Die Kriege der Zukunft [SE01 EP12]

Jacob Birken
32 min readApr 12, 2020

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Was bisher geschah: Carina Debro ist auf einem der Landungsschiffe der Morgenröte auf Dunhuang Siebzehn gelandet, nachdem sie mit einem abenteuerlichen Manöver die Satellitenanlage um den Planeten lahmlegen konnten. Die Galaktische Patrouille ist derweil nach Gliese Noctis unterwegs, der Strafkolonie, aus der Anita Pastor einst ausgebrochen war.

„Die Prozession“

In jeder Richtung stiegen Rauchsäulen auf. Auf unbehagliche Weise änderte es alles, als wäre irgendwas an der Stadt grundsätzlich neu gedacht worden, als wären zu ihren Funktionen plötzlich irgendwelche dazugekommen. Jede der Rauchsäulen war anders: Hier rußige Fäden, die sich in den Himmel spinnten, dort dichter grauer Qualm; am Rand eines der benachbarten Blöcke sah Elvis, wie ein gelblicher Nebel an den Gebäuden hinauf kroch.

Nachrichten kamen seit einer ganzen Weile nicht mehr. Zuerst waren die Übertragungen aus dem Orbit ausgefallen, dann die Nachrichtenkanäle selbst. Irgendwann konnte Elvis keine der planetaren Netze mehr erreichen; als er sein Datenarmband aktivierte, zeigte es zwar noch die Zeit und ein paar lokale Informationen wie seine eigene Pulsfrequenz an, aber am Rand wies ein kleines Symbol blinkend auf die fehlende Verbindung hin. Jetzt saß Elvis wie die meisten anderen Menschen im Block am offenen Fenster und wartete. Die übliche Geräuschkulisse der Stadt war verstummt, doch leise war es nicht; mangels Netz hatten die Menschen begonnen, sich Neuigkeiten zwischen den Stockwerken zuzurufen. Neu war dann meistens, dass einen Block weiter das nächste System oder Netzwerk ausgefallen war. Was tiefer in der Stadt wirklich passierte, wusste niemand.

Einige Male beobachtete Elvis, wie zwischen den Gebäuden kleine Staffeln von Drohnen in Richtung des Zentrums schwebten; dann wiederum stiegen über der Stadt die Flieger auf, die zusammen mit klobigen Transportern vor einigen Stunden vom Himmel gekommen waren. Vor kurzem waren drei dieser Maschinen dicht über dem Block vorbeigeflogen — flache ockerfarbene Rauten, eigentlich nur zwei große Flügel und zwischen ihnen ein kleines Cockpit. Weiße Markierungen bildeten Muster auf den Flügeln, doch Elvis erschloss sich bei der Geschwindigkeit nicht, ob sie Bedeutung hatten oder nur Dekoration waren.

Wir wissen immer noch nicht, worauf wir warten, dachte Elvis. Der Mangel an Information lähmte den ganzen Block. Niemand sah einen Grund, das Gebäude zu verlassen und sich irgendeiner Gefahr auszusetzen, die immerhin noch nicht hier war. In manchen Wohnungen schoben Menschen ihr Mobiliar innen an die Fenster oder verbarrikadierten ihre Balkone. Auch draußen aus dem Treppenhaus hörte Elvis etwas hämmern; er überblickte kurz das Inventar der Wohnung, aber selbst der große Küchentisch war bestenfalls dazu geeignet, sich unter ihm zu verkriechen. Das Hämmern hörte nicht auf.

„Aufmachen!“, rief schließlich jemand. „Hallo?“

Ach so, dachte Elvis und ging zur Tür. Das kleine Paneel für die Flurkamera blieb dunkel. Auch egal, dachte Elvis und öffnete die Tür. Die Stimme hatte nicht einmal bedrohlich geklungen.

Draußen standen zwei Leute. Tatsächlich wirkten sie nicht weiter gefährlich; eine Frau und ein Mann in alltäglicher Kleidung. „Die Klingel ist wohl futsch“, stellte Elvis fest.

„Nachrichtendienst der Garde“, sagte die Frau und projizierte einen Ausweis vor Elvis’ Gesicht.

„Ach ja“, sagte Elvis, „ich hab’ euch schon ein paar Mal gesehen. Wohnt ihr auch hier?“

Die beiden warfen sich betretene Blicke zu. Der Mann räusperte sich.

„Wie dem auch sei“, sagte Elvis, „wollt ihr reinkommen? Worum geht es denn?“

„Wir haben Anweisung, Sie auf das Hauptquartier zu bringen“, sagte die Frau.

„Schon wieder“, sagte Elvis und dachte an den frustrierten Militärmann, der ihn letztens dort ausgefragt hatte. Die Frau zuckte mit den Achseln.

Elvis drehte sich in die Wohnung um, um nach dem Ofen zu schauen, aber der Ofen war aus, wie eben alles andere in der Wohnung, dem Gebäude und vielleicht der ganzen Stadt aus war. „Ja, gut“, sagte er.

Die Leute von der Garde hatten ihren Gleiter auf der anderen Seite des Gebäudes zwischen ein paar Bäumen abgestellt. Dann ist noch nicht alles kaputt, dachte Elvis. Aber diese rautenförmigen Flieger waren schließlich auch unterwegs, und was fliegt schon ohne Strom; wer weiß, was hier tatsächlich passiert. Der Gleiter war zumindest äußerlich ein bescheidenes Fahrzeug, eine Sammlung von schrägen Flächen, als hätte jemand ein einfaches Origami-Modell vergrößert und aus Karbonstahl gegossen. Elvis musste sich auf die Rückbank setzen, bevor die beiden anderen vorne in ihre Sitze stiegen; tatsächlich trennte eine dicke Scheibe beide Teile der Kabine, und neben den Türgriffen hinten leuchteten nun kleine rote Lämpchen. Die Maschine hob geräuschlos ab, und auch die Beiden von der Garde blieben still. Elvis sah ein paar Menschen in den Fenstern, die ihnen noch hinterherschauten. Wer weiß, dachte er, vielleicht bin ich hier sicherer.

Der Gleiter flog viel dichter über dem Boden als innerhalb der Stadt üblich, aber auf den Straßen und Plätzen war ohnehin niemand. „Wisst ihr mehr über dieses Virus?“, fragte Elvis, als sie bereits ein paar Blöcke weiter waren.

„Virus?“, fragte die Frau. Ihre Stimme kam über Lautsprecher; die Scheibe musste wohl so einiges abhalten.

„Das, weswegen alles kaputtgeht, eben.“

„Der elektromagnetische Puls“, sagte die Frau.

„Kann ja sein. Wisst ihr mittlerweile mehr?“

„Dazu können wir jetzt nichts sagen“, antwortete sie nach einer Weile. Sie hatten noch nicht die halbe Stadt durchquert, als Elvis zwischen zwei Blöcken Bewegung sah, ein Ding wie die untere Hälfte eines gewaltigen Skeletts, zwei Beine und die Hüfte und vielleicht noch ein Rest des Rückgrats. Um das Ding herum war noch mehr in Bewegung, doch der Gleiter war bereits zwischen die nächsten Gebäude geflogen. Der Soldat im Sitz vor ihm machte eine warnende Geste, und der Gleiter schmiegte sich näher an den Boden. Dann hörte Elvis wieder den Glockenton, der den Anfang der Invasion eingeleitet hatte; er kam nicht durch die Lautsprecher, sondern vibrierte durch den gesamten Gleiter. Dem Ton folgte ein Licht, ein in allen Farben schillernder Schleier, als hätten sie gerade einen unendlich feinen Wasserfall passiert; doch es war viel eher das Licht, das durch sie hindurchging und dem Gleiter noch vorauseilte. Elvis sah, wie die kleinen roten Lämpchen an den Türen erloschen und danach das gesamte Armaturenbrett. Wenige Sekunden später fuhr ein unerträgliches Kreischen durch die Kabine, als der Rumpf des Gleiters auf dem Schotter aufkam und die Maschine noch viele Meter durch einen kleinen Park schlitterte, bis sie seitlich gegen eine Bank stieß und schließlich schräg in einem Blumenbeet zum Halt kam, exakt dort, wo Elvis es anhand der vielen entsprechenden Erfahrungen aus seiner früheren Laufbahn geschätzt hatte.

Er wartete, bis die beiden vorne aus der Kabine gestiegen waren, bis er die eigene Tür öffnete; zum Glück war die Verriegelung wohl so gebaut, dass sie bei einem totalen Systemausfall mechanisch entsperrt blieb. Die Soldatin lehnte vorne gegen die Karosserie und hielt sich mit beiden Händen den Kopf.

„Gut reagiert“, sagte Elvis und versuchte, beim Aussteigen keine der überlebenden Blumen zu zertrampeln. Hätte der Gleiter seine höhere Flugbahn beibehalten, wären sie ein Stück weiter in einer Hausfassade geendet. Die Frau antwortete nicht, und auch der andere Soldat stolperte um den Gleiter auf ihre Seite, eine Hand gegen die Stirn gepresst.

„Was ist mit euch“, sagte Elvis. Der Aufprall war viel zu schwach gewesen, um ein Schleudertrauma zu verursachen, aber vielleicht überschätzte er die Belastbarkeit dieser Leute.

Die Beiden schauten erst einander an, dann Elvis. „Hast du kein Implantat“, sagte die Frau schließlich.

„Doch, natürlich.“

„Und es ist okay?“

Elvis rief sich einer paar Bilder des Sumpfs um sein altes Haus vor die Augen. „Klar. Eure nicht?“

Die beiden schwiegen länger. Irgendwann holte der Soldat eine Pistole aus seiner Jacke. „Warum ist dein Implantat nicht ausgefallen?“, fragte die Frau.

Elvis zuckte mit den Schultern; das war nur eine weitere Frage, die zu den vielen anderen, ebenfalls offenen dazukam.

„Warum hast du vorhin von einem Virus gesprochen?“, fragte sie jetzt.

„Dieses Licht, gerade? Bei uns im Gebäude es nie angekommen, aber die Dinge sind trotzdem ausgefallen, nach und nach. Es muss sich irgendwie übertragen haben.“ Elvis schaute auf sein Datenarmband; auch dessen Display blieb jetzt so leer wie der Bildschirm der Flurkamera in seiner Wohnung und die Anzeigen auf dem Armaturenbrett des abgestürzten Gleiters.

„Aber auf dein Implantat hat es sich nicht übertragen.“

„Ich weiß es doch auch nicht“, sagte Elvis. An den meisten Fenstern und auf einigen Balkonen standen jetzt Menschen. Elvis hob einen Daumen in die Höhe und winkte. Was auch immer sie vorhin zwischen den Gebäuden gesehen hatten, es war sicherlich besser, wenn die Leute einfach in ihren Wohnungen blieben.

„Wir sollten weiter“, sagte die Soldatin.

„Du musst vorausgehen“, sagte der Soldat zu Elvis und deutete mit seiner Waffe in die Ferne.

Die Soldatin schaute zurück, wo der Gleiter eine lange Schleifspur über den Platz gezogen hatte. „Wir gehen besser an den Häusern entlang“, sagte sie.

Wie überall in der Stadt erhoben sich zu allen Seiten die großen Blöcke aus mit allen möglichen und unmöglichen Ranken und Moosen bewachsenen Betonschachteln, in einem groben aber letztlich strengen Raster kreuzförmig aneinandergereiht; zwischen jeweils vier daraus ein eigenes, quadratisches Tal, und in der Mitte jedes der künstlichen Hänge eine breite Schneise ins Nachbartal. Hier war die Fläche zwischen den Blöcken als ein Park angelegt, mit ein paar verstreuten kleinen Baumgruppen und Pavillons, in denen es sonst etwas zu Trinken oder Musik gab; Elvis erinnerte sich noch, hier irgendwann eine Weile gesessen und sich gefragt zu haben, was diesen Park von den vielen anderen auf Dunhuang Siebzehn unterschied, aber was es schließlich war, wusste er nicht mehr. Sie hatten noch die halbe Länge eines Gebäudeflügels vor sich, als etwas sie anhalten ließ; vielleicht war da ein Raunen, das aus den vielen Wohnungen im Block zu hören war, oder vielleicht bereits etwas anderes. Die zwei von der Garde duckten sich hinter einem Baum weg und dirigierten Elvis zwischen ein paar Tomatenstauden, die jemand vor die Terrasse gepflanzt hatte. In den Häusern schauten die Menschen schon lange nicht mehr ihnen hinterher, sondern zur Passage zwischen den beiden gegenüberliegenden Blöcken.

Das funktioniert auch noch, dachte Elvis, als er mit seinem Implantat tiefer in die Straße zoomte. Zwischen den Gebäuden bewegten sich Menschen: große, leuchtende Figuren wie in einer Prozession. Elvis erkannte erst langsam Details — die schweren Anzüge aus einem warm glänzenden Metall, alle ähnlich, aber auf den zweiten Blick kaum einheitlich; weiter hinten zwischen ihnen schließlich die große, schreitende Maschine, die nun gar nicht mehr wie ein skelettaler Unterkörper aussah, sondern wie ein seltenes Insekt oder vielleicht etwas aus einem Tiefseeaquarium, mit viel zu vielen Gelenken an den langen Beinen. In einem kleinen Cockpit über den Beinen saß wohl ein Mensch, und die Auswüchse zu den Seiten mussten Waffen sein. „Was sind das für Leute“, sagte Elvis leise. Die Ersten in der Prozession hielten ihre Gewehre im Anschlag, doch hinter ihnen hatten einige bereits die Helme ausgezogen und unter den Arm geklemmt. Ein Siegeszug, dachte Elvis, nachdem er länger das richtige Wort gesucht hatte. In der leeren Schlucht zwischen den begrünten Häuserblöcken wirkten die glänzenden Truppen wie etwas aus einer ganz fernen Zeit; nichts an ihnen ließ sich in einen sinnvollen Zusammenhang mit dieser Stadt stellen, wie Elvis sie selbst kennengelernt hatte. Jemand in der Prozession trug eine Flagge mit sich, zwei andere hielten an einer Stange ein tonnenförmiges Ding. Zwischen den Beinen der schreitenden Maschine hindurch sah Elvis die Formen eines klobigen Fahrzeugs und den Straßenstaub, den es zu beiden Seiten aufwirbelte. „Was sind das für Leute?“, sagte er nochmals und drehte sich zu den Beiden von der Garde um.

„Kannst du sie sehen?“, fragte die Frau.

„Ja“, sagte Elvis.

„Hast du es aufgezeichnet?“

Elvis nickte und speicherte vorsichtshalber die letzten fünf Minuten.

„Lasst uns verschwinden“, sagte die Soldatin, „vielleicht haben sie uns noch nicht gesehen.“

„Ja“, sagte Elvis, „wahrscheinlich nicht.“ Und wenn, dachte er, ist ihnen das sicher nicht wichtig genug.

Sie schlichen zur Ecke des Gebäudes, ohne dass etwas geschah, und schlängelten sich zwischen den nächsten Blöcken durch einen kleinen Stadtwald; irgendwann pfiff über ihnen eine Staffel der rautenförmigen Flugmaschinen vorbei, aber auch dann passierte nichts.

„Aber wisst ihr jetzt mehr über diesen Puls, oder was das ist?“, fragte Elvis nochmals, als sie drei Blöcke weiter waren.

„Dazu können wir nichts sagen“, antwortete der Mann erschöpft.

„Könnt ihr mir das nicht sagen, oder dürft ihr nicht?“, fragte Elvis. Die Soldatin war ihm einen zu wütenden Blick zu, als dass es hier nur um das Dürfen hätte gehen können.

🌠

Die Leute leisteten keinen nennenswerten Widerstand, wollten das Haus aber dennoch nicht aufgeben. „Auf keinen Fall“, sagte die ältere Frau, die sich Carina in den Weg gestellt hatte.

Warum diskutieren wir mit denen, dachte Carina, die sich ohne weiteres an ihr hätte vorbeizwängen können. Sie lehnte ihr Nagelgewehr an die Schulter und deutete hinter sich, wo mehrere ihrer bewaffneten Teams warteten, um das Gebäude endlich zu sichern. „Was genau versteht ihr daran nicht“, sagte sie.

„Wer gibt euch das Recht?“, sagte die Frau.

„Palmer“, sagte Carina müde. Der Sergeant schoss einem Mann in der vordersten Reihe durch das Bein. Der schwere Nagel bohrte sich hinter ihm in den Estrich, während der Mann zu Boden sank. Blut durchtränkte den Stoff seiner Hose und sammelte sich zwischen seinen Fingern, als er mit beiden Händen seinen Unterschenkel umklammerte. Jemand schrie kurz auf, irgendwer anderes fragte, ob hier ein Arzt sei.

„Wer gibt euch das Recht“, wiederholte die Frau, auch wenn alle Farbe aus ihrem Gesicht gewichen war.

„Das braucht uns niemand zu geben“, sagte Carina. „Macht den Weg frei. Der nächste Schuss geht nicht ins Bein.“ Mehrere Leute knieten jetzt neben dem Verwundeten. „Schafft ihn doch weg“, sagte Carina ungeduldig.

„Wie“, sagte jemand, „es fährt doch nichts mehr“, als wäre dies ein ganz eigener unvorteilhafter Umstand und hätte nichts mit der Anwesenheit von Carina und ihrer Einheit zu tun.

Tragt ihn“, sagte sie, „verbindet sein Bein.“ Wir machen uns hier lächerlich, dachte sie. „Jeweils zwei Teams“, rief sie nach hinten, „sichert das oberste Stockwerk und das Dach.“ Die Teams drängten sich zwischen den Leuten im Flur hindurch, massiv und unaufhaltsam in ihren schweren Kampfanzügen. Carina schaute der Sergeantin des ersten Teams nach, wie sie sich den Weg zum Treppenhaus bahnte; wie eine Athletin, die auf dem Weg ins Stadion aus Versehen in eine Anstalt mit störrischen Jugendlichen geraten war. „Fangt an, Ressourcen zu sichern“, sagte Carina zu Palmer. „Sauberes Wasser, Getreide. Da können wir auch gleich mit anfangen.“ Dann überspringen wir den Krieg eben für’s erste, dachte sie. Wird sicher schnell genug kommen.

„Irgendwer von euch“, sagte sie und deutete zur Gruppe im Flur, „führt meine Leute zu euren Lagern. Sie werden euch sagen, was wir brauchen.“

Die ältere Frau breitete ungläubig ihre Arme aus. „Und ihr denkt, ihr könnt euch das einfach nehmen? Wie kommt ihr darauf?“

Carina fühlte eine unerwartete Leere. Weil wir es brauchen, dachte sie. Weil wir es können?

„Das spielt jetzt keine Rolle“, sagte sie und schob die Frau beiseite.

🌠🌠

Das Hauptquartier der Garde lag am Stadtrand, große, flache Bauten, die durch bewaldete Wälle von den nächsten Blöcken getrennt waren. Überall in den Wällen waren die Scharten von unterirdischen Bunkern verborgen, gut eingepasst in die künstliche Landschaft aber dann doch zu kantig, um beim genaueren Hinsehen nicht aufzufallen.

Am Terminal beim Eingang ermahnte ein rot umrahmter Hinweis die beiden von der Garde, den Gleiter ordnungsgemäß wieder auf dem Parkdeck abzustellen, nachdem sie sich selbst und danach Elvis mit allerlei Scans registriert hatten. „Den Gleiter gibt’s nicht mehr“, rief der Soldat zu dem Wachhäuschen neben dem Eingang, nachdem das Terminal nur zwei Auswahlmöglichkeiten — jeweils fünf oder fünfzehn Minuten bis zur nächsten Erinnerung ans ordnungsgemäße Abstellen des Gleiters — anbot, um den Hinweis loszuwerden.

Als Elvis vor wenigen Tagen auf das Hauptquartier gebracht worden war, war ihm unter den Menschen hier eine allgemeine Nervosität aufgefallen; jetzt schienen alle vielmehr von der gleichen Lethargie betroffen, die die Leute in den Blöcken und auch ihn seit der letzten Nacht lähmte. Vor allem waren es viele; sie standen in kleinen Gruppen im großen Hof hinter dem Eingang oder lehnten an den Mauern der Gebäude. „Die Drohnenteams“, sagte die Soldatin mehr zu sich selbst.

Das Virus hat sie alle überflüssig gemacht, dachte Elvis, als sie an den blassen Menschen vorbei das zentrale Gebäude betraten. Hier war immerhin Aktivität; Leute liefen durch die Gänge, aufeinander oder auf Hologramme über ihren Datenarmbändern einredend, während über ihnen Drohnen irgendwelche Materialien transportierten. Vor dem Büro des Generalleutnants warteten bereits Andere, aber die beiden von der Garde bugsierten Elvis dennoch durch die offene Tür. Es roch streng nach Kaffee und scharfem Essen und Schweiß, und dem Raum selbst war anzusehen, dass hier die letzten Tage durchgearbeitet worden war: Mit groben Markierungen an den Wänden und gekippten Tischen waren hier und da provisorische Unterteilungen eingerichtet worden, und wirklich jede Fläche wurde mit irgendeiner Projektion, einem rotierenden Hologramm des Planeten oder Arbeitslisten bespielt. Trotzdem waren auch hier einige der Apathie anheimgefallen, vielleicht aus Schlafmangel und Hoffnungslosigkeit, vielleicht, weil der Puls ihnen wie den Drohnenteams einfach die Werkzeuge entrissen hatte und überhaupt die Möglichkeit, mit der Welt draußen auf gewohnte Weise zu interagieren.

Der Mann, der Elvis bei seinem letzten unfreiwilligen Besuch bei der Garde verhört hatte, saß hinter einem Schreibtisch in der Mitte des Raumes; gut ein Dutzend Menschen saßen umringten ihn, aber jetzt blickte er kurz auf. „Zu Ihnen kommen wir noch“, rief er und deutete mit dem Finger direkt auf Elvis. „Das finde ich noch heraus, was für eine Rolle Sie in dem Ganzen spielen.“

Das würde mir auch helfen, dachte Elvis und murmelte ein Danke, während der Generalleutnant seine Begleitung und ihn aus dem Raum gestikulierte.

„Können Sie uns die Aufzeichnung überspielen, von vorhin“, sagte die Soldatin. Sie hatten Elvis in einen kleinen Raum mit nicht viel mehr als einem Tisch und ein paar Stühlen gebracht; dort saßen sie eine Weile nebeneinander und starrten still an eine fensterlose Wand.

„Ja“, sagte Elvis. „Nein. Das geht nur über mein Armband.“ Er tippte auf das tote Display an seinem Handgelenk.

„Dann kriegen Sie eben ein Neues“, sagte der Soldat und wollte gerade das Menü seines eigenen Armbands aufrufen, das natürlich ebenso leblos blieb. „Wir brauchen alle ein Neues.“

„Ich kann die nicht benutzen“, sagte Elvis. „Das war extra angefertigt, damit es übersetzt, zwischen meinem Implantat und euren Netzen.“

„Natürlich“, sagte der Mann, der schon halb aufgestanden war und sich jetzt wieder setzte.

„Wir haben sie ja schon gesehen, diese Armee“, sagte die Frau. „Die Drohnen schickten Bilder, bevor sie abstürzten. War da etwas Besonderes, vorhin?“

Was war da nicht besonders, dachte Elvis und rief sich die Bilder der goldenen Armee wieder vor Augen. Wie Engel, dachte er, die sonderbaren Figuren aus den alten Mythologien, die immer noch in der einen oder anderen Geschichte auftauchten, vielleicht weil nie wirklich klar wurde, ob sie nun ein übermächtiger Schrecken waren oder die Sanftmut in Person. Vielleicht haben sie deswegen jetzt schon gewonnen. „Da war eine Maschine, auf zwei Beinen?“, sagte er. „Und ein großer Wagen, wie ein Bus. Und zwei von ihnen haben etwas getragen, eine Art Tonne. Es schien wichtig gewesen zu sein, so wie sie es getragen haben.“

„Okay“, sagte die Frau nur.

Die beiden standen auf. „Jemand bringt nachher etwas zu essen vorbei“, sagte der Mann, bevor sie das Zimmer verließen.

🌠🌠🌠

Von oben sah die Strafkolonie aus, als hätte jemand in die graubraune Eintönigkeit der Steppen von Gliese Noctis ein paar Diagramme eingezeichnet: Segmentierte Kreise und Rechtecke, selbst aus der Ferne gut sichtbar mit Buchstaben und Zahlenkombinationen versehen und mit streng rechtwinklig oder diagonal verlaufenden Linien verbunden. Anita Pastor fand das nicht unpassend, denn schließlich ging es hier vor allem darum, Menschen zu ordnen und auszuwerten. Die Gefangenen wurden zwar auch zu der einen oder anderen Form von Arbeit gezwungen, aber produktiv im üblichen Sinne war das nicht; Ziel war eher, aus ihnen Informationen herauszupressen, die zu weiteren Verhaftungen führen konnten. Auf den anderen Planeten der Befreiten Sektoren wussten die Menschen von der Strafkolonie, aber sich ausführlicher damit zu beschäftigen garantierte, selbst auf Gliese Noctis zu enden. Wenn die Strafkolonie also wirklich etwas produzierte, dann immer neue Gefangene. Das ist bald vorbei, dachte Anita, während das Landungsschiff der Patrouille auf die Anlage zusteuerte und die Kreise und Rechtecke als massive Gebäude und die Linien zwischen ihnen als Zäune und Verbindungsgänge erkennbar wurden.

„Wir sollten auf einem der runden Gebäude landen, möglichst nahe von seiner Mitte“, sagte sie und hoffte, damit zu Jin Dahl durchzukommen. Der riesige Agent lag nach wie vor friedlich in seinem Sitz, über sein Nodium mit dem Schiff und wahrscheinlich dem meisten Anderen drumherum verwoben. Die Strafkolonie nahm jetzt langsam die Dimensionen an, wie Anita sie kannte: Unmenschlich groß; eine Ansammlung aus einfachen Formen aus Beton und trübem Sicherheitsglas, von außen mit nichts ins Verhältnis zu setzen, das die wirkliche Größe verraten konnte. Sie haben sogar die Pflanzen um die Gebäude weggeätzt, stellte Anita fest, als würde ein Grashalm schon zu viele Fakten schaffen. Sie selbst wusste genau, wie groß diese Gebäude waren; sie wusste noch, wie viele Schritte es brauchte, um von der zentralen Halle in die Krankenabteilung zu kommen oder in eine der Werkstätten, oder von der untersten Treppenstufe vor den Zellen aus den Innenhof eines der runden Gebäude zu durchqueren. Sie wusste auch, wie viele Stufen pro Stockwerk die Treppen hatten, und mit wie vielen Schrauben die Fassungen der Treppenstufen an den Rahmen befestigt, und wie lange diese Schrauben im Verhältnis zu ihrem Zeigefinger waren (die Stufen selbst waren zumindest zu ihrer Zeit aus Panzerglas gefertigt, das im Gegensatz zu den Fenstern in den Zellen durchsichtig war). So groß diese Anlage sein mochte, sie stand wiederum in keinem Verhältnis zu dem Zorn, den Anita für die Strafkolonie verspürte, und der die Jahre seit ihrer Flucht niemals verschwunden, sondern nur im Hintergrund geblieben war. Vielleicht wird er gemeinsam mit diesem Ort hier endlich verschwinden, dachte sie. Vielleicht kann ich dann auch verschwinden.

Anita schaute sich in dem Cockpit um, ob ihr die anderen diesen Zorn angesehen hatten, aber Jin Dahl hatte weiterhin die Augen geschlossen und Lucia Lem starrte an ihr vorbei durch das Fenster; in der Kabine weiter hinten prüften die restlichen Leute aus ihrem Team nochmals die Einsatzinformationen. „Zieht eure Helme an“, sagte sie.

Das Schiff war keine hundert Meter mehr von einem der äußeren Gefängnisgebäude entfernt. „Da ist eine Tür, in diesem runden Aufbau in der Mitte. Von uns aus gesehen rechts“, sagte Anita. Wirklich mit bloßem Auge zu sehen war die Tür noch nicht, aber der Bordcomputer erfasste bereits aus dieser Entfernung die Fugen und markierte sie mit grünlichen Umrissen auf einer Projektion. Wenigstens der passt auf, dachte Anita und schaute kurz zu Jin Dahl hinüber. Neben ihr band sich Lucia die Haare zusammen, ohne den Blick vom Fenster abzuwenden. Mit einem sanften Schwenk näherte sich das Schiff dem Dach und verharrte dort in einem sonderbaren Winkel, der irgendjemandes Helm durch die Kabine rollen ließ. Lucia musste sich auf Anitas Sitz aufstützen und fluchte leise, während sie wieder ihren Haargummi suchte.

Jin Dahl öffnete die Augen und strahlte sofort übers ganze Gesicht. „Gleich müsst ihr euch alle selbst unsichtbar machen“, sagte er.

Anita machte eine Geste, die der Schräglage des Schiffs entsprach.

„Aha, ja“, sagte Dahl. „Toter Winkel, von den anderen Gebäuden aus. So passen wir genau hinein, ohne dass uns jemand sieht.“

„Gut“, sagte Anita. „Aber hier sind überall Drohnen. Sobald wir das Schiff verlassen, müssen alle sofort zu der Tür. Aber nicht zögern, wenn ihr eine der Drohnen abschießen könnt. Wer weiß, wie viel Zeit wir brauchen, um die Tür aufzubekommen.“

Dahl grinste noch breiter und drehte sich in die Kabine um, wo sich sein Gesicht in neun Helmvisieren spiegelte. „Alles klar?“, rief er. Jemand streckte einen Daumen nach oben. Die meisten hielten bereits ihre Gewehre in den Händen, obwohl sich manche auch an den Griffen und Schlaufen an Decke und Wänden festhalten mussten, um in dem schräg stehenden Schiff nicht das Gleichgewicht zu verlieren.

Anita steckte ihre Haare hoch, damit sie in den Helm passten; der Griff war nach tausenden Wiederholungen schon lange in ihr Körpergedächtnis übergegangen. In einer anderen Armee hätten sie uns schon lange geschoren, dachte sie, während Jin Dahl seinen Bart hinter den Kragen klemmte. Gut, das wir keine andere Armee sind.

Dahl kletterte in die Kabine und zog die leuchtenden Fäden seines Nodiums mit sich, die weiterhin an den Anschlüssen im Cockpit hafteten oder sich schnell neue Anbindungen in den Wänden der Kabine suchten. In einem Spind fand er die Teile eines Exoskeletts; schwarze Gestänge, die sich sofort an die Körperteile anschmiegten und an den Gelenken mit geschäftig ineinandergreifenden Klammern und Gewinden von selbst verbanden, während sich aus dem Nodium bereits neue Fäden um die künstlichen Knochen zogen wie ätherische Muskelstränge. Die Leute in der Kabine rückten instinktiv weg, als Dahl sich ein paarmal in seiner neuen Montur streckte. „Wir gehen als erste“, sagte er und machte mit der Hand ein paar zackige Bewegungen, die mit ihrer mechanischen Verstärkung wohl einen Granitblock hätten spalten können.

„Okay“, sagte Lucia und musste sich räuspern, „wir danach.“

„Ihr habt’s gehört“, sagte Anita. „Und los.“

Dann öffnete sich die Heckklappe des Landungsschiffs.

„Drohne auf zwei Uhr“, gab jemand über Funk durch, aber Lucia hatte sofort beschlossen, sich ausschließlich auf den Weg zur Tür zur konzentrieren, als sie nur mit beiden Füßen auf der Betonfläche des Daches angekommen war. Rechts vor ihr war Dahls Team, ganz vorne der riesige Agent selbst, in seinem Exoskelett weite, aber nicht besonders schnelle Schritte machend, als würde jemand mit einer Marionette den Gang eines allzu forschen Mannes karikieren wollen. Lucia wich im Zickzack aus, während die ersten Geschosse zwischen ihnen Staub und Betonsplitter aufspritzen ließen.

Es war nicht weit bis zur Tür. Lucia kam mit beiden Handflächen auf der Wand dort an wie ein Kind beim Wettrennen. Durch die Handschuhe hindurch konnte sie die feine Fuge um die Tür gerade noch spüren, nicht viel mehr als ein Umriss im glatten Beton: Diese Tür war nicht dafür gebaut, um per Hand geöffnet zu werden. Und jetzt?, dachte Lucia, aber der Lärm des Gefechts hinter ihr machte klar, dass jetzt vor allem keine Zeit war, um sich weiter mit der Tür zu beschäftigen. Ihr Team war bei ihr angekommen und lieferte sich Schusswechsel mit einem halben Dutzend von Drohnen, kantigen, matt schwarz lackierten Dingern mit einem großen rotglühenden Auge in der Mitte und einem langen Gewehrlauf vor dem Rumpf, aus dem im Sekundentakt irgendwelche radioaktiven Projektile schossen und, obwohl verlangsamt und abgelenkt durch die tragbaren Energieschilde der Leute von der Patrouille, immer neue kleine Krater in den Beton schlugen. „Schilde zusammenrücken“, rief Lucia. Auf diesem Dach hatten sie keine Deckung außer derjenigen, die sie selbst mitgebracht hatten.

Lucias Leute brachten sich in Position. Ihre Energieschilde, schimmernde Vielecke, die sich von den Generatoren an ihren Unterarmen aufspannten und von selbst Größe und Form anpassten, um die Person dahinter zu schützen, schlossen sich nun zu einer halben Kuppel aus Licht vor der Tür zusammen. Die Projektile der Drohnen würden sie nicht durchdringen können, so lange die Energie eben reichte; derweil hatten sich die Teams von Anita und Jin anderswo auf dem Dach eingerichtet, um die fliegenden Maschinen ihrerseits mit Plasmabolzen zu beharken: winzige Sternschnuppen vor dem wolkenverhangenen Himmel dieses Planeten, die an den Schilden der Drohnen zerliefen oder sich mit etwas Glück durch die Panzerung der Maschinen in ihr Inneres brannten.

„Wir müssen die Tür herausbrechen“, rief Lucia in ihr Mikro.

„Verstehe“, hörte sie Dahl sagen. Auf dem Weg über das Dach hob er noch eine der abgeschossenen Drohnen auf und schleuderte sie zwischen die anderen, für ein paar Sekunden ihre algorithmische Formation störend, während bereits weitere der Maschinen um das Gebäude herum aufstiegen. Dahl versuchte es zuerst mit den Fingern, dann mit der Faust, doch gegen den Beton kam selbst das Exoskelett nicht an.

Er kann so nicht greifen, dachte Lucia, er braucht eine Kante. „Einen Moment“, sagte sie. Dahl entfernte sich bereitwillig und spannte sein eigenes Energieschild auf, um sich aus der Lichtkuppel vor der Tür zu schälen und erneut den Drohnen entgegenzutreten. Lucia holte einen Sprengsatz aus einer Tasche, eine flache Scheibe mit nicht viel mehr als einem kleinen Rad zum Einstellen der Sekunden bis zur Detonation; sie blieb fest am Beton neben der Tür haften, und Lucia stellte sie auf die kleinste Zeit ein, die sie verantworten konnte.

Nicht weit entfernt konnte Anita Pastor hinter ihrem Visier ein Grinsen nicht unterdrücken: Die Drohnen wirkten tatsächlich ängstlich, wenn Jin Dahl von Boden aus nach ihnen langte. Wahrscheinlich hatten die Maschinen keine passenden Verhaltensmuster für einen Riesen in einer Rüstung, die ihm noch wundersamere Kräfte verlieh. Gleich, dachte Anita, als sie in ihrem Helm wieder auf die Tür zoomte und den winzigen Zähler an dem Sprengsatz daneben seinem Ende entgegenticken sah. Wir brauchen zu viel Zeit. Dann passierte noch etwas anderes, bevor kurz darauf der Sprengsatz ein faustgroßes Loch in die Wand riss. Anita sah zuerst die Klauen am Rand des Daches; dann hievten sich an spitzen Gliedmaßen drei wuchtige Maschinen herauf, jede auf den ersten Blick nicht mehr als ein Kasten auf vier Beinen, vorne dekoriert mit dem Wappen der Befreiten Sektoren: Ein Schild und davor eine gepanzerte Hand mit einem Schwert, als hätte jemand das Symbol dieses Regimes auf möglichst brachiale Weise mobilisieren wollen. „Zurück“, rief Anita.

Die Mobile Massenbeaufsichtigungseinheit kam überall in den Befreiten Sektoren zum Einsatz. In den Städten erschien sie dann, wenn die Roboter der Integrierten Zivilen Auswertung nicht mehr ungehindert ihrer Arbeit nachgehen konnten, weil sich beispielsweise mehrere Dutzend Menschen nur schwer auf einmal inhaftieren ließen; Mobile Massenbeaufsichtigungseinheiten gehörten auch auf jede größere Veranstaltung, wo sie — die Beine unter dem Rumpf eingezogen — als riesige Poller Bereiche markierten, in denen man sich als Zivilperson besser nicht aufhalten sollte. In dieser Kolonie hatte Anita gesehen, wie sie in wenigen Minuten jeden Aufstand niederschlugen. Diese Maschinen waren bewegliche Mauern, aber auch Waffen, die die Menschen bereits durch ihre Anwesenheit ausreichend in Schrecken versetzten, um Kontrolle über sie zu behalten. Jetzt krabbelten drei dieser Einheiten auf die Tür zu, während die Plasmabolzen aus den Gewehren der Patrouille wirkungslos vor ihren Schilden verglühten.

Zwischen den Maschinen und dem Aufbau in der Mitte des Daches stand nur noch Jin Dahl. Was will er machen, dachte Anita, als Dahl mit aufgespanntem Energieschild und gebeugten Knien die Maschinen erwartete. Was kann er machen. Was auch immer es war, die Maschinen kamen ihm zuvor; die erste schob die Platten an ihrer Front um nur wenige Zentimeter auseinander und spie ihm eine Feuerwolke entgegen, sodass Dahl nach hinten stolperte und fast fiel, bevor sein Nodium und das Exoskelett aus der unfreiwilligen Bewegung einen wenig eleganten Salto rückwärts machten und ihren Träger in Sicherheit brachten.

Bis auf die Sprengsätze hatte die Patrouille nichts, das die Panzer der Mobilen Massenbeaufsichtigungseinheiten durchbrechen konnte, und es bräuchte außerordentliches akrobatisches Talent, um im Sperrfeuer der Drohnen und an den Flammenwerfern vorbei eine der Minen anbringen zu können. Wir müssen aber nicht durch ihren Panzer durch, dachte Anita. Diese Maschinen müssen einfach nur runter von diesem Dach.

Auf der anderen Seite der Mobilen Massenbeaufsichtigungseinheiten sah Lucia Lem, wie Anita in Richtung des Landungsschiffs losrannte. Warum?, dachte Lucia. Sie wird nicht fliehen, und mit den Geschützen des Schiffs kommt sie gegen diese Dinger auch nicht an. Aber das weiß sie selbst. Warum also? Dann kam ihr das Einzige in den Sinn, wofür Anita das Landungsschiff noch gebrauchen konnte. „Da rüber“, rief sie ihrem Team zu und zeigte in Richtung des Dachrands. „Und Sperrfeuer auf diese drei Kisten, jetzt, los …“

Sie denkt mit, stellte Anita Pastor fest, nachdem sie im Cockpit des Landungsschiffs einen neuen Kurs einprogrammiert und durch das Fenster jetzt schnell die Situation auf dem Dach überschaut hatte. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis die Triebwerke des Schiffs ansprangen; dann hob die Maschine ab und setzte zu einer kleinen Schleife an, um überhaupt Geschwindigkeit aufzunehmen. „Jin“, sagte Anita über den gemeinsamen Kanal, als das Schiff wieder auf die Mitte des Dachs zuflog. Sei du jetzt nicht dumm, dachte sie. Dahl stellte sich weiter den Maschinen entgegen, so nahe es eben ging; jetzt hatte er das ausdruckslose Visier seines Helms in ihre Richtung gedreht. Dann machte er einen dieser langsamen, großen Schritte nach hinten, und einen weiteren. Gut, dachte Anita und rannte selbst der offenen Heckklappe des Landungsschiffs entgegen.

Jin war nicht weiter zurückgewichen, als es notwendig war, und so rauschte das Landungsschiff keine Armlänge vor ihm vorbei und riss dabei die drei Maschinen mit sich und vom Dach; ein paar Sekunden später kam es unsanft auf einem der anderen Gefängnisgebäude auf, nachdem die automatischen Stabilisatoren wohl einen noch schlimmeren Absturz verhindern konnten. Wenige Meter von Jin entfernt stand Anita Pastor vom Boden auf. „Wir kümmern uns um die Drohnen“, sagte sie. Jin lachte nur und machte sich wieder auf den Weg zur Tür.

Das ist wohl die Galaktische Patrouille, von der ich immer gehört hatte, dachte Lucia Lem. Hätte vielleicht auch eine Legende bleiben können, und ich hinter meinem Schreibtisch. Als sie sich kurz umdrehte, eröffnete sich vor ihr der Horizont von Gliese Noctis, die graubraune Ödnis der Steppe hinter der Gefängnisanlage und darüber die schwere Wolkendecke, nur hier und da durchbrochen von den Strahlen des lokalen Sterns. Für einen Moment war Lucia, als wäre sie gerade aus einem frustrierenden Traum aufgewacht. Ach so, dachte sie, deswegen. Das war nicht wie der Ozean um die Insel, auf der sie aufgewachsen war, oder wie das Weltall, wie sie es sich damals ersehnt hatte, aber es war eine andere unendliche Weite, die sie bislang so noch nicht gesehen hatte.

Das monotone Rattern der Drohnen hinter ihr holte sie sofort wieder zurück. Konzentration, Lucia Lem, dachte sie, du bist hier nicht alleine. Ihr Team hielt weiter am Rand des Dachs Stellung, während Jin Dahl sich mit seinen Leuten zur Tür durchgekämpft hatte; Anita Pastors Team rückte derweil langsam von ihrer linken Seite her vor. Das war alles nicht falsch, da die Drohnen nun an drei Fronten beschäftigt waren. Es waren allerdings zu viele Drohnen. Lucia hatte gerade ihr Team vorrücken lassen, als einer von Dahls Leuten am Bein getroffen wurde und jemand anderes den verletzten Agenten hinter einen Energieschild zerrte. Das muss klappen, dachte Lucia, während Dahl sich wieder an der Tür zu schaffen machte und sein Team die Schilde zu einem glühenden Energiewall zusammenschloss. Dann füllte ein Brummen die Luft, viel tiefer als die enervierenden Fluggeräusche der Drohnen.

„Alle zur Tür“, rief Anita über den gemeinsamen Funkkanal. „Wir können nicht das ganze Dach halten.“ Aus dem Augenwinkel sah Lucia mindestens zwei Truppentransporter, die hinter dem Gebäude aufstiegen, aber dann waren sie und ihre Leute bereits in Richtung der Tür losgelaufen, nur noch auf gut Glück auf die Drohnen feuernd oder wie es ihnen die Zielautomatik ihrer Helmcomputer gerade vorschlug.

Auf der anderen Seite des Schilds stand Dahl reglos vor der Wand. Lichtfäden wanden sich aus seinem Nodium in die Lücke, die Lucias Sprengsatz zwischen Tür und Wand freigelegt hatte. Dann positionierte er sich seitlich neben der Tür, drückte eine Hand gegen ihre Kante und stemmte sie schließlich mit einem einzigen Ruck aus den Angeln. Heißer Dampf zischte aus dem Exoskelett, als die Maschine ihre überbeanspruchte Hydraulik abkühlte; durch den plötzlichen Nebel und den Betonstaub hindurch spähte Lucia in den Raum hinter der Tür, das Gewehr im Anschlag. Für einen Augenblick sah sie auf einem Treppenabsatz unter ihnen eine Gruppe von Soldaten, ihre Waffen zu ihnen herauf gerichtet; doch dann griff Dahl mit beiden Händen den Betonblock der Tür und stieß ihn einfach in das Treppenhaus hinunter.

Anita hatte nie einen der Türme in der Mitte der runden Gefängnisgebäude betreten und erinnerte sich auch nicht, dass irgendjemand von den Gefangenen jemals soweit gekommen war, aber seinen Aufbau kannte sie recht genau, falls nicht in den letzten Jahren etwas daran verändert worden war. Durch die gläsernen Wände des Turms konnten die Gefangenen sein gesamtes Inneres sehen; die Scheiben ließen sich zwar von einem Augenblick auf den anderen vollständig verspiegeln, aber das Wachpersonal machte davon selten Gebrauch — wahrscheinlich gefielen sie sich dabei, beim Sehen gesehen zu werden, zumal sie dabei für die Gefangenen immer unerreichbar blieben. Genaugenommen war es falsch, hier von einem Turm zu sprechen. Die Konstruktion, in die sie gerade stiegen, begann erst gut fünf Meter über dem Boden des Innenhofes, als wäre sie vielmehr durch die Decke des Gebäudes gesenkt worden wie eine Probe, um die Situation im Gefängnis zu untersuchen; eine gläserne Röhre, auf deren Boden die Wachleute vor ihren Kontrollpaneelen saßen und von den Galerien auf den höheren Ebenen aus in die Zellen spähten.

Anita stieg über die Trümmer der Tür und was auch immer darunter verschüttet war hinweg und den Rest der Treppe hinunter. Aus dem kleinen Zwischengeschoss führte unmittelbar unterhalb des Daches ein Gang aus dem Gebäude; so konnte das Wachpersonal den Turm betreten und verlassen, ohne den Innenraum des Gefängnisses selbst zu durchqueren. Einen Zugang auf einer niedrigeren Ebene gab es nicht (was auch immer es an physischen Interaktionen mit den Gefangenen gab, wurde hier durch Maschinen ausgeführt). Anita ließ ihr Team den Gang sichern, während über ihr die anderen versuchten, die auf dem Dach gelandeten Sicherheitstruppen in Schach zu halten; als Jin schließlich im Zwischengeschoss ankam, beorderte er alle nach unten, riss schlichtweg die metallene Treppe aus ihrer Verankerung und bog sie hoch, bis sie den ganzen Schacht blockierte. Zwischen den Stufen tropfte etwas herunter, aber Anita wollte nicht erst herausfinden, ob es das Blut der Wachleute war, die Jin unter der Betontür begraben hatte, oder nur irgendetwas anderes.

Das übrige Wachpersonal ergab sich sofort, als Jin Dahl von der obersten Galerie aus direkt in den Kontrollraum unten sprang und die gesamte Konstruktion erschütterte, obwohl sein Exoskelett wohl das meiste des Aufpralls abfederte. Sie fesselten die Wachen und setzten sie vor die Fenster, während sich draußen im Hof immer mehr Gefangenen versammelten. Die meisten standen stumm da und starrten zu dem Turm hoch, die Arme überkreuzt oder die Daumen hinter den Hosenbund geklemmt, als hätten sie diesen Moment schon viel zu lange erwartet, um sich noch irgendwie emotionell daran beteiligen zu können. Jins Nodium hatte in wenigen Minuten sämtliche Schichten der Sicherheitssoftware im Turm freigelegt. „Du kennst dich hier besser aus“, sagte Jin und wies höflich zum Sessel vor den Kontrollpaneelen. Anita rief alles auf, was ihr in den Sinn kam: Kameras, die Schließanlage, die Drohnen. Das ist jetzt mein System, dachte sie mit einem Blick zu den gefesselten Wachleuten. Mal sehen, was ihr mir hier beigebracht habt.

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Die Flagge klatschte überraschend laut im Wind. Carina hatte das Geräusch erst gar nicht zuordnen können, bis sie sich wieder an ihre Ausbildung in der Militärakademie erinnerte; auf der Morgenröte hatte es natürlich keinen Wind gegeben und statt Flaggen Wandteppiche. Im Gegensatz zu den Übungsmanövern auf ihrem Planeten flatterte die Flagge hier auf einem Dach mitten in der Stadt und nicht von einem Hügel irgendwo in der Tundra, selbst wenn der Mast behelfsmäßig an einer Antenne festgezurrt worden war. Sie macht sich aber ganz gut, dachte Carina. Ihre Leute hatten sie ohne weiteres Zeremoniell gehisst, nachdem das Dach gesichert worden war: das Efeublatt das Platoons, grün auf einem weißen Oval auf der groben Baumwolle der Flagge. So sollte sie von Weitem zu sehen sein, und das war der Punkt: unmittelbar nach der Invasion die einfachste Art, zwischen den verstreuten Platoons wieder Kontakt herzustellen.

Carina holte ihr Fernglas aus einer Gürteltasche. Auch auf anderen der Blöcke wehten Flaggen weiterer Platoons, einfache Natursymbole und geometrische Formen und selten mehr als zwei Farben. Wir gewinnen, stellte sie fest, das war nicht nur ein glücklicher Umstand gewesen, dass ihr Platoon hier auf keine Gegenwehr gestoßen war. Sieben, acht; noch während sie zählte, sah Carina, wie weiter hinten eine weitere Flagge gehisst wurde. Die Truppen der Morgenröte waren überall in dieser Stadt, ihre Symbole über ihr Raster aus kreuzförmigen Blöcken verteilt, als wäre das schließlich doch ein Planspiel. Aber was machen wir mit einer Stadt, dachte Carina. Hier leben schon Tausende. Später, dachte sie dann, erst brauchen wir Kontrolle. Und wir brauchen die Städte, um den Planeten zu kontrollieren. Ob wir sie noch für etwas anderes brauchen, werden wir danach sehen.

Sie steckte das Fernglas wieder weg. Ein paar Meter weiter auf dem kleinen Flachdach hatte eine Offizierin aus ihrem Platoon begonnen, die Umgebung zu kartographieren; eine große stille Frau mit einem runden Gesicht, die gerade an irgendeiner Vorrichtung das Objektiv justierte. Ich habe noch nie wirklich mit ihr gesprochen, dachte Carina.

„Mira“, sagte sie, nachdem sie sich an den Vornamen der Offizierin erinnert hatte, „ich nehme mir das große Fernglas, ja.“

Mira nickte, ohne von ihrem Gerät aufzuschauen; sie bewegte schon die ganze Zeit lautlos die Lippen, wahrscheinlich in einem Monolog oder vielleicht einem Dialog mit der Maschine. Carina sah erst aus der Nähe, dass fast alle Flächen ihres Kampfanzugs mit komplizierten Linienmustern bedeckt waren. Ganz schön, dachte sie, ich frage sie mal danach. Vielleicht bedeutet es ja Etwas.

Sie fand in einer Ecke des Dachs Miras Rucksack und daran das große Fernglas, ein klobiges Ding mit hölzernen Griffen an den Seiten. Carina hängte es sich vorsichtshalber um, bevor sie auf die kleine Mauer am Rande des Flachdachs stieg. Das war die höchste äußere Stelle auf diesem Block, oben auf einem der unzähligen Betonklötze, die hier nach einem für Carina noch nicht verständlichen Prinzip zu riesigen Gebäuden gestapelt wurden. Sie legte einen Arm um den Antennenmast, von dem jetzt oben die Flagge flatterte. Es war bereits Abend, aber der Himmel war klar und die Sicht gut. Carina versuchte in etwa die Himmelsrichtungen zu identifizieren, während sie mit der kleinen Kurbel das Innenleben des Fernglases aufzog. Die Stabilisatoren und was sonst noch immer in dem Gerät waltete surrten friedlich, als sie den Horizont absuchte. Sanfte Hügelketten; hier und da ein kleiner Berg und Felsen, die aus Wäldchen hervorragten. Vor allem aber ein endloser Flickenteppich aus Feldern in unterschiedlichsten Grün-, Braun- und Goldtönen. Sie haben den ganzen Planeten dafür gestaltet, das Leben in diesen Städten möglich zu machen, dachte Carina. Wir werden wahrscheinlich von ihnen lernen müssen. Das war ein überraschender Gedanke; es bedeutete, dass die Menschen hier zumindest in einigen Dingen erfolgreicher gewesen waren als Carinas Leute, und dazu noch in Dingen, die für das Leben wesentlicher sein konnten als die vollkommene Militärstrategie.

Irgendwo war dann schließlich die nächste Stadt. Carina hielt kurz den Atem an, als sie die schon vertrauten Formen der Wohnblöcke erkannte. Auch hier stieg Rauch zwischen den Gebäuden auf, und sie brauchte eine Weile, um die ersten kleinen Farbflecke in der Ferne als die Flaggen der anderen Platoons zu erkennen. Sie stellte den Bildstabilisator auf eine höhere Stufe. Da war sie, die blaue Flagge. Carina kniff angestrengt die Augen zusammen, bis sie sicher war, in ihrer Mitte die gelbe Sonne des Platoons von Saimon Lehar zu erkennen. Saimon war in den letzten Jahren an Bord der Morgenröte ihr Partner gewesen; es war gut, dass sie diesen Einsatz nicht im selben Regiment machten, aber es war noch besser, jetzt diese Flagge zu sehen. Es hieß zwar nicht, dass Saimon selbst noch lebte, aber zumindest war sein Platoon erfolgreich gewesen — alles andere würde sie zu gegebener Zeit erfahren.

Es wurde dunkel, und das Federwerk des Fernglases hatte beinahe seine letzte Kraft aufgebraucht. Carina senkte das Fernglas vor die Brust und schaute eine Weile in den immer noch bläulichen Himmel, bis sie neben sich eine kleine Gestalt bemerkte; ein Kind, das vielleicht schon seit längerem neben ihr auf dem Dach gestanden hatte. So etwas darf nicht passieren, dachte sie und blickte sich schnell um. Er hätte mich einfach herunterstoßen können. Mira war weiterhin mit ihren Geräten beschäftigt; an der nächsten Ecke saß einer der Scharfschützen auf der Mauer, die ihrem Platoon zugeteilt worden waren, und auch auf der Terrasse, von der aus eine Leiter auf das Dach führte, standen einige Leute aus ihrer Kommandoeinheit und unterhielten sich. Alle mussten das Kind übersehen oder es als harmlos akzeptiert haben.

„Was machst du da?“, fragte das Kind zu Carina hinauf.

„Ich habe die nächste Stadt gesucht“, sagte Carina. „Während wir hier gelandet sind, sind weitere unserer Schiffe in euren Städten gelandet. Siehst du unsere Flagge hier? Wir stellen diese Flaggen auf, weil man sie aus der Ferne gut sehen kann. Deshalb habe ich mit dem Fernglas nach Flaggen in der nächsten Stadt geschaut.“

„Und? Hast du sie gesehen?“

„Ja“, sagte Carina.

„Wow“, sagte das Kind. „Kann ich auch schauen?“

„Das ist zu schwer für dich“, sagte Carina und klopfte gegen das große Fernglas. „Außerdem ist es jetzt schon zu dunkel.“

Das Kind zuckte mit den Achseln. „Okay“, sagte es.

Carina holte ihr eigenes, kleines Fernglas wieder aus der Gürteltasche und hielt es dem Kind hin. „Hier“, sagte sie, „zähl mal, wie viele Flaggen du in eurer Stadt findest.“

Das Kind nahm das Fernglas und zählte eine Weile stumm vor sich hin. „Und wenn ihr eure Flaggen aufgestellt habt“, sagte es schließlich, „was macht ihr dann?“

„Wir brauchen Sachen zum Leben, wie ihr auch. Wir werden dann sehen, wo wir sie auf diesem Planeten bekommen.“

„Wieso fragt ihr nicht einfach“, sagte das Kind. Es hatte das Fernglas gesenkt, aber starrte weiterhin an Carina vorbei in die Stadt.

„Macht man das so“, sagte Carina etwas spöttisch, was ihr sofort danach etwas peinlich war.

„Ja“, sagte das Kind.

„Wir wollen nichts geschenkt haben“, sagte Carina, nachdem sie länger nachgedacht hatte.

Das Kind riss die Augen auf. „Bist du eine Piratin?“, fragte es.

„Vielleicht“, sagte Carina, weil ihr weder ein gutes noch ein interessantes Gegenargument in den Sinn kam.

„Wie cool“, sagte das Kind strahlend.

„Ist es das“, sagte Carina. Sie setzte sich auf den Rand der Mauer und nahm dem Kind das Fernglas wieder aus den Händen. „Jetzt verschwinde aber, ich habe noch eine Menge zu tun, und es ist spät.“ Das Kind grinste sie an, als hätten sie jetzt ein gemeinsames Geheimnis; dann lief es die Mauer entlang zu der Leiter und war bald nicht mehr zu sehen.

Was habe ich noch zu tun, dachte Carina. Mira notierte ihre Ergebnisse in ein kleines Heft; auf der Terrasse unten hatten Leute aus ihrer Kommandoeinheit ein Zelt aufgebaut und Ausrüstung aus dem Landungsschiff hochgeschafft. Auf zwei weiteren Dächern des Gebäudekomplexes hatten sich Scharfschützen postiert und suchten die gegenüberliegenden Blöcke nach Gefahren ab. Es war eine gute Weile vergangen, seitdem ihnen jemand Drohnen entgegengeschickt hatte; ihre Trümmer lagen noch auf den Straßen und Plätzen, nachdem der Puls oder die Jagdflieger kurzen Prozess mit ihnen gemacht hatten. Carina stieg die Leiter zur Terrasse hinab. Im Ausrüstungsstapel fand sie ein Feldbett und montierte das simple Möbel in der Nähe des Zeltes. Durch die großen Glastüren der Terrasse sah sie direkt in ein Schlafzimmer, aber das fühlte sich nicht richtig an: Sie hatten die Leute aus diesem Haus wegbeordert, weil es eine strategisch wichtige Position war, und nicht, um in ihren Betten zu schlafen. Carina setzte sich auf den Rand des Feldbetts und stand sofort wieder auf. Sie war nicht müde, konnte aber nicht einmal einschätzen, wie lange sie bereits wach war. Tageszeiten, dachte sie; hier gibt es jetzt Tageszeiten. Wie viele Jahre ist es her, dass ich wirkliche Tage erlebt habe? Oder wirkliche Jahre.

Von der Terrasse aus sah sie zu, wie unten der Rest der Kompanie weitere Zelte aufbaute, modulare, aschgraue Dinger: Sieben für die Nacht, eines als Lazarett, eines für das Kommando, eines als Küche, eines für die Ausrüstung, ein weiteres für die Nahrungsmittel und was sie sonst bereits erbeutet hatten. Wieso fragt ihr nicht einfach, hatte das Kind gesagt; und tatsächlich hatten die Leute aus der Stadt ihnen recht schnell Säcke an Reis und Kanister mit Wasser und vieles mehr überlassen, ohne Carinas Leuten mehr entgegenzusetzen als ein paar folgenlose Beschwerden oder allgemeines Unverständnis. Sie haben einfach zu viel, dachte sie. Noch. Vielleicht haben sie sich deswegen nicht gewehrt. Aber das kann sich ändern, und dann müssen wir bereit sein.

Das zweite Platoon, das mit dem selben Landungsschiff gekommen war, hatte in den letzten Stunden die Umgebung erkundet; sobald die Nacht einbrach, würden sie mit Lichtsignalen Kontakt zu den anderen Teilen der Armee und zur Morgenröte aufnehmen. Danach würden noch viele Stunden vergehen, bis weitere Landungsschiffe aus dem Orbit die Stadt erreichten. Diese Nacht mussten sie hier die Stellung halten, und es war bereits ein unerhörter Luxus, dass sie gerade das Lager für die Nacht vorbereiteten, anstatt sich in irgendwelchen mühsam erkämpften Löchern zu verschanzen. Es ist falsch herum, dachte Carina plötzlich, als sie in das künstliche Tal und die Zelte in dessen Mitte hinunterblickte. Wir wägen uns in Sicherheit, dabei sind wir es, die hier belagert werden. Achtzig Leute, die sich gerade ihre Betten richten, mitten in einer Stadt, in der sie nicht willkommen sind. Der Gedanke schnürte ihr kurz den Atem ab; nein, dachte sie dann, wir spielen das immer noch nach unseren Regeln. Und die Leute in der Stadt haben diese Regeln noch nicht einmal gelernt.

Vom Treppenhaus führte eine schmale Plattform in eine Art Gemeinschaftsraum, der hier mehrere der Wohneinheiten verband. Bunte Papierschnipsel bedeckten den ganzen Boden und noch das Mobiliar, das an die Wände gerückt worden war; als Carina das Konfetti mit dem Stiefel beiseite schob, blieb ein guter Teil am Estrich haften, verklebt in einer Schicht aus verschütteten Getränken, deren Geruch noch den ganzen Raum füllte. Die Party musste vorbei gewesen sein, bevor sie auf diesem Planeten gelandet waren: Die Flaschen, die auf den Tischen und Fensterbänken standen, waren alle leer, und auf den Tabletts blieben nur noch Krümel und Striemen von Creme, wo jemand den Kuchen angeschnitten hatte. Carina fand ein halbleeres Glas und nahm einen Schluck und dann noch ein paar, obwohl der süßliche Alkohol schal und lauwarm war und vor allem nach Gestern schmeckte. Bist du verrückt, dachte sie, nachdem sie das Glas wieder zurückgestellt hatte. Wer weiß, was für Bazillen die hier haben, von denen sie gar nicht mehr krank werden. Und von denen wir dann sterben. Okay. Es wäre nicht einmal unfair, oder?

„Was ist hier passiert?“, fragte sie Palmer, der am Fenster lehnte und zwischen der Dekoration in seinem Kampfanzug besonders unpassend wirkte, so schön das Abendlicht auch den Ornamenten auf dem Brustpanzer Tiefe verleihen mochte. „Was war das hier?“

„Hm?“

„Was haben die hier gefeiert?“

„Hochzeit. Hat mir zumindest jemand gesagt.“

Carina musste lächeln. Es war gut, dass die Menschen hier das Feiern nicht ganz verlernt hatten. Dafür war jetzt natürlich nicht die Zeit, aber das hieß nicht, dass sie nicht wieder kommen würde. Wir zeigen euch noch, wie man wirklich feiert, dachte sie, und spürte zum ersten Mal eine gewisse Freude darüber, auf diesem Planeten gelandet zu sein. Es war gut, für sie, für die Morgenröte, für diese alte Galaxis.

Vorschau: Auf Dunhuang Siebzehn leuchtet wieder und wieder der Puls, während die Garde der Res Publica einen Weg durch die Stadt sucht. In den Untiefen der Strafkolonie trifft Anita Pastor auf eine Gefahr, für die die Patrouille noch nicht einmal einen Namen hat.

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Jacob Birken
Jacob Birken

Written by Jacob Birken

Writer, researcher. Interested in ideas about history & historicity, and their mediation in arts & pop culture.

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