren. Für immer.“
„Bei uns gibt es keine Galaktische Patrouille“, sagte Charles.
Lucia warf die Hände in die Höhe und sagte nichts weiter, während sie die Beiden eine belebte Straße hinunterführte. Hin und wieder winkte jemand; ein Mann rief „Kepler“ von seinem Balkon hinab. Elvis winkte freundlich zurück. Vermutlich hatte eine Übertragung der Konferenz bereits die Runden gemacht.
„Wir müssen noch klären, wer sich weiter um diese Sache kümmern kann“, sagte Lucia schließlich. „Anita Pastor ist wieder weg, und ihr habt selbst gesehen, wie es auf der Gandiva aussieht. Das sind alles Kinder. Ich darf sie auch nur fliegen, weil ich bereits etwas länger mitgeflogen bin als die anderen. Aber das werden wir auch lösen. Alles wird gut.“
„Das vorhin, dieser Krieg“, sagte Charles, „klang nicht, als ob irgendwas gut werden würde.“
Lucia seufzte. „Insgesamt ist wohl nichts gut“, sagte sie. Dann blieb sie abrupt stehen.
„Was ist jetzt?“, fragte Charles, nachdem Lucia sich viel zu lange nicht bewegt hatte.
Lucia atmete tief aus. „Da hinten ist Aleph.“
An der Ecke hatte sich die Straße zu einem kleinen Park hin geöffnet. Gepflasterte Pfade wanden sich um Stauden; große Bäume mit pelziger rotbrauner Rinde ragten so hoch, dass zwischen ihnen sogar die Röhren der Bahn verschwanden. Kindergruppen und junge Familien verteilten sich über das ganze Gelände; auf den Bänken saßen Menschen und lasen oder beobachteten nur, wie oben die Zweige der Bäume im künstlichen Wind sanft gegen die Röhren wischten. An einem Springbrunnen saß eine Person mit hüftlangem hellen Haar und betrachtete still die Wasserspiele. Sie hätte auf den ersten Blick mit einer Statue verwechselt werden können, wäre da nicht eine tatsächliche Plastik nur wenige Meter zu ihrer rechten gewesen: Zwei überlebensgroße Männer in emphatisch rohem Bronzeguss. Was …, dachte Elvis, aber dann irritierte ihn die Person mit den langen Haaren doch mehr als die Statue.
„Ist alles in Ordnung“, sagte Charles zu Lucia, die sich weiterhin nicht bewegte.
„Okay okay okay“, sagte sie, „ich muss euch jetzt vorstellen. Okay.“
„Ist das nicht schwierig bei deinem Job, wenn du manchmal so die Nerven verlierst?“, fragte Elvis, nachdem sie eine weitere Minute an der Ecke gestanden hatten.
„Nein“, sagte Lucia knapp. „Kommt jetzt.“
Wahrscheinlich fehlt ihr auch ein Tier, dachte Elvis. Sie könnte eher ein Hundetyp sein, weiß es aber vielleicht gar nicht? Immerhin hatten sie nun ihre Ecke verlassen. Aleph saß weiterhin am Rand des Wasserbeckens, die Beine übereinandergeschlagen und die Hände gefaltet. Elvis war sich zunehmend unsicher, ob es sich nicht doch um eine Statue handelte. Er tippte Lucia an den Arm. Was …“, sagte er, aber Lucia unterbrach ihn sofort.
„Aleph ist ein künstlicher Mensch“, flüsterte sie.
„Wie ein Roboter?“
„Ich glaube nicht? Ich weiß nicht“, flüsterte Lucia. Dann waren sie bereits in Hörweite, oder zumindest in Hörweite, was Menschen anbelangte. Aleph drehte sich ihnen zu, noch bevor sie an den Brunnen getreten waren. „Du bist Lucia Lem, und ihr seid unsere zwei Gäste von der anderen Seite: wie interessant!“ Der künstliche Mensch reichte ihnen freundlich die Hand. „Das alles wird auch für euch interessant sein, nicht wahr?“
„Auf jeden Fall“, sagte Elvis, der nun doch nur schwer den Blick von den zwei Bronzefiguren nebenan abwenden konnte. Harold Clausen & Abraham Butler. Von den Menschen zur Menschheit.
„Das muss eine besondere Zeit sein“, sagte Aleph. „Als müsse sich die Menschheit sammeln und für einen Weg entscheiden.“
„Wann wurde das andere Portal gebaut?“, fragte Charles, der mittlerweile auch die Statue identifiziert hatte. „Zu dem Planeten unten?“
„Selene“, sagte Aleph, „das ist etwa hundertzwanzig Jahre her. Friedliche Zeiten, aber die Res Publica ist unachtsam geworden.“ Aleph lächelte sanft. Das Lächeln wirkte durchaus menschlich, fand Charles, aber auch wie eines, das aus einer langen Trauerarbeit heraus entwickelt wurde. Er kannte es nur aus alten Aufzeichnungen, auf denen die Menschen der ersten Generation nach der Ankunft auf ihrem Planeten zu sehen waren, in ihren staubigen Overalls neben den Terraforming-Maschinen stehend oder über die Keimlinge irgendeiner Pflanze gebeugt, die sich endlich als resilient genug für die Umgebungsbedingungen erwiesen hatte. „Man würde meinen, dass friedliche Zeiten eben die Zeiten sind, in denen wir nicht achtsam bleiben müssen.“ Aleph wandte sich zu Lucia, die die ganze Zeit auf einen grünlichen Reif am Arm des künstlichen Menschen gestarrt hatte. „Möchtest du mal anfassen?“ Lucia mochte. Am Reif glitzerte eine vielleicht fünf Zentimeter breite, gewölbte Scheibe; ihr Inneres war von einem friedlich pulsierenden Netz durchwirkt, doch bei genauerer Betrachtung entspannen sich die Fäden aus der Scheibe hinaus, waberten Alephs Arm hoch oder tasteten von da aus in die Luft. Elvis versuchte, den Weg eines der Fäden nachzuvollziehen, doch irgendwo oben zwischen den Zweigen der riesigen Bäume war er sich nicht mehr sicher, ob der Faden nicht schon viel Meter zuvor verschwunden war. Lucia tippte zaghaft an die Oberfläche der Scheibe. „Hm“, sagte sie leise, „danke.“
„Wollen wir ein wenig reden?“, fragte Aleph. „Anita habe ich leider verpasst.“
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Elvis wanderte in den Park hinein, während sich die beiden von der Patrouille zu aktuellen Entwicklungen austauschten, die mit ihm selbst zu tun haben konnten oder auch nicht. An einem der Sträucher leuchteten die großen gelben Blumen, von denen sich die Frau vom Planeten Selene eine ins Haar gesteckt hatte. Elvis suchte eine Weile, bis er einen passend angeknipsten Stängel gefunden hatte; dann schlenderte er zurück zu der Bronzeplastik. So porträtiert wirkten Harry und Abe nicht allzu viel jünger, als er sie in Erinnerung hatte.
„Das sind meine Onkel“, sagte er zu ein paar Kindern, die sich in der Nähe zankten.
„Das sind Abraham Butler und Harold Clausen“, sagte eines der Kinder.
„Genau“, sagte Elvis.
„Das kann gar nicht sein“, sagte ein Kind, „Abraham Butler und Harold Clausen sind tausend Jahre alt.“
„So ein Quatsch“, sagte ein anderes Kind, „sie sind hundert Jahre alt.“
„Ich weiß gar nicht, wie alt sie wirklich sind, aber ich habe hinter ihrem Haus gespielt, da war ich etwa so alt wie ihr jetzt.“
„Das kann doch gar nicht sein.“
„Und jetzt habe ich ihr altes Raumschiff ausgegraben und bin von meinem Planeten zu diesem hier geflogen.“
„So ein Quatsch.“
„Fragt meinen Freund, der mitgeflogen ist. Er sitzt auf da hinten auf der Bank.“
Charles starrte erfolgreich jeglichen Willen der Kinder weg, auch nur in seine Nähe zu kommen. Sie entschieden sich, kurz von Elvis’ Geschichte beeindruckt zu sein und sich dann wieder ihren vorangegangenen Themen zu widmen. Elvis blieb noch einen Augenblick vor der Plastik stehen, bevor er sich zu Charles setzte.
„Was war das für ein Ding, das an seinem Arm“, fragte er, nachdem Lucia sie wieder abgeholt hatte.
„Das Nodium. Wir haben drei davon, keine Ahnung, woher. Es ist, wie soll ich sagen, wie der empfindlichste Sensor und der schnellste Computer? Aleph hat eines, Jin Dahl, Anita Pastor.“
„Hat Anita ihres verloren?“, fragte Elvis.
„Hm.“
„Und jetzt ist sie es suchen gegangen?“
„Hm.“
Zur Botschaft der Selenen war es nicht allzu weit. Der große Quader aus Sichtbeton wirkte zwischen den anderen Gebäuden der Stadt etwas fremd, aber es war nicht so, dass diese Stadt architektonisch einer klaren Vision folgte; und so stand eben ein großer Quader aus Sichtbeton zwischen einem Wohnhaus mit Balkonen aus filigranem Gusseisen, die so gut wie hinter der aus Blumenkästen wallenden Flora verschwanden, und einem großen Restaurant in einem Glaspavillon.
Die Botschaft wirkte innen nicht anders als außen; sie war nur dunkler. Hinter einer ebenso aus poliertem Beton hochgezogenen Theke saß eine Selene. Im Gegensatz zu den Vieren aus der Konferenz trug sie keinen Wollsack, sondern eine schlichte graue Tunika mit Stehkragen, wohl das Extremste, was von diesem Planeten an offiziöser Kleidung erwartet werden durfte. „Ich weiß Bescheid“, sagte sie gleich, nachdem die Drei die Lobby betreten hatten.
„Großartig“, sagte Lucia auf eine Weise, die wirklich alles andere zum Ausdruck brachte.
Die Selene drückte Charles und Elvis nummerierte Plättchen in die Hand und verwies auf einen Aufzug neben der Theke. „Für eure Zimmer im dritten Stock. Ihr werdet das Stockwerk nicht verlassen können, aber in der Küche sollte alles sein, was ihr braucht. Sonst ist da noch die Sprechanlage.“ Sie rief ein Paneel über der Theke auf und winkte ungeduldig Lucia herbei. „Kannst du bitte hier unterschreiben?“
Die Frau von der Galaktischen Patrouille malte mit dem Zeigefinger ihre Signatur in die Luft. „Bis bald, oder irgendwann“, sagte sie zu Charles und Elvis und legte beiden jeweils eine Hand auf die Schulter. Dann kam der Aufzug.
Das dritte Stockwerk war ein geräumiges Apartment, das die Selenen wohl für Gäste und Reisende verwendeten. Der Beton sog alles Licht auf, das durch die schmalen Fenster fiel und mit hellen Streifen die Räume strukturierte. Wahrscheinlich war das bereits bei der Planung berücksichtigt worden, dachte Charles, schließlich herrschten in der Unabhängigen Sphäre weitgehend konstante Lichtverhältnisse. Etwas anderes als Beton hätte der Inneneinrichtung dennoch gutgetan.
Elvis hatte schnell das Zimmer gefunden, zu dem sein Schlüssel gehörte. Mehr als ein niedriges Bett, Stuhl und Tisch und ein Wandregal mit einigen Büchern bot es nicht; hinter einem Holzpaneel war ein leerer Kleiderschrank, doch Elvis hatte nichts, was er darin verstauen hätte können. Er zog die Schuhe aus und legte sich auf das Bett. Weder seine innere Uhr noch diejenige in seinem Implantat halfen, die Tageszeit im Weltraum zu bestimmen; nachdem er also eine unbestimmte Zeit mit geschlossenen Augen dagelegen hatte, stand er wieder auf, um ein Buch aus dem Regal zu nehmen. Jemand hatte bereits einen Text auf die Seiten geladen, aber Elvis drückte erfolglos auf den Seiten und dem Umschlag herum, ohne das Menü aufrufen zu können.
Wie alles hier war die Küche groß und dunkel. Elvis legte das Buch neben ein paar Kräutertöpfe auf den Tisch und war gerade dabei, die Schränke zu inspizieren, als auch Charles in die Küche kam und sich gleich an den Tisch setzte. „Die Bücher“, sagte er, „sie sind kaputt, oder?“
„Glaube auch“, sagte Elvis, der gerade den Schrank mit den Getränken entdeckt hatte. Nach einigen streng riechenden Säften fand er eine dickwandige Flasche mit einer klaren Flüssigkeit, deren Etikett handschriftlich Hochprozentiges ankündigte. „Schnaps?“, fragte er.
Charles stöhnte und blätterte durch das Buch. Die Seiten hatten eine sonderbare Haptik; strich man sehr aufmerksam über ihre Oberfläche, schienen die Buchstaben wie hineingepresst. Charles stellte fest, dass in der Küche das Licht punktuell hochgedimmt wurde, sobald man länger an einer Stelle blieb. Clever, dachte er und war tatsächlich neugierig auf die Selenen und ihren Planeten, auch wenn sie es mit dem Beton übertrieben.
„Schnaps“, sagte Elvis und stellte die Flasche und zwei Gläser auf den Tisch.
„Noch einen“, sagte Charles, nachdem er das erste Glas hinuntergekippt hatte. Elvis schenkte nach. „Noch einen“, sagte Charles, bevor sich Elvis seinem eigenen Glas widmen konnte.
„Falls wir hier für alle Zeiten festsitzen“, sagte Elvis und füllte zum dritten Mal Charles’ Glas, „kann dich Maria doch auf der anderen Seite rekonstruieren.“
„Aber ich bin doch nicht tot“, sagte Charles und füllte sich selbst nach. „Und will ich irgendwann nach Hause kommen, und meine Familie lebt mittlerweile glücklich mit einer Kopie von mir? Außerdem werden sie denken, dass ich einfach abgehauen bin. Wer rekonstruiert sich denn bitte einen Idioten.“
„Ich mach’ mal was zu Essen, ja“, sagte Elvis.
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Irgendwann waren sie müde genug gewesen, damit sich die Frage nach Tageszeiten im Weltraum erübrigte. Elvis schlief ein paar traumlose Stunden und saß dann eine Weile über einem der defekten Bücher. Irgendwann klopfte es an der Zimmertür; der Türrahmen registrierte das Klopfen mit einem sanften Leuchten. Hinter der Tür waren die Frau aus der Konferenz und einer ihrer Gefährten; die Blume hatte sie nicht länger im Haar und wirkte aus der Nähe betrachtet auch kaum wie ein Mensch, der sich eine Blume ins Haar stecken würde, auch wenn dies nachweislich der Fall gewesen war.
„Ich bin Rachel Anderson“, sagte sie, „das ist mein Bruder Milan. Geht es dir gut?“
Milan zwinkerte freundlich. Im Halbdunkel des Apartments glänzte die Haut der Selenen sonderbar metallisch.
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Anita Pastor war ohne einen konkreten Plan nach Gliese Pacifica zurückgekehrt. Sie musste ihr Nodium wiederbeschaffen, aber das Nodium war aller Wahrscheinlichkeit nach auf Gliese Atlantica und somit Lichtjahre entfernt, die sie im Augenblick nicht überbrücken konnte. Von der Station im Orbit Selenes aus war sie durch ein Portal zu dem Ringschiff gereist, das zu der Flotte der Res Publica vor Gliese Pacifica gehörte; von dort aus hatte sie ein Schmuggler auf den Planeten selbst gebracht. Die Flotte hatte ihn unlängst aufgegriffen, und für den Mann machte eine Agentin der Galaktischen Patrouille im Frachtraum seinen Job auch nicht gefährlicher, als er bereits war. Danach war Anita durch endlose Getreidefelder unter einem endlosen grauen Himmel gewandert, bis sie schließlich in der Hauptstadt des Planeten angekommen war.
Es gab wenige Ansatzpunkte. Sergio Brakka war nicht von Gliese Atlantica zurückgekehrt; es wäre ein Anfang, Kontakt aufzunehmen oder überhaupt seinen Verbleib zu klären. Zuallererst musste sie sich jedoch Umstände schaffen, unter denen sie hier operieren konnte. Ihr Implantat warnte sie zuverlässig vor den unzähligen Überwachungskameras, die in den Straßen und öffentlichen Gebäuden der Stadt angebracht waren, aber optische Überwachung war nur das oberflächlichste Mittel, das die Sicherheitskräfte in den Befreiten Sektoren einsetzten. Anita wusste von den Apparaten, die überall in der Stadt Partikel in der Luft nach DNA-Spuren untersuchten, und sie wusste auch, dass ihre eigene DNA in der Datenbank der Polizei gespeichert war. Angesichts der Datenmenge arbeiteten die Apparate langsam, und die Behörden würden ohnehin kaum davon ausgehen, dass sie ihre Flucht von Gliese Noctis überlebt hatte. Dennoch war es nur eine Frage der Zeit, bis irgendein Haar oder eine Hautschuppe in einen der Apparate gesaugt wurde und dieser eine entsprechende Meldung ausgab; drei oder vier solcher Meldungen würden dann ausschließen, dass es sich hier um einen Zufall oder Fehler handelte. Anita hätte sich vor dieser Mission natürlich mit einer modifizierten DNA rekonstruieren lassen können — eine andere Pigmentierung hätte gereicht, oder das Erbgut von Vorfahren, das bei ihr nicht zur Geltung gekommen war –, aber damit hätte sie sich gewissermaßen diesem Regime unterworfen. Das stand nicht zur Debatte.
Bevor sie also überhaupt einen Plan für diese Mission entwickeln konnte, musste sie sich um die DNA-Sensoren kümmern. Die einzelnen Apparate ausfindig zu machen und zu sabotieren wäre müßig; das dazugehörige System selbst musste angegriffen werden. So wichtig es Anita war, ihr Nodium zurückzuerlangen, so sehr war sie mittlerweile davon überzeugt, dass jeder Schaden an den Systemen des Regimes ein Zweck in sich war. Nach der langen Wanderung durch die Felder kam ihr die Stadt laut vor, aber das war nicht die Lautstärke des Lebens in der Unabhängigen Sphäre. Ihr kurzer Ausflug auf die Station bei Selene hatte auch etwas anderes bewirkt — Anita erkannte erst jetzt, dass die Biopolitik der Befreiten Regionen bereits erste Früchte trug: Die Menschen auf den Straßen hatten begonnen, sich zu ähneln, und sie selbst war zuallererst beruhigt, nicht allzu anders auszusehen, bis sie gerade dieser Reflex noch viel mehr beunruhigte. Von offiziellen Gebäuden und manchem Privathaus flatterte die Fahne der Befreiten Sektoren: Die vereinfachte Zeichnung einer gepanzerten Faust und eines Schwerts vor einem Schild. Wie vulgär das doch ist, dachte Anita Pastor.
Vorschau: Die Morgenröte hat ein Ziel gefunden, doch die junge Soldatin hadert damit, ob es jemals erreicht werden kann — oder darf. Lucia Lem und Anita Pastor wissen derweil nicht, wonach sie suchen, finden aber Teile eines Puzzles. „Nicht schnell genug“, sagt Rachel Anderson.