Die Kriege der Zukunft [SE01 EP03]

Jacob Birken
21 min readApr 19, 2019

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Was bisher geschah: Die Morgenröte und ihre frisch aufgetaute Besatzung haben knapp eine Schlacht überlebt, aber noch wissen sie nichts über die feindliche Flotte. Anderswo versuchen Elvis und Charles hinter das Geheimnis des vergrabenen Raumschiffs zu kommen. Warum nicht einfach ausprobieren?

„Zu Gast”

„Kann ich dich etwas ganz anderes fragen“, sagte Charles, nachdem sie eine ganze Weile den Ring draußen im All betrachtet hatten, „wieso bist du Kinderbuchautor geworden?“

Elvis Eric Late dachte lange nach. „Weil ich mir sehr viele Dinge vorstellen kann, aber keine wirklich schlimmen?“

„Ist das eine gute Voraussetzung dafür?“

Elvis zuckte mit den Achseln. Der Ring hing vor ihnen wie ein dubioses Omen. Er war aus einzelnen, identischen Segmenten zusammengesetzt, abgesehen von einem kleinen rechteckigen Gehäuse an einer Seite, in dem wahrscheinlich der Antrieb oder ein anderes Innenleben untergebracht war.

„Hast du dir mal die Pläne für dieses … Ding … angeschaut?“, fragte Charles.

Elvis wischte sich durch ein paar Menüs des Bordcomputers, bis ein Hologramm des Rings und seiner Bestandteile vor ihnen aufschien. Charles drehte ein paar Minuten an der Ansicht und verschiedenen Details. „Ja“, sagte er dann, „auch ich bin kein Astrophysiker.“

„Das kommt gleich als erstes, wenn du die Steuerung aufrufst: Du kannst einen Kurs für den Flug eingeben und dich dann in die Röhre schlafen legen, oder so ein Ding fabrizieren. Reisen, Bauen.“

Charles massierte seine Schläfen. „Also. Deine ‚Onkel‘ fliegen durch die halbe Galaxis mit einem Raumschiff, das baut dann Reifen ins Weltall, voll mit Technik, die wir nicht verstehen. Der Reifen ist groß genug, damit dieses Raumschiff durchfliegen kann. Ich versuche mir das jetzt zusammenzureimen.“

„Ich glaube auch“, sagte Elvis und nickte, ohne Charles’ Zusammengereimtes abzuwarten.

„Gut“, sagte Charles. „Zwei Fragen. Erstens: Wenn sie also durch die Galaxis fliegen und ein System aus solchen nennen wir es ‚Portalen‘ bauen, dann müsste irgendwo anders ein Gegenstück dazu existieren? Zweitens: Warum haben es dann hier nicht gebaut, sondern ihr Raumschiff im Garten vergraben?“

„Ich glaube auch“, sagte Elvis.

„Meine zweite Frage, Bruder. Die zweite Frage.“

„Sie sind ja jetzt beide tot“, sagte Elvis sachlich. „Sollen wir es einschalten?“

„Hm.“ Charles lehnte sich tief in dem Sitz zurück. „Du bist der Vogel, der sich nichts Schlimmes vorstellen kann, nicht wahr?“

Elvis suchte das Kontrollpaneel für den Ring heraus und tippte eine große Schaltfläche an. Das ganze Paneel erwachte zum Leben: Diagramme und Kurvendarstellungen waberten in unterschiedlichen Farben, Zahlen wurden durch andere Zahlen ersetzt, ohne dass daraus ein Prinzip ersichtlich wurde. Neben den meisten Anzeigen standen abgekürzte Begriffe, die vermutlich auch ausgeschrieben nicht weitergeholfen hätten. Draußen flackerten kleine Lichter auf den Segmenten des Rings auf. Sie waren rot.

Eine Schaltfläche auf dem Kontrollfeld fragte: Verbinden? [3A].

„Ja“, sagte Elvis und tippte auf das Kästchen. Kleine Düsen am Ring spien Hitze ins All; er zuckte ein paar mal, als würde er sich der besten Position versichern. Die Lichter blieben rot, doch auf dem Kontrollpaneel schienen nun einige der Felder in hellem Grün auf, und wo sich zuvor nur feine Linien über Koordinatensysteme zogen, flossen nun breite Bahnen. Verbinden AV [3A], schlug eine neue Schaltfläche vor. „Ja“, sagte Elvis mit Nachdruck und tippte so fest gegen die Schaltfläche, wie es bei einem in die Luft projizierten Hologramm nur möglich war. Verbinden …, sagte die Schaltfläche jetzt. Die Lichter draußen blieben rot.

Dann schien im Cockpit eine ganz neue Projektion auf. Es war das Innere einer kleinen Kabine. Viel von ihr war nicht zu sehen, da sich drei Personen in die Kamera beugten. Das Klangsystem des Cockpits machte ein kurzes Störgeräusch.

„… warte, warte, warte“, rief der junge Mann, der in der Mitte vor der Kamera saß. „Alter!“, rief ein Mädchen neben ihm und rüttelte an seiner Schulter, „oh wow oh WOW.“ Ein anderer Mann hinter ihnen hielt sich die Hände vor den Mund. „Okay“, rief er dann und schwebte aus dem Bild.

„Hallo?“, sagte der Mann vor der Kamera, während die Frau manisch seine Haare verwuschelte. „Hört ihr uns? Könnt ihr uns verstehen?“

„Hallo? Ja?“, sagte Charles. Die Leute auf der anderen Seite sprachen ganz normales Hinglish, selbst wenn der Dialekt etwas ulkig klang.

„Hallo“, sagte auch Elvis. „Wir hören euch, hört ihr uns?“

„Oh wow“, sagte das Mädchen nochmals und hielt sich nun ihrerseits die Hände vor den Mund.

„Wahnsinn“, sagte ihr Kompagnon und grinste eine Weile stumm in die Kamera. „Wer seid ihr? Wo seid ihr?“

„Also“, sagte Elvis, „wir sind auf diesem Raumschiff, es hat diesen Ring gebaut?“ Die Leute auf der anderen Seite nickten aufmerksam. „Ich habe es, also, es war im Garten von meinen, also von diesen zwei Leuten, die mir den Garten vermacht haben, Harry und Abraham …“

„… Butler“, vervollständigte der Junge. Das Mädchen hielt einen Ordner in die Kamera. Auf dem Umschlag waren die stilisierten Porträts zweier freundlicher älterer Herren aufgedruckt. Darunter stand: Abraham-Butler-Stiftung. Von den Menschen zur Menschheit.

„Butler“, wiederholte Elvis. „Ja.“

Der ältere Mann war wieder aufgetaucht, mit einer Flasche Champagner und Trinkschalen, die er den beiden anderen in die Hand drückte.

„Aber wer seid ihr“, fragte der Jüngere wieder, „seid ihr der Kepler-Exodus?“

„Ja, ja“, sagte Charles und dachte auf die riesige Aufschrift auf der Seite des Kolonieschiffes, die Buchstaben größer als das höchste Gebäude auf dem Planeten darunter: SPALC C-246 „KEPLER“. „Es ist alles gut, wir sind hier schon ewig angekommen.“

„Können wir ihn sehen? Euren Planeten?“, fragte die Frau. Der Mann mit der Flasche hatte entkorkt und Blasen aus Champagner in die Schwerelosigkeit gesprüht, die sie nun alle mit den Trinkschalen auffingen. Elvis nahm die Kamera aus ihrer Halterung und versuchte sie durch ein Fenster auf die grünliche Murmel draußen zu richten. „Er ist wunderschön“, sagte die Frau andächtig und fing eine weitere Champagnerblase ein. Charles und Elvis mussten nicken.

„Cheers“, rief der Mann mit der Flasche. „Auf Abe Butler! Auf die Kepler-Mission!“

„Cheers“, riefen die beiden anderen und saugten ihren Champagner auf. Dann waren alle eine Weile still.

„Gut“, sagte der jüngere Mann schließlich, „könnt ihr eine Weile dranblieben, wir müssen kurz etwas prüfen.“ Dann schwebten sie aus der kleinen Kabine.

„Ich hätte zumindest Bier einpacken sollen“, sagte Elvis.

Immerhin ist keine Katze an Bord, dachte Charles, oder er hatte sie nur noch nicht entdeckt. „Bruder“, sagte er, „das ist das erste Abenteuer auf diesem Planeten, seit er überhaupt besiedelt wurde.“

Abenteuer, dachte Elvis. Tatsächlich erinnerte er sich nicht, dieses Wort jemals benutzt zu haben. Dann fand er eine weitere interessante Schaltfläche auf dem Paneel: Kamera 3A. Sie öffnete eine zweite Projektion; einen Ausschnitt Weltall, in den links ein riesiges graues Gebilde ragte: Eine Raumstation oder die Seite eines Schiffs, umschwirrt von kleineren Gleitern und Drohnen.

„Wo ist das“, sagte Charles leise, doch dann kamen die drei anderen wieder in die Kabine.

„In Ordnung“, sagte der jüngere Mann, nachdem er sich wieder vor die Kamera gesetzt hatte. „Wollen wir das Ding aufmachen?“

„Wollen wir?“, fragte Charles.

„Alles klar“, sagte Elvis.

„Auf geht’s“, sagte der Mann, und einen Augenblick später leuchteten auch die letzten Felder auf dem Kontrollpaneel grün, und dann waren auch die Lampen auf dem Ring selbst nicht länger rot. Der Innenraum des Rings glitzerte kurz, bis aus ihm das Fenster in einen anderen Teil der Galaxis geworden war: Da waren andere Sternbilder, aber auch die enorme graue Hülle der Station zur linken. Charles wurde leicht schwindlig; in zwei unendliche Weiten gleichzeitig zu sehen war doch etwas viel.

„Irre“, sagte Elvis.

Die Frau lächelte. „Wir haben überall solche Portale. Nur zehnmal größer, meistens.“

„Und ich kann da durchfliegen?“

Der Mann breitete die Hände aus. Wahrscheinlich war es für diese Leute so, als würde man sie fragen, ob man mit einem Aufzug nach oben oder unten fahren kann, dachte Elvis und setzte das Schiff in Bewegung. Es gab keinen Übergang oder überhaupt einen spürbaren Moment, in dem das Schiff aus einem Teil der Galaxis in einen anderen übertrat; nicht mehr zumindest, als wenn ein Mensch durch die Tür von einem Zimmer ins andere wechselte. Charles starrte nervös auf den Ring, der an den Fenstern des Schiffs vorbeizog, doch dann war die riesige Station und alles andere doch viel interessanter; und nur wenige Sekunden später befanden sie sich Lichtjahre von der Stelle, von der sie gerade erst losgeflogen waren. Elvis stoppte den Antrieb und atmete tief aus. „Also“, sagte er, „habt ihr noch von dem Champagner übrig?“ Dann wurden die Anzeigeelemente auf dem Kontrollpaneel gelb oder rot, und die drei Menschen auf der Projektion grinsten verlegen. Einen Augenblick später brach die Verbindung ab.

„Natürlich“, sagte Charles, während Elvis bereits das Schiff umschwenkte. Bevor sie noch die roten Lichter auf dem Ring sehen konnten, erschien etwas ganz anderes hinter den Fenstern; ein riesiges Schiff, dass hinter dem Portal gewartet hatte; ein gewaltiger schwarzer Keil, rhythmisch durchsetzt von unzähligen Fenstern und runden Vertiefungen, die wohl nichts anderes sein konnten als Torpedoröhren oder andere, noch unvorstellbare Waffen. „Natürlich“, sagte Charles noch einmal. Dann meldete der Bordcomputer ein eingehendes Signal. Elvis öffnete den Kanal, und statt in die Kabine drei fröhlichen Menschen aus der Abe-Butler-Stiftung blickten sie jetzt in eine Schiffsbrücke. Im Halbdunkel konnten sie darin die Sessel der Besatzung ausmachen, doch außer den wilden Locken der Frau in der Mitte war nicht viel zu erkennen. „Hier ist die Galaktische Patrouille“, sagte sie, „wir werden Sie in Kürze auf unser Schiff eskortieren. Bitte leisten Sie weder beim Anflug noch an Bord Widerstand und warten Sie auf die Anweisungen unserer Besatzung.“

„Wer in aller Welten Namen ist die Galaktische Patrouille“, sagte Elvis.

🌠

Der Körper fiel hart auf den Boden der Krankenstation. Es hatte nur einige Stunden gedauert, bis die mittlere Sektion der Morgenröte wieder in Rotation versetzt werden konnte und entsprechend wieder Schwerkraft herrschte; dann dauerte es noch ein paar Stunden mehr, bis die Unordnung wieder beseitigt war. Eran Debro hatte den Gefangenen in die Krankenstation schleppen lassen, weil Schwerelosigkeit nicht sein natürliches Habitat war und er in diesem Moment ganz bei sich sein wollte, das heißt, ein Offizier, der einen Gegner zu konfrontieren hatte. Wahrscheinlich hatte er das Genick des Mannes gebrochen; falls er noch lebte, würde die Krankenstation dies wieder in Ordnung bringen können.

Zum Prinzip dieser Expedition gehörte, dass die Morgenröte eine große Zahl von Gefangenen unterbringen konnte, aber Eran Debro war sich wirklich nicht sicher, was mit den Gefangenen der letzten Stunden anzufangen war. Alles in allem war die alte Galaxis bislang eine Enttäuschung. Die Besatzungen der gegnerischen Flotte waren zum Großteil auf ihren toten Schiffen erfroren oder erstickt; diejenigen, die sich auf irgendeine Weise hatten retten können, hatten fanatisch Widerstand geleistet, aber nichts an ihrem Kampf war mutig oder auch nur erfolgreich gewesen. Die meisten ihrer Waffen waren ebenso tot wie ihre Schiffe, und viele hatten zu irgendwelchen Klingen gegriffen. Umgehen konnten sie damit allerdings nicht. Eine gepanzerte Faust, ein Schwert, ein Schild: Die Inkompetenz dieser Leute schien ihrem Emblem zu spotten, wäre es selbst nicht schon lächerlich genug gewesen. Alles nur Dekoration, dachte Eran Debro. Die Schocktruppen der Morgenröte waren ohne einen einzigen Verlust von den gegnerischen Schiffen zurückgekehrt und gaben ihre Berichte nur widerwillig ab; dafür hätte es nicht die harten Jahre der Ausbildung in der Militärakademie gebraucht.

Natürlich hätte es anders kommen können. Die Morgenröte würde noch eine ganze Weile mit Reparaturen beschäftigt sein, und viel wichtiger war noch, sie auf einen zeitgemäßen Stand zu bringen: Ihr fehlten Jahrhunderte im Hin und Her zwischen neuen Waffen und neuen Schilden und neueren Waffen, die die neuen Schilde überwinden konnten. Carina und ihre Assistentin, oder wie das Mädchen mit der strengen Frisur nun bezeichnet werden konnte, durchsuchten gerade mit mehreren Teams die toten Schiffe nach brauchbaren Mustern für Neuentwicklungen.

Von den Menschen selbst gab es nichts zu lernen. Der Offizier, den Eran Debro verhört hatte, schien ganz von einem Stolz ohne erkennbaren Anlass zu leben; er hatte noch arrogant gewirkt, als Debro ihn am Hals in die Höhe hievte. Weshalb? Wenn diese Menschen mit solcher Überheblichkeit ins Feld zogen, wie war es dann um ihre Gegner bestellt? Debro winkte eine Medizinerin herbei, damit sie sich um den gebrochenen Körper am Boden kümmerte. Immerhin hatte diese Begegnung eine Route vorgegeben, die die Morgenröte einschlagen konnte.

🌠🌠

Die Atmosphärenanzeigen in Elvis’ Helm zählten in den grünen Bereich hoch, während sich draußen die Luftschleuse füllte. Die Computerstimme des Raumanzugs konnte ihr wir befinden uns jetzt in einer sicher… nicht einmal fertig sprechen, bevor Elvis das Visier aufklappte. Ein ganzer Trupp bewaffneter Menschen und mindestens ebenso viele und sicher ebenso gewappnete Drohnen hatten sie im Hangar erwartet. Die Menschen nahmen nun um Charles und ihn herum fast die gesamte Luftschleuse ein. Sie selbst sahen sie wohl keinen Anlass dafür, ihre Visiere zu öffnen, und so starrte Elvis überall nur in die verzerrte Spiegelung des eigenen Gesichts. Im Gegensatz zu den sackartigen Raumanzügen, die Charles und er jeweils aus irgendeinem Schrank hervorgekramt und über ihre alltägliche Kleidung gezogen hatten, waren die Anzüge der anderen uniform und enganliegend. Sie glänzten ölig schwarz und schienen bei genauerer Betrachtung in kleine Sechsecke zu zerfallen, vielleicht aus einem Gewebe, vielleicht aus einem Metall, vielleicht auch irgendetwas, das vor allem aus Projektionen oder Kraftfeldern bestand. Auf der Brust prangte jeweils ein einfaches Bild der Milchstraße als Abzeichen, wie Elvis es bereits auf dem Rumpf des Kreuzers gesehen hatte. Als sich die Tür auf der anderen Seite der Luftschleuse endlich öffnete, warteten dahinter nur weitere bewaffnete Menschen; immerhin verbargen diese nicht ihre Gesichter und waren in schlichte dunkle Uniformen gekleidet. In ihrer Mitte meinte Elvis die Frau zu erkennen, die sie zuvor von der Schiffsbrücke aus angefunkt hatte. Sie wirkte sehr jung, aber das konnte täuschen.

„Ich bin Lucia Lem von der Galaktischen Patrouille“, sagte sie. „Ihr befindet euch an Bord der Gandiva.“

„Ich bin Elvis Eric Late“, sagte Elvis.

„Charles Victor Kan.“

„Und wer seid ihr?“, fragte Lucia Lem.

„Elvis Eric Late“, sagte Elvis.

„Nein“, sagte Lucia Lem und starrte zur Decke, „warum seid ihr mit diesem Schiff hier, zu wem gehört ihr? Wer hat euch geschickt?“

„Ich gehöre zur Abe-Butler-Stiftung“, sagte Elvis sachlich. „Charles ist unser Rechtsberater vor Ort.“ Charles nickte und überlegte lieber, unter welchen Umständen der Nachlass von Elvis’ vorgeblichen Onkeln in eine Stiftung umgewandelt werden konnte, anstatt sich um seine eigene, aktuelle Situation Gedanken machen zu müssen.

„Okay“, sagte Lucia Lem. „Ihr kommt mit mir mit.“

Sie folgten ihr durch die Korridore des Kreuzers, begleitet von Lucia Lems Entourage. In einem Besprechungsraum zwängten sich Elvis und Charles in ihren klobigen Raumanzügen in große, aber dafür immer noch zu kleine Sessel, während die Frau von der Galaktischen Patrouille recht nonchalant in den Polstern ihres Sitzes versinken konnte. „Ihr seid ein Sicherheitsrisiko“, sagte sie.

Vor allem für uns selbst, dachte Charles und versuchte den Kopf in den Nacken zu legen, aber der Helm des Raumanzugs blieb im Wege.

„Wer seid ihr?“, fragte Lucia Lem erneut und breitete die Arme aus. „Woher wissen wir, dass ihr nicht eine Invasion seid?“

„Wir sind zu zweit“, sagte Charles.

„Woher wissen wir, dass ihr nicht technologisch viel weiter seid und gleich durch ein neues Portal eine ganze Flotte herzaubert?“

Guter Punkt, dachte Charles, der vor ein paar Tagen Weltraumportale noch für eine waghalsige Theorie gehalten hatte. Elvis versuchte ihr alles zu erklären, aber nichts daran klang überzeugend. Wie ein Kinderbuch eben, dachte Charles, aber auch ihm fielen keine besseren Worte ein.

Lucia Lem zog sich noch weiter in den Sessel zurück und wirkte nicht länger nonchalant, sondern tatsächlich sehr jung. „In Ordnung“, sagte sie dann, „ich kann euch nicht einfach hier festhalten. Wir bringen euch morgen zur Unabhängigen Sphäre und beraumen eine Konferenz ein, dann sehen wir weiter.“

„Unabhängige Sphäre“, wiederholte Elvis, obwohl er eigentlich immer noch wissen wollte, wer oder was die Galaktische Patrouille war.

„Ich glaube ja, sie ist ganz nett“, sagte er, nachdem sie auf eine kleine Kabine gebracht worden waren und jetzt endlich aus ihren Raumanzügen krochen.

„Ich weiß“, sagte Charles, „dass meine Familie gerade zum Abendessen auf mich wartet.“

„Bruder“, sagte Elvis, der vor dem Abflug den Computer in seinem Haus so instruiert hatte, dass seine Katzen noch lange genug versorgt wurden, bis sie sich auf ein eigenständiges Leben in der Wildnis angepasst hatten, „du hast deinen Leuten nicht gesagt, dass du vielleicht unser Sternsystem verlässt? Bruder. Das ist nicht dein Ernst.“

Charles sagte nichts.

🌠🌠🌠

Die Unabhängige Sphäre war tatsächlich zuallererst eine Sphäre, auch wenn damit noch andere, politische Dinge gemeint waren. Ein nicht ganz unangenehmer Signalton hatte Charles und Elvis auf ihrer Kabine aufgeschreckt, bevor sie in die Kantine des Kreuzers gebracht wurden. Auch gegen das Frühstück war nichts einzuwenden, obwohl es von seiner Konsistenz her auf Essen bei Schwerelosigkeit angelegt war. „Die Konferenz gleich ist öffentlich“, sagte Lucia Lem und saugte den letzten Rest ihres Fruchtpürees aus einem kleinen Schlauch, „sonst wäre sie natürlich keine Konferenz.“

„Müssen wir uns irgendwie vorbereiten?“, fragte Elvis, dem Öffentlichkeit trotz allem berufsbedingt nicht so fremd war.

„Mit wem müssen wir reden, um hier herauszukommen?“, fragte Charles.

„Dafür ist die Konferenz da“, sagte Lucia mit einem Achselzucken.

Elvis sah durch die großen Fenster der Kantine zu, wie draußen die Planetenoberfläche vorbeizog: Weiße Flecken vor grünen Flecken auf einem hellen blauen Hintergrund.

„Von was ist die Unabhängige Sphäre unabhängig?“, fragte er schließlich.

„Von allem anderen? Dafür ist sie da, damit die Menschen von den neuen Planeten und aus der Res Publica sich auf neutralem Boden treffen können.“ Lucia lehnte sich versonnen in die Schwerelosigkeit zurück. „Ich liebe die Unabhängige Sphäre. Es ist fantastisch, ihr werdet sehen.“

„Gib es die Res Publica noch?“, fragte Charles. Das Kolonieschiff hatte vor Jahrhunderten eine in sich zusammenfallende Zivilisation verlassen; wohin sie nun auch zurückgekehrt waren, es musste auf die eine oder andere Weise die Zukunft dieser Zivilisation sein. „Gehört ihr zur Res Publica?“

„Wir gehören zur Galaktischen Patrouille“, sagte Lucia streng. „Kaffee?“

„Oh unbedingt“, sagte Elvis, der zuvor stundenlang erfolglos versucht hatte, sein Gehirnimplantat auf eine möglichst einlullende Frequenz einzustellen. Lucia grinste und stieß sich in Richtung der Essensausgabe von ihrem Sitz ab.

Wie Lucia wirkten die meisten Menschen in der Kantine sehr jung. Elvis hatte immer noch nicht herausgefunden, was die Galaktische Patrouille war, aber zumindest in einer Hinsicht mochte die Bezeichnung stimmen: Hier schien sich tatsächlich der Querschnitt einer Galaxis zu versammeln, während Elvis selbst von einem spärlich besiedelten Planeten kam, der wohl neuerdings als ein äußeres Randgebiet menschlicher Zivilisation eingeordnet werden durfte. Er erinnerte sich plötzlich, wie ihm in der Kindheit noch die dunklere Haut seines ‚Onkels‘ Abraham aufgefallen war, auf einem Planeten, auf dem die meisten durchschnittlich irgendwie braun waren oder, falls sie zu viel Zeit draußen verbrachten und zu Hause ihre UV-Bestrahlung nicht nachholten, eher gräulich; aber natürlich hatte dies nichts mit Abraham Butler selbst zu tun, sondern damit, dass sich die Menschen vom Kolonieschiff nach ein paar Generationen auf dem Planeten eben so weit homogenisiert hatten, um sich fälschlicherweise für das Maß aller Menschen zu halten. Nun hatte Lucia noch dunklere Haut als Abraham Butler, und war damit beileibe nicht die einzige unter der Besatzung.

„Der Kaffee auf der Unabhängigen Sphäre ist aber besser“, sagte Lucia, nachdem sie die unförmigen Schnabeltassen für Kaffeegenuss unter Schwerelosigkeit herumgereicht und gefüllt hatte, „nichts gegen unsere Kantine natürlich.“

Die Gandiva änderte leicht ihren Kurs. Hinter dem Fenster war kurz zu sehen, was nur auf den ersten Blick ein kleiner Mond war: Die Unabhängige Sphäre, eine gewaltige Raumstation im Orbit des Planeten, horizontal in drei Segmente geteilt; das mittlere in einer stetigen Drehbewegung, wohl um darin ein Leben mit Schwerkraft zu ermöglichen.

„Jungs, ich werde jetzt eure Arme anfassen“, warnte Lucia und griff tatsächlich erst Elvis und dann Charles an den Oberarm. Sie drückte ein wenig und nickte dann ernst. „Okay. Ich sage das nur einmal, aber ich bin dafür ausgebildet, Clowns wie euch mit einem Handgriff ins Koma zu schicken. Ihr habt das jetzt gehört, und wir können die Sphäre besuchen, ohne dass jemand die ganze Zeit ein Gewehr auf euch richten muss?“

🌠🌠🌠🌠

Die Gandiva dockte am oberen Segment der Station an; Charles und Elvis mussten nicht einmal ihre Raumanzüge anziehen, als sie den Kreuzer verließen. Eine unbestimmte Zeit lang folgten sie endlos erscheinenden, auf verunsichernde Weise nur sehr leicht gebogenen Korridoren, wurden von unaufgeregten Zollbeamten oder anderen Kontrollposten durchgewunken und in kapselförmigen, gläsernen Kabinen von einem Stockwerk ins andere geschossen, bis sie irgendwann beim mittleren Segment angekommen waren. Hier mussten sie auf eine weitere Kabine warten, in der sie dann auf abgewetzten Sesseln auf die Geschwindigkeit der rotierenden Mittelsektion gebracht wurden und, nun wieder unter Einfluss der Schwerkraft, durch eine andere Tür das Herz der Unabhängigen Sphäre tatsächlich betraten.

Elvis blieb fürs Erste stehen und rückte nur kurz beiseite, um andere Menschen aus der Kapsel zu lassen. Vor ihnen erstreckte sich eine große Stadt; sie erstreckte sich aber auch neben ihnen und über ihnen, denn durch einen leichten Dunst hindurch sahen sie, wie sich die Stadt an dem, was unter anderen Umständen Wände oder eine Decke gewesen wären, einfach weiter fortsetzte und nach einer vollen Kreisbewegung wieder bei ihnen ankam. Die durchsichtigen Röhren einer Hochbahn überzogen die Stadt mit einem symmetrischen Geflecht, aber zwischen den unzähligen Menschen auf den Straßen und den vielen Stegen, die auf unterschiedlichsten Ebenen von Haus zu Haus reichten, schien die Bahn noch das Langsamste hier zu sein. Es war sehr hell, auch wenn Elvis nicht klar wurde, ob das Licht nun künstlich war oder durch die Schächte in der Außenwand der Sphäre strömte, denn schließlich war hier der Himmel der Boden der Menschen auf der anderen Seite der Stadt und umgekehrt. Auch war es sehr laut, aber diesbezüglich war Elvis sehr klar, dass der Lärm einfach von überall her kam.

„Wir müssen jetzt aber trotzdem weiter“, sagte Lucia gutgelaunt. Wenn man freie Sicht hatte, konnten die Röhren der Bahn gewissermaßen zu ihrem eigenen Netzplan werden, und Lucia rief sich die entsprechende Projektion mit den Namen der Stationen vors Auge. Sie war nicht zum ersten Mal für die Patrouille hier, aber auch zentrale Einrichtungen wie die Konferenzhalle wurden hin und wieder in eine neue Nachbarschaft verlegt, wenn es logistisch opportun war.

Die vielen Menschen, denen sie im oberen Segment der Sphäre begegnet waren, schienen vor allem mit Transit beschäftigt gewesen zu sein, ob es nun ihr eigener war oder derjenige anderer Menschen. Hier war es nicht so; hier war Leben, und Elvis hätte sich im Idealfall an der nächsten Ecke nach dem lokal relevanten Schnaps erkundigt und dann für die nächsten Stunden oder Tage auf eine Bank oder Außentreppe gesetzt. „Da geht’s lang“, sagte Lucia.

Das große Display über dem Eingang der Konferenzhalle zeigte nur zwei Uhrzeiten an: Die aktuelle, und eine andere, zu der — sehr bald — etwas passieren würde. Das reichte offenbar aus, um Menschen in Scharen in das Gebäude zu locken. Lucia hatte die Sitznummern abgerufen und dirigierte die beiden anderen durch die Menge. „Kommen die alle wegen uns?“, flüsterte Elvis.

„Die kommen alle, weil es eine Konferenz gibt. Das ist die Unabhängige Sphäre.“

„Gibt es viele Konferenzen?“

„Alle paar Stunden, vielleicht? Es möchte ja immer jemand irgendwas Wichtiges mitteilen“, sagte Lucia. „Aber du brauchst ja nicht zu jeder zu gehen. Manchmal kennst du jemanden, oder dir ist langweilig, nicht wahr.“ Sie nickte unterwegs Menschen zu; vielen anderen schien sie bereits wegen ihrer Uniform aufzufallen.

Die Sitze waren in der ersten Reihe. „Weil ich diese Konferenz einberufen habe, werde ich als Erste ein wenig reden“, sagte Lucia. „Und dann sehen wir mal, was passiert.“

Elvis setzte sich zwischen Lucia und Charles, der mit leerem Gesicht die komplizierte Deckenbeleuchtung fixierte. Der Saal war in etwa oval und fasste sicher um die tausend Menschen; einige hundert hatten sich bereits eingefunden. Im Gegensatz zur Besatzung der Gandiva waren hier auch alte Menschen, und die wenigsten trugen irgendeine Art von Uniform. Manche deuteten aus der Ferne auf Lucia oder vielleicht auch Charles und Elvis; nicht so anders als ein Publikum beim Rennen, dachte Elvis. Das war nicht ganz unangenehm, aber er hatte nicht grundlos diese Karriere irgendwann abgebrochen.

„Warte oh wow ich kann nicht mehr das ist Anita Pastor“, sagte Lucia plötzlich und krallte sich an Elvis’ Ärmel fest. Elvis sah sofort, um wen es ging. Zwischen den Menschen, die in den Saal strömten, war eine Frau in der Uniform der Galaktischen Patrouille. Elvis verstand ihre Dimensionen nicht. Sie war nicht riesig, wirkte aber vielleicht, als wäre sie längere Zeit gewachsen als andere Menschen; auch schien sie etwas schärfer sichtbar zu sein als die Leute um sie herum.

„Alles mit der Ruhe, Lucia Lem“, sagte Lucia Lem.

„Ist sie wichtig?“, fragte Elvis, aber Lucia hatte sich auf ihre Atemübungen konzentriert. Anita Pastor hatte derweil ihre Sitzreihe angesteuert.

„Sie setzt sich zu uns, oder?“, flüsterte Lucia. „Sie setzt sich zu uns ich kann nicht mehr.“

Anita Pastor nahm neben Lucia Platz. „Lucia Lem?“, fragte sie.

„Jadasbinich“, sagte Lucia. Neben der anderen Frau wirkte sie wirklich wie ein Kind. Anita Pastor nickte Elvis kurz zu und rief dann das Paneel vor ihrem Sitz auf. Sie war sehr schön, fand Elvis, aber auf die Weise des schönen Porträts eines Menschen und nicht eines Menschen selbst. Er war sich nicht ganz sicher, ob er selbst nicht ein wenig verschwommen war, nachdem sich Anita Pastor in die Nähe gesetzt hatte. Elvis drehte sich zu Charles um, fragte dann aber lieber doch nicht.

„Ich möchte nachher auch etwas sagen“, sagte Anita, „es geht aber nicht um deine Gäste. Ist das in Ordnung? Wir stehen sowieso nur als Patrouille hier in der Tagesordnung.“

„Jaunbedingtichwusstenicht“, sagte Lucia.

„Aleph scheint übrigens auch hier zu sein, aber sie sind noch irgendwo beschäftigt.“

„Aleph wirklich“, sagte Lucia und spreizte schmerzhaft ihre Finger.

Der Saal hatte sich schnell gefüllt. Aus einer anderen Ecke des Saals winkten die Drei von der Abe-Butler-Stiftung zu ihnen herüber. Elvis winkte freundlich zurück, auch wenn er damit das Charles’ zorniges Starren nur bedingt abmildern konnte.

„Wer sind diese Leute?“, fragte er Lucia und nickte in Richtung einer auffälligen Gruppe in der ersten Reihe gegenüber; drei Männer und eine Frau in grauen Tights und sackartigen Pullovern, die vielleicht auch eine Art Kleid waren. Die Frau hatte sich eine Blume ins Haar gesteckt und die nackten Füße auf das Geländer vor sich gelegt.

„Selenen“, flüsterte Lucia.

„Selenen?“

„Na, die Leute von diesem Planeten. Selene. Er heißt Selene.“

Elvis dachte lange nach. „Warum auch nicht“, sagte er dann.

„Butler hat sie entdeckt, bevor er bei Euch … gelandet ist.“

Elvis war sich nicht sicher, ob er bevorzugt hätte, auch ‚entdeckt‘ worden zu sein. „Dann ist das hier Portal Zwei?“

„Ja“, flüsterte Lucia.

„Wann kann ich Portal Eins sehen?“

„Psst“, machte Lucia. Dann übertönte ein synthetisches Glockengeräusch das Raunen im Saal, und eine freundliche Computerstimme trug die Uhrzeit, das Datum und die Nummer dieser Konferenz vor, bevor sie einen Beitrag der Galaktischen Patrouille ankündigte. Lucia aktivierte die Kamera vor ihrem Sitz. Ihr Gesicht erschien unter freundlichem Applaus auf großen Projektionen vor den Wänden. „Ich bin Lucia Lem von der Galaktischen Patrouille und möchte berichten, dass am gestrigen Tage das dritte Portal der Butler-Clausen-Expedition aktiviert wurde. Allem Anschein nach hat die Expedition das Planetensystem erreicht, dass zuvor Ziel der historischen Kepler-Mission gewesen ist und unseren Informationen nach erfolgreich besiedelt wurde.“

Lucias letzte Silbe wurde von Applaus und einzelnen Rufen von „Kepler!“ und „Butler!“ übertönt. Sie wartete ab, bis wieder Stille herrschte. „Es wird wenige von uns überraschen“, sagte sie dann, „aber leider sind Abraham Butler und Harold Clausen unlängst verstorben. Sie haben der Menschheit unschätzbare Dienste geleistet, über Jahrhunderte und Lichtjahre hinweg. Sie sollen in Frieden Ruhen.“ Lucia hob den Blick zur Decke, hinter der irgendwo die unendlichen Weiten des Universums lagen, und ließ die Menschen im Saal eine gute Weile betroffen raunen. Wie sonderbar, dachte Elvis und versuchte sich an seine Onkel zu erinnern, aber fand nicht mehr als zwei sanfte Greise, die ihn hinter ihrem Haus herumrennen und zwischendurch wahrscheinlich unverhältnismäßig dumme Fragen stellen ließen.

„Aber“, sagte Lucia schließlich, „sie haben ihr Schiff und die Technik für das Portal den Siedlern der Kepler-Mission überlassen. Mit mir hier sind heute Elvis Eric Late und Charles Victor Kan, die das dritte Portal auf ihrer Seite installiert und aktiviert haben.“

Die Drei von der Abe-Butler-Stiftung sprangen demonstrativ applaudierend auf, und nicht wenige andere im Saal taten es ihnen gleich. „Kannst du die Kamera auf dich schalten“, flüsterte Lucia Elvis zu. Er fand den Knopf und sah sein Gesicht riesig vor den Wänden aufleuchten.

„Hallo“, sagte Elvis und hörte jetzt auch seine Stimme verstärkt durch den Saal schallen. „Ich bin Elvis Eric Late und es ist wirklich schön, hier zu sein. Wirklich schön.“ Lauter Jubel. Wie schade, dachte Elvis, ich hätte mich wohl bei meinen Onkeln bedanken müssen. Wahrscheinlich hätten sich alle bei ihnen bedanken müssen? Lucia stupste ihn an. Elvis schaute zu Charles, der immerhin nicht länger die Deckenbeleuchtung, sondern die Menschen im Saal fixierte. Charles blieb mit verschränkten Armen sitzen, und so reichte Elvis herüber und drückte auf die Schaltfläche vor seinem Sitz. „Ja“, sagte Charles, nachdem nun sein Gesicht auf den Projektionen erschienen war. „Ich bin Charles Victor Kan.“

Lucia schaltete die Kamera wieder auf ihren Platz. „Wir wissen alle“, sagte sie, „dass in unserer Galaxis gerade große Unsicherheit herrscht. Bei aller Freude über die Öffnung des dritten Portals können wir uns auch der Absichten der Menschen auf der anderen Seite noch nicht sicher sein. Unsere Gäste von der Kepler-Mission verbleiben aktuell bei der Patrouille, bis wir eine einvernehmliche Strategie mit — deswegen sind wir hier — auch anderen Angehörigen unserer transastralen Gemeinschaft entwickelt haben.“

Das macht sie dann doch ganz gut, dachte Charles resigniert und starrte lieber wieder zu der riesigen Wolke aus Messingstangen und gläsernen Rechtecken, die von oben den Raum erleuchtete.

Lucia ließ die Menschen wieder raunen. „Wir sind offen für Vorschläge während dieser Konferenz, oder im Anschluss“, sagte sie schließlich. Die Menschen im Saal verfielen in Diskussionen, aber Elvis konnte die Stimmung nicht lesen; wahrscheinlich bestand sie gerade nur darin, mit den Menschen auf den Sitzen nebenan diskutieren zu wollen. Ein Tierheim, überlegte Elvis, ob hier irgendwo ein Tierheim ist, aber leider konnte sein Implantat nicht auf das Netzwerk der Unabhängigen Sphäre zugreifen, wie ihm auch das Netz der Gandiva fremd geblieben war. Andererseits würde er sicher niemanden dorthin mitnehmen können, wo auch immer ihn die Galaktische Patrouille als Nächstes einsperrte. Er drehte sich gerade zu Lucia um, als sich Anita Pastor von ihrem Sitz erhob und ihr sonderbar präzises Gesicht auf den Projektionen erschien.

„Ich bin Anita Pastor von der Galaktischen Patrouille“, sagte sie, aber dieser Vorstellung hatte es wohl nicht bedurft, denn bereits so war im gesamten Saal augenblicklich Stille eingetreten. „Und ich möchte einige Worte zu dem sagen, das meine junge Kollegin gerade als eine große Unsicherheit bezeichnet hat. Vor mehreren Jahren bin ich zu einer Mission in die sogenannten Befreiten Sektoren aufgebrochen. Meine Mission ist gescheitert, aufgrund meiner eigenen Fehler. Ich habe einige Jahre auf Gliese Atlantica verbracht und dann auf Gliese Noctis, den das Regime zur Internierung verwendet. Ich bin geflohen und habe auf Gliese Pacifica ein Schiff gestohlen, um das System verlassen zu können. Ich will euch nichts über meine Erfahrungen auf diesen Planeten erzählen. Was ihr an Gräueln aus dieser Welt gehört haben: Es kann stimmen, aber ihr werdet nicht wohl nicht viel gehört haben, denn diese Dinge sind so gemeint, dass davon geschwiegen wird. Es ist meine Ansicht, dass es sich hier nicht um einen Bürgerkrieg der Res Publica handelt, sondern einen Krieg der sogenannten Befreiten Sektoren gegen die transastrale Gemeinschaft, und meiner Ansicht nach wird die Galaktische Patrouille in diesem Krieg nicht untätig bleiben. Ich bin heute hier, um mit anderen aus der Patrouille zu beratschlagen, aber es bleibt nicht viel Zeit.“

Dann setzte sie sich wieder, und der ganze Saal schwieg und schwieg. Erst, als ein kurzes Räuspern über die Anlage hörbar war, merkte Elvis, dass mittlerweile ein anderes Gesicht auf den Projektionen erschienen war. Das war die junge Frau aus der Gruppe der Selenen, die mittlerweile ihre Füße vom Geländer genommen hatte und aufmerksam in die Kamera blickte. „Zu dieser anderen Sache“, sagte sie, „der Planet Selene möchte gerne den beiden Gästen vom Kepler-Exodus politisches Asyl anbieten.“

„Auch das noch“, sagte Lucia Lem.

Vorschau: Eine gepanzerte Faust, ein Schwert, ein Schild. „… die Res Publica, sie brennt an den Rändern“, sagt der Mann von der Butler-Stiftung. Anita Pastor begibt sich wieder zurück in Gefahr, während der Kinderbuchautor vor einer Statue steht, die ihm zugleich gut bekannt und ganz unbekannt ist.

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Jacob Birken

Written by Jacob Birken

Writer, researcher. Interested in ideas about history & historicity, and their mediation in arts & pop culture.

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